Auf den Kopf gestellt:
Zur Wahrnehmung des Nachkriegsirak in Europa
Von Thomas von der Osten-Sacken und
Thomas Uwer
Liest man die Schriften
anttiimperialistischer Gruppen aller Couleur zum Irak, so fühlt man
sich zurückerinnert an den Wahn, mit dem christliche Sekten
Schallplatten der Beatles oder der Rolling Stones rückwärts
abspielten, um einer geheimen Botschaft auf die Spur zu kommen. In
etwa gleichermaßen stellt sich das Verhältnis dieser Schriften zur
Realität im Lande selbst dar, als auf den Kopf gestelltes Abbild
gewissermaßen, das nur verständlich ist, nimmt man von allem, was
hier apostrophiert wird, das genaue Gegenteil an. Jene, die seit
Jahren erklären, es ginge ihnen einzig um das Wohl des „irakischen
Volkes“, weshalb sie entgegen allen aus dem Lande vorliegenden
Informationen und dem gesunden Menschenverstand zum Trotz nicht die
Diktatur Saddam Husseins zu bekämpfen erklärten, sondern die
jeweilige US-Adminstration, stehen spätestens seit dem 9. April vor
einem Dilemma. Ganz offensichtlich nämlich begrüßten die Irakis
mehrheitlich amerikanische Truppen als Befreier und votieren auch
Monate später Umfragen zufolge mit absoluter Mehrheit für einen
weiteren, wenn auch temporären Verbleib dieser Truppen in ihrem
Land. Schlimmer noch, der sogenannte US-Imperialismus, der in den
vergangenen Monaten nicht nur von einer deutschen Justizministerin
in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wurde, machte sich als
Besatzungsmacht im Irak keineswegs daran, eine neue Diktatur zu
errichten, wie auch einige irakische Exilintellektuelle im Vorfeld
gefürchtet hatten. Kanan Makiya, Autor des Buches „Republic of Fear“
etwa hatte gewarnt, Teile des US-Establishments planten mit Hilfe
der alten Eliten einen „Ba’thismus ohne Saddam“ zu errichten und
sowohl Armee als auch Geheimdienste, die Hauptinstrumente des
baathistischen Terrorapparates, mehr oder weniger intakt zu lassen,
um nur die Führungsspitze auszutauschen. Es geschah das Gegenteil.
Anstatt alte Eliten und ihre Apparate zu absorbieren, wurde die
Ba’thpartei verboten, Armee und Geheimdienste aufgelöst. Der
amerikanische Übergangsverwalter Paul Bremer unternahm den
entscheidenden Schritt, den die irakischen Revolutionäre und
Putschisten der letzten siebzig Jahre zu gehen niemals gewagt hatten
– den angekündigten umfassenden Neuanfang des Landes ohne die Maxime
der Bewahrung überkommender Staatsapparate und -eliten zu
unternehmen. Ein Schritt, den der irakisch-kurdische Autor Kamal
Mirawdeli zu Recht als revolutionär bezeichnete: Erstmalig sei in
der modernen Geschichte des Nahen Ostens ein alter
Herrschaftsapparat legal aufgelöst worden, anstatt, wie selbst noch
nach der iranischen Revolution, diesen zu kooptieren. Eine
Entscheidung, die ersten freien Meinungsumfragen im Irak zufolge,
auf eine überwältigende Zustimmung der Bevölkerung stieß. Die
allerorten geäußerte Kritik an der amerikanischen Verwaltung richtet
sich entsprechend vor allem gegen die als zu liberal empfundene
Politik gegenüber den Ba’thfunktionären von einst, die vorerst nicht
verhaftet wurden und deren Tribunalisierung von der US-Verwaltung
als Aufgabe eines künftigen irakischen Staates verstanden wird. Die
Anhänger des alten Regimes spüren, dass für sie kein Platz in einem
neuen Irak sein wird. Folgerichtig haben sie mit
konterrevolutionären Attacken auf Koalitionstruppen und Irakis
begonnen, die für die USA arbeiten. Nur eine weitgehende und
schnelle Destabilisierung des Landes und der militante Versuch, die
Wiederherstellung der Infrastruktur zu zerstören, bietet ihnen noch
eine letzte Chance. Unterstützt werden diese Aktionen von arabischen
Freiwilligen und sunnitisch-islamitischen Gruppierungen, die schon
unter Saddam Hussein legal operieren konnten und nun aus Saudi
Arabien Unterstützung erhalten.
