
Kollisionskurs
Israels Politik bringt die Diasporajuden in ein Dilemma
Von Natan Sznaider
Sind die Diasporajuden tatsächlich Geiseln der israelischen Politik, wie Moshe
Zimmermann in der Süddeutschen Zeitung vom 22. April meinte? Man muss wohl etwas
weiter ausholen, um ihre Beziehung zu Israel angemessen zu verstehen. Sicher
ist, dass der gegenwärtige Nahostkonflikt Juden in Europa und insbesondere in
Deutschland in eine paradoxe Lage bringt.
Als nicht-ethnische Deutsche sind sie gewissermaßen geborene
Verfassungspatrioten. Oder sollten sich Juden etwa der deutschen Vergangenheit
verpflichtet fühlen? Ebenso wie andere nicht-ethnische Deutsche verlassen sie
sich auf die Legitimation durch Demokratie und Menschenrechte - das sind
letztlich die einzigen Kriterien ihrer Zugehörigkeit zum deutschen oder auch
europäischen Kollektiv.
Der Generationswechsel hat nun dazu beigetragen, dass mehr und mehr Juden sich
nicht mehr nur als die Mahner an die Vergangenheit mit einem eingebauten
moralischen Vorsprung betrachten wollen. Sie sind lebendig und präsent, und sie
suchen nach einem Kompromiss zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit und
der Gestaltung der Zukunft. Somit kann sich gar nicht mehr alles nur um den
Holocaust drehen.
Hinzu kommt, dass die Globalisierung des Holocaust diese Vergangenheit in ein
gesamteuropäisches Gedächtnis einbaut. Und die alt-neuen, aus der ehemaligen
Sowjetunion stammenden Juden verbinden ein ethnisch-nationales Verständnis ihrer
Identität mit einem kosmopolitischen Verständnis ihrer europäischen Identität,
in dem das spezifisch deutsch-jüdische Holocaustverständnis nicht mehr viel Raum
haben wird. Mit anderen Worten: Die jüdische Welt wird wieder grenzenlos.
Diese Grenzenlosigkeit kann sich aber nur auf ein anderes grenzenloses Regime
stützen: auf das Menschenrechtsregime, das diese Existenz jenseits der mehr oder
weniger ethnischen Nationalstaaten garantiert. Auf eine Form von jüdischem
Verfassungspatriotismus also, der sich seine globale Legitimation über
Menschenrechte und den Kampf gegen ihre Verletzungen in Form von "Verbrechen
gegen die Menschheit" einklagt.
Abschied vom ethnischen Prinzip
Schon in den Nürnbergern Prozessen spielten die Juden die Rolle der Menschheit,
als die führenden Nazis von den Alliierten unter anderem als Verbrecher gegen
die Menschheit und die Menschlichkeit verurteilt wurden. Diese spezifische
Diaspora-Identität wirft in Bezug auf Israel Probleme auf. Israel ist ein
ethnischer Staat - für Juden von Juden konzipiert, die ihre jüdische Identität
nicht in der Menschheit aufgehen lassen wollten und konnten. So lebt Israel mit
dem Widerspruch, gleichzeitig jüdisch und demokratisch sein zu wollen. Denn wenn
man demokratisch heute als universales Menschenrechtsregime versteht, ist dieses
mit dem ethnischen Prinzip eigentlich nicht mehr vereinbar. Wenn man also Israel
als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet, um damit Solidarität zu
erzeugen, erweist sich eben dies als problematisch, da ethnische Staaten
heutzutage ihre globale Legitimation verlieren.
Das Problem für Juden in der Diaspora wird noch komplizierter, wenn Israel, das
ja unter anderem auch existiert, damit sich Juden in ihrer Diasporaexistenz
sicherer fühlen können, gerade diese Sicherheit gefährdet und wenn zudem noch
der Nahostkonflikt in die Städte Europas hineingetragen wird. In diesem Moment
steuern das global legitimierte Menschenrechtsregime und der
Selbstbehauptungskampf des ethnischen Staates Israel auf einen klaren
Kollisionskurs zu - und belasten damit die Juden in Europa. Denn ihre beiden
Existenzgrundlagen, die Einhaltung der Menschenrechte und die Solidarität mit
Israel, geraten in einen schwer auflösbaren Konflikt.
Ein Konflikt, der freilich in der gegenwärtigen Lage Israels selbst seinen
Ursprung hat. Bekanntlich können nur Staaten Menschenrechte verletzen. Wenn
Israel von palästinensischen Terroristen überfallen wird, dann ist das keine
Menschenrechtsverletzung, sondern gilt als bewaffneter Widerstand. Schon deshalb
braucht Israel ein unabhängiges Palästina mit entsprechender
Verfassungsgrundlage - damit diesem dann gegebenenfalls auch die globale
Legitimation entzogen werden kann.
Israel ist zudem ein ethnischer Staat, der auch darum kämpft, dieses
Gegenprinzip des westlichen Universalismus für sich selbst zu bewahren. Ein
Staat in Legitimationsnot: Israel erfreute sich globaler Unterstützung -
außerhalb der arabischen Welt -, weil es sich westlich-demokratisch gab und man
sich weltweit mit den Opfern des Holocaust solidarisierte. Beide
Legitimationsprinzipien werden jedoch immer schwächer, was für die Juden Europas
das Leben noch komplizierter macht.
Terror als strategische Waffe
Israels Bürger sehen sich heute in ihrer Existenz bedroht. Darum unterstützen
sie mit großer Mehrheit das militärische Vorgehen ihrer Regierung - mit jener
großen Mehrheit, die schon seit mehr als zehn Jahren dafür ist, sich aus den
besetzten Gebieten zurückzuziehen. Die palästinensische Führung hatte andere
Pläne, und sie hat den Terror als strategische Waffe eingesetzt; vielleicht
auch, um sich für die Besatzung zu rächen, aber ebenso mit dem Hintergedanken,
die israelische Bevölkerung gewissermaßen weich zu bomben. Durch Terrorangriffe
sollte Israel dazu gebracht werden, nachzugeben.
Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, ganz im Gegenteil. Israel reagierte brutal
und fühlt sich im Recht, weil sich ein Staat seinen Bürgern gegenüber nur
legitimiert, wenn er ihnen Sicherheit gewährleistet. Die Menschenrechte sind im
Konflikt zwischen der globalen Legitimation und der spezifischen Legitimation
als Staat auf der Strecke geblieben, beides war nicht mehr zu vereinbaren. Für
viele Diasporajuden in Europa mag das die größte Identitätskrise seit Ende des
Zweiten Weltkrieges bedeuten, die sich mit der Existenzkrise der Israelis und
der Palästinenser verknüpft. Diese Krise wird eher noch verschärft, wenn sich
Menschrechtsargumente mit Antisemitismus verbünden.
Daraus entsteht folgendes Dilemma: Wenn die Juden Europas zu blinden Anhängern
jeder israelischen Politik werden, dann verzichten sie auf den Vorteil der
Diaspora, die ihnen einen universalen Blick ermöglichen könnte. Erklären sie
sich aber nicht solidarisch, dann geben sie die Sicherheit auf, die sie für ihr
Leben in der Diaspora brauchen. Ob in der Diaspora oder in Israel selbst: die
jüdische Welt steckt in einem furchtbaren Zwiespalt zwischen zwei sich
widersprechenden Prinzipien. Die Anerkennung und die Beschreibung dieses
Dilemmas mag ein erster Schritt aus der Höhle sein.
haGalil onLine 25-04-2002 |