Von Andreas Dietl
Jungle World, 19.02.2003
Sabra und Shatila, das ist für Antizionisten aller Couleur
eine Chiffre für die grundsätzliche Niedertracht der israelischen
Politik. Am Mittwoch der vergangenen Woche entschied der belgische
Oberste Gerichtshof, eine Klage gegen den israelischen
Ministerpräsidenten Ariel Sharon wegen der Massaker in den beiden
Flüchtlingslagern zuzulassen, sobald dieser keine parlamentarische
Immunität mehr genießt.
Dass Angehörige von Opfern eines Massakers gegen einen der
mutmaßlich Mitverantwortlichen klagen, ist eine Sache, eine andere
das öffentliche Echo, das die Klage auslöste. Einhellig wurde die
Klageerhebung von so gut wie der gesamten belgischen Öffentlichkeit
von ganz rechts bis zu autonomen Gruppierungen begrüßt, und zwar
nicht nur als Klage gegen die Person Sharon, sondern gegen die
gesamte israelische Politik, der bescheinigt wurde, ebenso
verbrecherisch zu sein wie die Exzesse in West-Beirut.
In den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern richteten im
September 1982, während der israelischen Okkupation des Libanon,
christliche Falangisten ein Massaker an, dem 800 bis 2 000
Palästinenser zum Opfer fielen. Es handelte sich um einen Akt der
Rache für die Ermordung des soeben zum libanesischen Präsidenten
gewählten Falange-Führers Bashir Gemayel durch die PLO. Das Gebiet
der beiden Flüchtlingslager wurde zu dieser Zeit von der
israelischen Armee beherrscht, die die mit ihr verbündete Falange
gewähren ließ - auf Befehl von oben, wie ein halbes Jahr später ein
Untersuchungsausschuss des israelischen Parlaments feststellte.
Sharon trat daraufhin als Verteidigungsminister zurück, doch vor
Gericht musste er sich, geschützt durch eine Abfolge von Ämtern, die
ihm Immunität verliehen, weder in Israel noch sonst wo je
verantworten.
Weil in den neunziger Jahren einige europäische Staaten
beschlossen, so genannte Verbrechen an der Menschheit auch dann zu
verfolgen, wenn das Territorialitätsprinzip nicht anzuwenden ist,
wurde eine Anklage gegen Sharon möglich. Am weitesten ging damals
Belgien, das beschloss, auch dann zur Strafverfolgung zu schreiten,
wenn das Verbrechen weder an einem Belgier, noch von einem Belgier,
noch in Belgien begangen worden war. Das erste prominente Ziel einer
solchen Anklage wurde im Juni 2001 Sharon, gegen den 23 Überlebende
von Sabra und Shatila klagten.
Eine alsbald gestellte Gegenanzeige von Opfern palästinensischer
Terroranschläge gegen Jassir Arafat wurde in der Öffentlichkeit als
perfides Manöver zionistischer Kreise gebrandmarkt. Bis heute ist
man sich in der belgischen Öffentlichkeit einig, dass Sharon ein
Mörder, Arafat hingegen "der demokratisch gewählte Präsident des
palästinensischen Volkes" ist.
In Israel verurteilte beinah die gesamte Öffentlichkeit das
Verfahren. Sharons Widersacher Shimon Peres beschuldigte Belgien der
Einmischung in Israels innere Angelegenheiten und sagte: "Belgien
kann nicht Israels Richter sein. Es hat nicht durchgemacht, was
Israel durchgemacht hat, und es kann nicht den Stab über die
Geschichte brechen."
Eine Änderung des belgischen Gesetzes "über die universale
Zuständigkeit der Gerichte" soll bis Ende April Geltung erlangen.
Dann müsste das Verfahren gegen Sharon eingestellt werden. Und die
außerdem noch anhängigen Verfahren gegen Fidel Castro, Saddam
Hussein und Laurent Gbagbo auch.