Das Dilemma für die Kritiker des Krieges, die sich auf die Suche
nach den „wahren“ Motiven für den Waffengang spezialisiert haben,
besteht darin, dass es die USA mit ihrem Plan, den Irak in eine
„Musterdemokratie“ des Nahen Ostens zu verwandeln, ganz offenbar
ernst meinen. Dass es dagegen den deutschen und anderen
Antiimperialisten keineswegs um eine Demokratisierung des Irak geht,
bewiesen sie nach dem 9. April. Um der Attitüde, auf der Seite des
irakischen Volkes zu stehen treu bleiben zu können, musste ein
anderes „Volk“ her, am besten eines, das sich in einem Kampf von
verzweifelter Aussichtslosigkeit befindet, ein Zustand, der dem
antiimperialistischen Empfinden hier am nächsten kommt. Im ersten
Schritt mussten dazu die Irakis von der Masse des kämpfenden
„Volkes“ ausgeschlossen werden. Die Grüne Vizepräsidentin des
deutschen Bundestages, Antje Vollmer, einst Unterstützerin des
ewigen Kim Il-Sung und heute staatlich alimentierte Armutsprophetin,
hatte für die Menschen, die sich in Bagdad und anderen irakischen
Städten über die Befreiung freuten, nichts als Zorn und Spott über.
„Jubeliraker“, so Vollmer, seien durch die Straßen gezogen, von den
USA „gestützte Straßengangs“, und Le Monde Diplomatique,
intellektuelles Flaggschiff der Antiglobalisierungsbewegung,
erklärte, die wirklichen Irakis wollten gar keine Demokratie. Dort
breitete Ignacio Ramonet aus, was als Programm der neuen
antiamerikanischen Bewegung nach dem 9. April bezeichnet werden
kann: „Der Neoimperialismus der Vereinigten Staaten knüpft an die
altrömische Auffassung an, die mehr oder weniger als minderwertig
betrachteten Völker bedürften moralischer Anleitung, militärischer
Zucht und medialer Vormundschaft - natürlich auf den Grundlagen von
Freihandel, Globalisierung und westlicher Kultur. Nach dem Sturz der
schrecklichen Diktatur versprach Washington im Irak eine
exemplarische Demokratie zu errichten, deren Ausstrahlung den Fall
aller diktatorischen Regime der Region nach sich ziehen werde. Wozu
auch die Diktaturen in Ägypten und Saudi-Arabien zählen, wie der
ehemalige CIA-Direktor und Bush-Vertraute James Woolsey versicherte.
Ist dieses Versprechen glaubwürdig? Offenkundig nicht.
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beeilte sich denn auch mit
der Auskunft, Washington werde ein islamisches Regime im Irak nicht
anerkennen, selbst wenn es den Wunsch der Mehrheit im Irak und das
Ergebnis eines Urnengangs widerspiegele.“
In den Redaktionsstuben und Parlamenten Europas wusste man schon
immer, was die gedemütigte arabische Seele will und auf der Straße
in Massenaufmärschen fordert: Selbstbestimmung, die sich in der
Verteidigung des heiligen islamisch/arabischen Bodens gegen fremde
Aggressoren und Scharia ausdrücke. Dass die Irakis seit langem, wie
der Rest der viel beschworenen arabischen Straße übrigens auch,
diesem Bild nicht entsprechen, muss deshalb zwingend ignoriert
werden. Würden die „arabischen Massen“ nicht mehr Wunschvorstellung
und Schreckbild zugleich abgeben, ließe sich vermittels ihrer nicht
mehr mit Antisemitismus, Tugendterror und selbstaufopferndem Kampf
drohen, kein Mensch nähme sich ihrer an. So kommt es, dass der
panarabische Fernsehsender Al-Jazeera sich noch wundert, warum der
schiitische Klerus im Irak keine Fatwa zur Bekämpfung der Amerikaner
erlässt, während man bei der deutschen Hilfsorganisation medico
international schon längst weiter ist: „Zehntausende von Irakern,
viele von ihnen Angehörige der schiitischen Mehrheit, sind in
Bewegung.“, weiß Geschäftsführer Thomas Gebauer. Und Bewegung, so
unkt es aus dem bewegungslinks geschulten Entwicklungsverein,
bedeutet Gefahr. Die Forderung nach einem „sofortigen Rückzug der
US-Streitkräfte“ werde täglich lauter. In seiner Ambivalenz, selbst
über Monate gegen die US-Präsenz im Irak mobil zu machen und dann
den herbeifaszinierten Antiamerikanismus der Irakis als Gefahr zu
brandmarken, gleicht Gebauer einem vereinsamten Kind, das sich das
fehlende Gegenüber als unsichtbaren Freund erfindet, um ihn dann für
alle selbst erfahrenen Misslichkeiten verantwortlich zu machen.
