Beide Seiten liegen falsch
von Amira Hass
In einem Radiointerview am Sonntag, wurde der IDF
Pressesprecher Ron Kitrey über die drei Kinder von Jenin befragt, die
von israelischen Soldaten aus Panzern heraus getötet wurden (unter den
Opfern dieses tragischen Vorfalls war auch ein 60-jähriger
Zivilist). Der Interviewer wählte seine Worte sorgfältig. So
sorgfältig, dass er Kitrey nach den „Jugendlichen“ befragte, die getötet
wurden. Diese „Jugendlichen“ waren Soujoud Turkey, 6 Jahre alt;
der ebenfalls 6-jährige Ahmed Ghazawi und sein 12-jähriger Bruder Jamil.
Die beiden Brüder fuhren auf ihren Rädern durch
ihre Nachbarschaft. Sie, wie viele andere auch, glaubten, dass die
Ausgangssperre für einige Stunden aufgehoben worden war. Soujoud
war mit ihrem Vater unterwegs um Brot zu kaufen.
Der Interviewer stammelte, als er die Frage nach den
„Jugendlichen“ stellte, vielleicht weil es in diesen Tagen der
Selbstmordanschläge nicht unbedingt als politisch korrekt angesehen
wird, über die palästinensischen Verluste zu diskutieren. Aus ihnen
„Jugendliche“ zu machen, war jedoch kein Versprecher. Es bezeichnet ein
Phänomen.
Noch bevor die Selbstmordanschäge zur täglichen Routine
wurden, verschwanden die zivilen palästinensischen Opfer der IDF einfach
aus dem Blickpunkt der israelischen Gesellschaft. Und sie verschwinden
weiterhin. Sie werden im politischen und militärischen Kontext nicht als
relevant angesehen.
Es geht nicht darum an Moralvorstellungen und Mitleid zu
appellieren, und auch nicht darum das Leid der Israelis zu
vergessen. Es geht um die Fähigkeit zu analysieren warum der Konflikt zu
einem unkontrollierbaren blutigen Kreislauf geworden ist. Wir
müssen analysieren, um ihn unter Kontrolle zu bringen.
Israel‘s analytische Fähigkeit wurde
beeinträchtigt, weil das kollektive politische Bewusstsein nicht gewillt
ist das, in dieser Intifada und den vorausgegangenen Olsojahren,
anwachsende palästinensische Leid zu berücksichtigen. Jeder Versuch oder
Vorschlag, die Details, Merkmale und Folgen der fortwährenden
israelischen Herrschaft über ein anderes Volk, in ihrer Gesamtheit zu
begreifen, wurde und wird abgewiesen.
Wenn man versucht über diese, als Besatzung
bekannte „Gesamtheit“ zu reden, reagieren die Medien – als
gesellschaftliches Barometer – mit Verstimmung. Dieses „Gesamte“
ist zu abstrakt, zu transparent, zu akademisch. Sprechen wir
stattdessen über „persönliche Geschichten“. Aber spricht dann jemand
über persönliche Geschichten, werden sie weggewischt als eine weitere
Tränendrüsen-Story eines leidenden Palästinensers.
Vor der Intifada, wurden solche Geschichten
(Tod an Straßensperren, israelische Trinkwasserquoten, Verbot des
Einrichtens von Schulen in Zone C, verstärkter Ausbau von Siedlungen,
Einschränkung der Bewegungsfreiheit) lediglich als Ausnahmefälle
im „Friedensprozess“ wahrgenommen, obwohl sie die palästinensische
Bevölkerung tagtäglich verletzen. Heute werden Berichte über
„palästinensisches Leiden“ als nationaler Verrat angesehen. Israelis
bewerten die Selbstmordanschläge als mörderische Entwicklung die den
Palästinensern eigen ist, ihrer Religion, ihrer Mentalität. In anderen
Worten, man verwendet biologisch-religiöse Erklärungen, anstatt
gesellschaftliche oder geschichtliche.
Das ist ein gravierender
Fehler. Wenn jemand ein Ende der Terroranschläge, insbesondere der
Selbstmordanschläge herbeiführen will, muss er die Frage stellen, warum
die Mehrheit der Palästinenser diese Anschläge befürwortet. Ohne diese
Unterstützung würden es die pal. Behörden nicht wagen,
Selbstmordattentäter auszuschicken, und dadurch, eine zu erwartende,
israelische Antwort „einzuladen“. Die Palästinenser befürworten
selbst die grausamsten Anschläge, weil sie davon überzeugt sind, dass
sie selbst, ihre eigene Existenz und Zukunft als Nation, das eigentliche
Ziel des israelischen Regimes sind, und zwar sowohl durch die Taktik der
Täuschungsmanöver im Osloprozess, als auch jetzt, durch die Taktik der
militärischen Eskalation und Belagerung.
Nun, 22 Monate später, findet man hier und da Kommentare
von Journalisten und Politiker, die im Nachhinein zugeben, dass auch
unter Ehud Barak und Shaul Mofaz unangemessen von tödlichen Methoden
Gebrauch gemacht wurde. Gäbe es tatsächlich das Verlangen die Kontrolle
über diesen Gewaltstrudel zu erlangen, müsste man eingestehen, dass die
harte militärische Antwort ein Fehler war.
Die übertriebene Gewaltanwendung findet sich
unauslöschlich im Gedächtnis der Palästinenser. Wie sollten sie ihre
Kinder vergessen, die getötet wurden, nur weil sie mit Steinen warfen,
auf bewaffnete Jeeps, Panzer und befestigte Wachposten? Warum
sollten sie die Zivilisten vergessen, die von IDF Soldaten getötet
wurden, nicht während eines Feuergefechts, sondern an Straßensperren und
in ihren Häusern?
Die Palästinenser sind, von der gleichen irregeleiteten
Vorstellung getrieben, die Barak, Mofaz und die Kommandeure in die
Intifada geführt hat, und bei der die gesamte israelische Gesellschaft
hinter ihnen stand: „Mehr Gewalt, und mehr Töten und Leid, so
schnell wie möglich, das wird ihnen eine Lehre sein, und ihre Pläne
zunichte machen.“
Die Selbstmordanschläge in Israel kennzeichnen eine
mehrheitliche Geistesschwäche auf Seiten der palästinensischen
Gesellschaft.
Es gelingt ihnen nicht zu begreifen, dass genauso wie sie selbst, nach
tödlichen Gewaltakten durch IDF Soldaten, durch unerträgliche
Lebensumstände und unter verschärfter Belagerung, immer härter und
unnachgiebiger wurden, nun die israelische Antwort auf den mörderischen
Terror, mitten in ihren Städten, ebenfalls immer härter und
unnachgiebiger wird.
Beide Seiten sind davon überzeugt, dass nur noch mehr Tod und
verheerende Gewalt die Gegenseite im Zaum halten wird. Beide Seiten
liegen falsch.
haArez, 27-06-02
haGalil onLine 28-06-2002 |