Capellan: Wieder kein Erfolg für Anthony Zinni. Eigentlich
wollte der US-Sondergesandte für den Nahen Osten gestern eine Waffenruhe
zwischen Israelis und Palästinensern aushandeln. Doch davon ist man
offenbar noch weit entfernt. Ich begrüße nun eine kritische Stimme des
Landes Israel, Uri Avnery, Träger des alternativen Friedensnobelpreises,
Friedensaktivist der Bewegung Gusch-Schalom, was übersetzt etwas soviel
heißt wie Friedensblock. Guten Morgen Herr Avnery.
Avnery: Guten Morgen!
Capellan: Herr Avnery, in einem Interview mit dem ''Stern''
sagte der israelische Dramatiker Joshua Sobol heute: ''Niemand findet
den entsetzlichen Reigen von Leichenprozessionen erhebend, beide Seiten
sind erschöpft und beide Seiten werden nun erkennen, dass keine Seite
diesen Kampf gewinnen wird''. Teilen Sie diesen Optimismus? Werden
Israelis und Palästinenser bald erfolgreiche Verhandlungen führen
können?
Avnery: Ich glaube, die Aussage selbst ist richtig und stimmt,
aber wie lange das dauert, das kann keiner voraussagen. Das kann noch
ziemlich lange dauern. Es stimmt, dass beide Seiten sehen, dass sie mit
Gewalt keine Lösung erreichen, aber beide Seiten sind so wütend
aufeinander, so von Angst und Wut erfüllt, und keine Seite glaubt, dass
die andere Seite wirklich eine Lösung will. Man braucht wirklich einen
Staatsmann, um die Völker zu überzeugen, dass der Frieden möglich ist.
Capellan: Wäre dieser Staatmann möglicherweise der amerikanische
Präsident George Bush?
Avnery: Es sieht so aus, als ob das nur aus Amerika kommen kann.
Es ist sehr schwer, Herrn Bush als Staatsmann zu bezeichnen - und auch
gestern hat er wieder allen möglichen Unsinn verzapft -, aber die
amerikanischen Interessen weisen darauf hin, dass man jedenfalls eine
Ruhe im Nahen Osten braucht, denn der Vizepräsident Cheney, der jetzt im
ganzen Nahen Osten herumgekommen ist, hat von allen arabischen Führern
gehört, dass gar nicht daran zu denken ist, dass die arabische Welt
einen Angriff auf den Irak unterstützen könnte, während hier in
Palästina das passiert, was hier jeden Tag passiert.
Capellan: Sie haben es gerade gesagt: George Bush hat gestern
eine Menge Unsinn verzapft - so Ihre Ansicht. Er hat gesagt, dass er
frustriert sei über die neuerliche und anhaltende Gewalt in Israel.
Interpretiere ich Sie richtig, dass Sie sagen, er könnte mehr tun, um
dieser Gewalt Einhalt zu bieten?
Avnery: Er hat vollkommen einseitig eine einzige Seite
beschuldigt und die ganze Schuld Arafat zugeschoben, und das ist
natürlich Unsinn. Mit so einer einseitigen Einstellung kann man doch
keinen Frieden vermitteln. Sogar Cheney, der hierher gekommen ist und
alle Führer im Nahen Osten besucht hat, aber nicht Arafat hat gemerkt,
dass das nicht geht und darum versprochen, nächste Woche besonders
hierher zu kommen, um sich mit Arafat zu treffen. Das alles sieht nicht
so aus, als wäre es wirklich eine gezielte, klare, amerikanische
Politik. Und die braucht man, wenn man eine Lösung will.
Capellan: Also, er müsste Sharon weiter unter Druck setzten?
Avnery: Er muss es einfach tun, wenn er wirklich die arabische
Welt für Amerika gewinnen will. Man muss sich vorstellen: Die Millionen
und Abermillionen von Arabern im ganzen Nahen Osten sehen jede Stunde -
nicht jeden Tag - die Nachrichten der Fernsehstation Al-Dschasira, die
über das berichtet, was hier in den besetzten Gebieten passiert. Die
Leute haben in Europa und auch in Israel selbst keine Vorstellung, was
da wirklich vor sich geht, auch wenn es nur ein paar Kilometer von uns
entfernt ist. Aber die Araber sehen es, und die sind unglaublich wütend
auf Israel und auf Amerika. Besonders auf Amerika. Und wenn da nicht
etwas passiert, was diese Wut beschwichtigt, kann ich mir nicht
vorstellen, dass es wirklich zu einer Lösung kommen kann.
Capellan: Sharon begründet ja das harte Vorgehen der
israelischen Armee gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten
damit, dass man sich selbst verteidigen müsse gegen Terroranschläge von
Seiten der Palästinenser. Sehen Sie das anders?
Avnery: Gestern war eine Anzahl von Fachleuten der
Sicherheitsbehörden in unserem Fernsehen in Israel und haben gesagt,
dass die Aktionen der letzten paar Wochen die Sicherheiten nicht nur
nicht gefördert haben, sondern - ganz im Gegenteil - die
Sicherheitssituation noch stark verschlechtert haben. Denn wenn man
Aktionen gegen die Zivilbevölkerung verübt, wenn man in Hunderte von
Häusern mit Tanks einbricht, wenn man einen Tank in das Wohnzimmer von
Leuten stellt, wenn man Dutzende von Leuten erschießt, dann kann man
sagen, dass das Selbstverteidigung ist, aber was dabei heraus kommt ist:
mehr Verzweiflung, mehr Wut. Und mehr Verzweiflung und mehr Wut heißt:
mehr Selbstmörder.
Capellan: Also Sharon hat Ihrer Ansicht nach neue Gewalt
geschürt?
Avnery: Mit Gewalt erreicht man in solch einer Situation nichts.
Man braucht eine klare Aussicht auf eine Lösung. Ich glaube, diese
ganzen Manöver des amerikanischen Generals Zinny hier, der alle
möglichen Dokumente des letzten Jahres aufgreift und sagt: ''Man muss
erst das Dokument erfüllen, dann das Dokument, dann das...'' ich glaube,
das führt alles zu nichts. Man muss sagen: ''Okay, die Lösung ist klar.
Wir brauchen einen Staat Palästina neben dem Staat Israel. Wir brauchen
Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt, wir brauchen einen Rückzug auf die
alten Grenzen''. Das ist eine klare Sprache und die braucht man, wenn
man wirklich langsam die Situation befriedigen will. Und das tun die
Amerikaner vorläufig nicht.
Capellan: Wird das mittlerweile in der israelischen Bevölkerung
auch so gesehen?
Avnery: Die Bevölkerung ist ziemlich verzweifelt und
hoffnungslos. In Israel in den letzten zwei Jahren hat dieser
Ministerpräsident und auch der vorherige, Ehud Barak, eine Stimmung
erzeugt, die sagt: ''Reden mit den Palästinensern ist unmöglich. Die
Araber wollen keinen Frieden, wir haben keinen Partner für den
Frieden''. Und diese Propaganda - ich würde beinahe sagen diese
Gehirnwäsche - hat zur Folge, dass Leute wirklich an den Frieden nicht
mehr glauben. Die Aufgabe der Friedensbewegung in Israel ist, überhaupt
die Leute zu überzeugen, dass ein Friede möglich ist, dass die andere
Seite auch den Frieden braucht und auch will und dass eine Lösung da
ist. Man muss nur bereit sein, den Preis dieser Lösung zu bezahlen.
Capellan: Die Verhandlungen werden heute noch weitergehen. Aus
Israel war das der Friedensaktivist, Uri Avnery. Ich danke Ihnen!