Da er sich nur jenem offenbart, der an ihn glaubt, muss der
irakische Volkswillen allgemein gültig gedeutet und interpretiert
werden. Die von Amerika importierte Demokratie wird zur wahren
Diktatur, lautet die naheliegende Variante, wo sie den qua
kultureller Determination festgeschriebenen Willen der Araber zum
Islamismus ignoriert. Denn „Demokratie“ – das wissen die Deutschen
aus eigener Erfahrung nur zu gut – „gründet sich nicht auf Bomben
und militärischer Besetzung“, erklärt Gebauer weiter. Was damit
gemeint ist deutete Horst Eberhard Richter auf dem diesjährigen
Kongress der „Ärzte in sozialer Verantwortung“ aus: Wenn den
Amerikanern „durch den Sieg über Hitler gelungen ist, Europa zu
amerikanisieren, warum sollte (ihnen) nach der Niederwerfung Saddam
Husseins in der dortigen Region nicht das Gleiche gelingen?“
Amerikanisierung nämlich ist das Gegenteil von Demokratie, die
Gebauer zufolge von der „Partizipation der Menschen und der Stärke
des Rechts lebt.“ Amerikanische Demokratie aber fußt, wie der
Bundeskanzler kurz vor Kriegsausbruch noch erklärte, auf dem „Recht
des Stärkeren“.
Folgerichtig verteidigen die Überreste des alten Regimes nicht nur
„den heiligen Boden des Irak gegen die ungläubigen Invasoren“
(Saddam Hussein), sondern auch jene autochthone Schattenwelt des
erfundenen irakischen Volkes, die der „Amerikanisierung“ durch
Demokratisierung entgegensteht. Ein antiimperialistsiches Sommercamp
richtet folgendes Forum ein: „Gegen die imperialistische Besatzung;
Ein irakischer Fedayin erzählt.“ Vielleicht erläutert er, warum „die
Bilder, auf denen (in Bagdad) fremde Soldaten als Befreier zu sehen
waren, (…) regelrecht inszeniert“ werden mussten (Gebauer)?“
Zeitgleich schlägt die deutsche Friedensbewegung vor, im Irak keine
humanitäre Hilfe zu leisten, eine Forderung, die den Fedayin
durchaus in die Hände spielt, setzen diese doch mit Anschlägen und
Sabotageakten darauf, Elektrizitätswerke und andere
Versorgungseinrichtungen zu zerstören, um die Bevölkerung in einem
Elend zu halten, das den für die Aufrechterhaltung der Versorgung
nunmehr verantwortlichen amerikanischen Truppen zu einem immer
schwieriger zu bekämpfenden Feind wird. Peter Strutzynski, Sprecher
der Bundeskoordination Friedensratschlag, fordert deshalb, dem
faschistischen Untergrund die Waffe Armut nicht zu nehmen, sondern
die Bevölkerung das volle Elend des von Ba’thisten, Fedayin und
arabischen Freiwilligen angerichteten Terrors auskosten zu lassen:
„Wir können nicht einfach zur Tagesordnung des "Aufräumens" und der
humanitären Hilfe für die geschundene Bevölkerung übergehen, solange
die Invasoren das Land besetzt halten und mit anderen Mächten um die
Verteilung der "Kriegsbeute" schachern“. Das in Anschlag gebrachte
Verb „schachern“ zielt genau: Es trifft die zentrale Angst der
europäischen Kriegsgegner, hier könnte außer Zerstörung jemand etwas
aufbauen. Eine der letzten vom fetischisierten Bösen „Weltmarkt“
abgeschirmte Insel autochthoner Barbarei wird verteidigt, Saddam
Hussein soll zurückkehren oder sich das Land in eine islamistische
Diktatur verwandeln, dann ruft die deutsche Friedensbewegung zu
Spenden für die Kriegsopfer auf. Humaner ist da selbst Jörg Haider,
der kürzlich mit einer „Pace“ Fahne ein paar Kilometer medienwirksam
joggte, um auf diese Art Geld für „Kriegsverletzte Kinder“ zu
sammeln.
