Wolf, Wolf!
Nicht jede feindselige Haltung ist Antisemitismus
Nach Elijahu Salpeter, haArez
In den westeuropäischen Staaten werden
in den letzten Monaten warnende Stimmen jüdischer Führer und Politiker
laut, die sagen, der Antisemitismus nehme gefährliche Ausmaße an.
Sicher, Juden haben aus der Geschichte
gelernt, dass es besser ist, zu früh zu schreien, als zu spät.
Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass das Gerede von einer
neuen antisemitischen Welle in Europa den "Wolf! Wolf"- Effekt*
herstellen kann. Diese Gefahr nimmt noch zu, wenn man alle unangenehmen
Erscheinungen in einen Topf wirft und sie "Antisemitismus" nennt. Man
sollte zwischen den verschiedenen Arten des Judenhasses differenzieren.
Man darf zwar ein wenig übertreiben, um vor den Gefahren zu warnen, aber
je weiter man sich von der Realität entfernt, desto wahrscheinlicher
wird es, dass der Aufschrei den Schreier mehr erschreckt als den, gegen
den er gerichtet war.
Wenn die Nachrichtenagentur Reuter vor
einigen Wochen berichtet, dass die Führer zweier jüdischer
Organisationen gesagt hätten, die Atmosphäre sei jetzt so wie vor dem
Zweiten Weltkrieg, dann sollte dies durchaus mit Skepsis betrachtet
werden. Die antisemitischen Erscheinungen der letzten Monate haben, wie
zu jeder Zeit, mehrere Ursachen, und das Gewicht der Gründe verändert
den Charakter der Erscheinung und den Weg, auf dem man sich mit ihr
auseinandersetzen sollte.
Es gibt Historiker, die behaupten,
Antisemitismus habe es schon vor dem Christentum gegeben, andere sagen,
er habe mit dem Christentum begonnen. Die theologische Feindseligkeit
zwischen Judentum und Christentum ist noch immer groß, aber es wäre ein
Fehler, die Veränderungen zu unterschätzen, die sich in den letzten 20
Jahren vollzogen haben.
Es wird hier oft der Anschein erweckt, als
werde der arabische Versuch, die amerikanische Unterstützung Israels für
die Feindseligkeit des fundamentalistischen Islam gegenüber den USA
verantwortlich zu machen, nur von radikalen Moslems und verschworenen
Antisemiten unterstützt. Vielleicht verhalten sich die Dinge sogar
umgekehrt: Der Hass gegenüber den erfolgreichen Westen bewirkt einen
verstärkten Hass gegenüber Israel, das für die fundamentalistischen
Moslems zum Symbol der westlichen Kultur wurde.
Jede feindselige Haltung gegenüber Israel
als Antisemitismus zu definieren, könnte dazu führen, dass eine
Feindseligkeit gegen Israel bzw. seine Politik tatsächlich
Antisemitismus in der Diaspora auslöst. Der Staat Israel und die
zionistische Führung müssen sich darum bemühen, dass zwischen dem
israelisch-arabischen Konflikt und den Beziehungen zwischen Juden und
Moslems differenziert wird.
Man sollte auch die Veröffentlichung der
offiziellen Angaben über antisemitische Vorfälle abwarten, bevor man
behauptet, dass diese im vergangenen Jahr stark zugenommen haben. Man
sollte die Art der Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr untersuchen.
Natürlich soll das alles nicht heißen, dass
die Fortsetzung des nahöstlichen Konflikts nicht dazu missbraucht wird,
Antisemitismus im Kampf gegen Israel einzusetzen. Aber auf dem Weg von
hier bis zu den frühen 30-er Jahren stehen viele Barrieren, die seit
1945 errichtet wurden. Die Bewahrung dieser Barrieren wird effektiver,
wenn Juden nicht überstürzt zur Schlussfolgerung gelangen, Ereignisse
der Vergangenheit müssten sich in der Zukunft zwangsläufig wiederholen.
Nur so ist es möglich heutige Wege zu finden um sich mit den Problemen
der Gegenwart auseinander zusetzen.
*Bezieht sich auf einer
Parabel, in der ein Mann jeden Morgen die Dorfbewohner mit dem Ruf
"Wolf, Wolf!" weckt. Als eines Tages tatsächlich die Wölfe das Dorf
umzingeln reagiert keiner mehr.
haGalil onLine
13-01-2002 |