In einem zersplitterten Land
Der Frieden ist für Israel eine Existenzfrage. Aber wer bestimmt
seinen Preis?
Moshe Zuckermann
Vieles ist schon über die gegenwärtige Zuspitzung des
Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern gesagt und geschrieben
worden. Von versäumten historischen Chancen war die Rede, vom
Zusammenbruch des Friedensprozesses, von einer neuen Phase der Gewalt,
deren Ende unabsehbar sei, dann wieder von einer politischen Sackgasse
und einer sich zunehmend verbreitenden Hoffnungslosigkeit. Alles stimmt,
und doch ist alles nichts als eine neue Folge von Variationen über ein
nunmehr in die Jahre gekommenes Thema grundsätzlicher Art.
"Verpasste Chancen" scheint der begleitende Gedanke
dieses Konflikts seit seinem Bestehen zu sein; ob der Osloer
Friedensprozess (bei allen sich in ihm abzeichnenden geschichtlichen
Möglichkeiten der Strukturveränderung) nicht schon von Anbeginn ein tot
geborenes Kind war, wird noch in Zukunft erörtert werden müssen; der
jetzige Ausbruch der Gewalt ist schlimm, aber nicht der schlimmste, der
diesen Konflikt bislang gekennzeichnet hat; und "politische Sackgasse"
scheint ohnehin das Lieblingswort jener zu sein, die immer schon jeder
friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts mit
fundamentaler ideologischer Abneigung und (nicht nur heimlichen)
gewaltdurchsetzten Finalvisionen gegenüberstanden.
Was ist aber dann mit der Hoffnungslosigkeit? Ist die
neu? Nun, es sind in der Tat düstere Zeiten, die immer düsterer zu
werden scheinen. Schrecklich sind dabei nicht nur die physischen,
Menschenleben fordernden Tatsachen, sondern nicht minder - weil in der
Tendenz immer mehr Menschenleben fordernd - das damit einhergehende
Bewusstsein. Es ist schon schlimm, wie die innere Logik der
Unterdrückung der Palästinenser in die Selbstunterdrückung vieler
Israelis bzw. in ihre freiwillige Selbstentmündigung führt. Man wird
sich noch darüber wundern, wie sehr der Boden für die staatlich-formelle
Faschistoisierung westlicher Regime im Allgemeinen und Israels im
Besonderen - Regime, die sich stets ihrer demokratischen Tradition
rühmen! - gerade in dieser historischen Phase des angeblichen Kampfes
"gegen den Terror" massenwirksam genährt und strukturell vorbereitet
worden ist. Erschütternd ist dabei, wie der Lebensimpuls, der die
Menschen eigentlich dazu treiben sollte, den Ausweg aus der Hölle zu
wagen (oder zumindest doch zu suchen) momentan erlahmt ist. Es herrscht
eine Lethargie, die den auf die Erhaltung der eigenen Macht
ausgerichteten Politikern nur zugute kommen kann.
Die zionistische Linke ist mehr oder minder von der
Bildoberfläche verschwunden: Die "Peace Now"-Bewegung und andere
friedensbewegte Organisationen und Institutionen scheinen vollends
erlahmt zu sein. Die linksliberale israelische Publizistik hat ihren
traditionellen aggressiven Biss weitgehend eingebüßt. Die etablierte
kritische Intelligenz ist zum großen Teil verstummt bzw. überwintert in
bemerkenswerter Unreflektiertheit die sich um sie herum zutragende
Katastrophe. Nur der Aufschrei einer kleinen Minderheit von kritischen
Linken ertönt beharrlich, wird aber vom Umfeld mit umso größerem
Unverständnis (in bestem Falle) und mit unverhohlener Feindseligkeit (im
weit häufigeren) quittiert.
Nichts konnte die sich in verletzter Selbstgerechtigkeit
herumsuhlenden "Realisten" mehr in ihrem antagonistischen "Pessimismus"
bestärken, als die Verleihung des alternativen Friedensnobelpreises an
den linken Altkämpfer Uri Avnery. Nichts ärgert sie mehr als die
unablässigen Berichte von Amira Hass und Gideon Levi in der Tageszeitung
"Ha aretz" über die barbarischen Auswirkungen der von Israel seit
nunmehr über dreißig Jahre betriebenen Okkupation und der systematischen
Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung.