Wie human erscheinen da die Vertreter der amerikanischen
Besatzungsmacht. Kürzlich gab Jay Garner ein längeres Interview, in
dem er die Fähigkeiten der Irakis zur Selbstverwaltung lobte. Er
liebe es, den seit 1991 befreiten Nordirak zu besuchen, wo die
Menschen meist in westlicher Kleidung herumliefen und begonnen
hätten, sich demokratisch zu verwalten, ohne dass ihnen von Außen
namhafte Hilfe zugekommen wäre. Man müsse, erklärte Garner, nicht
viel tun, um den ganzen Nahen Osten zu revolutionieren, nur den
Irakis die Möglichkeit geben, ihr Land zu entwickeln. Er habe ein
tiefes Vertrauen in die Menschen im Irak, in wenigen Jahren erkenne
man das Land nicht mehr wieder: „In two years, it will be amazing.
In five years, it will be an entirely different country. What the
macro thing here is if we are successful, and we will be, we're
going to change the entire landscape of the Middle East -- not by
what we are going to do in the Middle East but by the example of
what Iraq is going to become. Because you have a democratic
government in Iraq, you have a good economy in Iraq and you got the
money to rebuild things and you are electing your own from of
government and if you don't like them you can throw them out at the
will of the people. That's happening in Iraq and you're sitting in
Iran and seeing that, you're sitting in Syria and seeing that, in
Saudi Arabia, Egypt looking at that: that's going to change the
whole landscape. Not by us doing anything to these other countries
but by us taking care of this one country.”
Abgesehen von dem Talent, das neokonservative Programm in wenigen
einleuchtenden Sätzen formuliert zu haben, gelingt es Garner all
jene Völkerfreunde und Europäer als das dastehen zu lassen, was sie
sind: Freunde der bisherigen antisemitischen, islamistischen und
panarabischen Herrschaft.
In den letzten Monaten spürte jeder, dass Irakis im Exil einen
gewissen Optimismus verstrahlten, den Politiker der republikanischen
Partei im Gegensatz zur liberalen Presse und den Demokraten im Senat
teilten. Solange die USA im Irak gewillt sind, sich auch unter
eigenen Verlusten der von Europa gestützten Konterrevolution
entgegenzustellen, haben sie dazu auch allen Grund. Ehrliches
Erstaunen herrscht derweil auch beim Spiegel, der sich in den
vergangenen Monaten einen ähnlich antiamerikanischen Irak erfunden
hat. In einer Kurzmeldung verlautet dort: „Ein neu gegründetes
"Irakisches Zentrum für Forschung und strategische Studien" befragte
1100 Menschen in Bagdad und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die
meisten Iraker wollen offenbar die Besatzung ihres Landes bis zur
Bildung einer ständigen Regierung.“ Das „Iraq Institute for
Democracy“ führte zeitgleich eine Umfrage durch, ob sich die Irakis
einen säkularen Staat wünschten oder die Einführung der Scharia. 60%
votierten für die strikte Trennung von Staat und Kirche, 20% für die
Scharia, 20% hatten keine Meinung. „Die zunehmende Islamisierung
wird es den USA immer schwerer machen“ meint dagegen Gebauer, „rasch
ein Vasallenregime zu etablieren.“
Erschienen in
Context XXI, September
2003
hagalil.com
21-09-2003 |