Die zionistische Linke hat im Jahr der (zweiten)
Intifada einen merklichen Rechtsruck erfahren: Viele haben ihre
Anschauungen "revidiert", haben nach eigenem Bekunden "neue Einsichten"
gewonnen, sind gleichsam "realistischer" geworden - und dabei glücklich
im Herzen des israelischen Nationalkonsenses angelangt. Zu vermuten ist,
dass das schon immer ihr eigentlicher heimlicher Wunsch war - die
verblendete Versammlung um das patriotische Stammesfeuer.
Das Zentralproblem der israelischen Friedensbewegung
liegt darin, dass sie mit der Wahl Rabins zum Premierminister und also
der Durchbrechung des seit 1977 anhaltenden Machtmonopols des rechten
politischen Blocks meinte, sich zur Ruhe setzen zu können. "Ihre"
Vertreter waren gleichsam, zumindest was die Peace-Now-Bewegung
anbelangt, an die Macht gelangt, und diese ist seitdem nie wieder
richtig aus ihrem Dauerschlaf erwacht. Die friedenswillige öffentliche
Meinung war, so besehen, nie umgekippt, sondern einfach erlahmt, weil
sie sich staatsoffiziell in und von der Macht vertreten wähnte.
Im vorletzten Jahr ist nun dieser zionistischen Linken
in Camp David plastisch vor Augen geführt worden, worum es beim
jahrelang bekannten Friedenswillen eigentlich geht, und es stellte sich
dabei heraus, auf welch wackligen Hühnerbeinen sie letztlich steht. Die
breite Masse der israelischen Friedensbewegung hat den zionistischen
Diskurs ja nie überschritten; entsprechend war sie immer schon von jenen
zionistischen Ideologismen geprägt, von denen es nun aber gilt, sich
historisch zu verabschieden oder sie doch eingehend zu befragen. Darin
liegt freilich nicht nur das Problem der Linken, sondern das des
allergrößten Teils der jüdisch-israelischen Gesellschaft. Wenn es aber
schon in der friedensbewegten Linken so aussieht, kann man sich
ausmalen, wie es um das so genannte "nationale Lager" bestellt ist.
Damit der Frieden eine Chance hat, muss er gewollt
werden. Damit er aber gewollt wird, muss man sich über seinen "Preis"
klar geworden sein. Proklamierte Friedenswilligkeit bedeutet ja noch
lange nicht wirkliche Friedensbereitschaft, und es ist zu fürchten, dass
große Teile der israelischen Gesellschaft sich über diesen Zusammenhang
noch nicht klar geworden sind. Daraus und aus anderem erhellt, warum man
sich mit solch gieriger Bereitschaft der "Ernüchterung" durch die von
den Palästinensern praktizierte Intifada-Gewalt hingibt, statt sich über
den tatsächlichen Preis eines künftigen Friedens Rechenschaft abzulegen.
So katastrophal sich die Wahl Ariel Scharons zum
Ministerpräsidenten im Nachhinein ausnehmen mag, er stellt, wie alle
seine Vorgänger in den 90er-Jahren, lediglich das Symptom eines größeren
Strukturproblems dar. Rabin wurde ermordet, Netanjahu kam und ging,
Barak kam und wurde schnell gefeuert, und auch Scharon wird nicht ewig
bleiben. Erwiesen hat sich dabei, dass das Land mehr oder minder
unregierbar geworden ist: Zu zersplittert ist seine politische
Landschaft, zu parzelliert seine soziale Ordnung, zu stark durchstoßen
es die historisch entstandenen, fast strukturell angelegten
Konfliktachsen und Aporien. Die Frage nach dem Frieden ist für Israel,
so besehen, keine Luxus-, sondern eine Existenzfrage. Der Frieden wird
kommen, weil er kommen muss - nichts führt an ihm vorbei, für keinen an
dem Konflikt Beteiligten. Zu fragen bleibt lediglich, wie viele
Gewaltetappen man dabei wird durchqueren müssen und wie viele Opfer den
Weg zum ersehnten Frieden noch pflastern werden.
Der Autor ist Direktor des Instituts für deutsche
Geschichte an der Universität Tel-Aviv.
04.01.2002 / Feuilleton, im Januar war er Gast bei der
Jewish Winter University in Würzburg
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12-02-2002 |