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Notwendiger Dialog Von Sharon Sadeh,
Ha’aretz, 21.08.2002,
www.haaretzdaily.com
BRÜSSEL. Außer einigen wenigen Besuchen in einer
begrenzten Anzahl von Europas Hauptstädten und ganz wenigen Anrufen, um
Führer des europäischen Kontinents kurz zu informieren, hat
Premierminister Ariel Sharon Europa nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Auch die Minister seiner Regierung gehen nicht die zusätzliche Meile, um
Israels größtem Handelspartner näher zu kommen. "Diese Nachlässigkeit
wird uns in der Zukunft einiges kosten" warnt Harry Kney-Tal, Israels
Botschafter in der Europäischen Union.
Der 58jährige Kney-Tal, der als israelischer Diplomat
ranghohe Posten in den USA und anderswo innehatte, beendet in wenigen
Wochen seine Amtszeit in Brüssel. Während er sich auf die Heimkehr
vorbereitet, zeigt er sich besorgt und frustriert. Er sagt, dass sich
die politische und intellektuelle Kluft zwischen Israel und Europa
ausdehnt. Ohne korrigierende Schritte wird Israel als boykottierter
Paria-Staat enden, ähnlich wie Südafrika in den Tagen der Apartheid. So
wie er es sieht, hat Israel wenig, wenn überhaupt etwas getan, um dieser
Möglichkeit vorzubeugen.
Europäische Staaten, unter ihnen insbesondere Belgien,
haben sich für israelische Diplomaten in den letzten Jahren in
Krisenherde verwandelt. Antisemitische Angriffe auf jüdische Ziele,
gekoppelt mit lautstarker, durchdringender Unterstützung für die
palästinensische Autonomiebehörde und vehementer Kritik an Israels
militärischen Aktionen – diese Trends und weitere scheinen eine
einseitige, feindliche Sicht der Dinge zu reflektieren. Eine
tendenziöse, negative Berichterstattung über Israel in den Medien
verstärkt diesen Eindruck. Kommentatoren, vor allem die der politischen
Rechten in Israel, argumentierten oft, dass die Europäer Israel im Namen
hoher moralischer Prinzipien kritisierten; diese würden jedoch nur einen
wieder auflebenden Antisemitismus verbergen. Diese Ansicht wird von
manchen Personen in der amerikanischen Administration geteilt.
Vor wenigen Monaten sagte der amerikanische
Außenminister Colin Powell, dass das antisemitische Phänomen in Europa
ein "Anzeichen für verdrängte Gefühle ist, die in Europa immer
gegenwärtig gewesen, jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg geheim gehalten
worden sind." Solche Ansichten sind oberflächlich und einseitig, glaubt
Kney-Tal. Sie führen zu einem falschen Verständnis der Dynamik und der
Ziele der Europäischen Union.
Kney-Tal fügt hinzu, dass die Beziehungen zwischen
Europa und Israel sich verschlechtert haben, weil die EU-Führung vor
Informationen zurückschreckt, die im Widerspruch zu ihren Werten und
ihrer Auffassung stehen und von denen einige im Bezug auf Israel, den
Disput und den Nahen Osten auf Stereotypen beruhen.
Deutliche Kluft
Ein klares Beispiel für die deutliche Kluft zwischen
Israel und der EU ist die Verbindung zwischen palästinensischer Hetze
und Selbstmordanschlägen. "Sowohl Israel wie die EU kritisieren die
Hetzkampagnen heftig", erklärt Kney-Tal. "Doch wenn es um den tieferen
Sinn dieses Phänomens geht, haben Israel und die EU unterschiedliche
Interpretationen. In Israel wird eine enge Verbindung zwischen Texten in
Schulbüchern, Medienberichten, offiziellen Stellungnahmen, Predigten in
Moscheen und den Selbstmordanschlägen gezogen. In Europa wird diese
Interpretation vollständig zurückgewiesen. Die Europäer sagen uns, dass
sie den Terror sehen. Doch ihr Bezug zu diesem Terror ist der gleiche,
den sie zum Terror der katholischen Untergrundbewegung in Nordirland
oder der baskischen Untergrundbewegung in Spanien haben: dieser Terror
zielt hauptsächlich auf politische Personen oder Symbole der Regierung;
er ist nicht dazu bestimmt, willkürlich zu morden, wie es in Israel der
Fall ist." Terroristen in Westeuropa geben vor der Explosion oftmals
Warnhinweise auf den Ort des Sprengsatzes, um die Zahl der Opfer
einzuschränken.
"Bis zum 11. September", sagt Kney-Tal, "benutzten die
Europäer im israelisch-palästinensischen Kontext den Ausdruck ‚Kreislauf
der Gewalt‘. Nach ihrer Ansicht war es nicht klar, welche Seite mit der
Gewalt angefangen hatte. Es war für sie auch nicht besonders wichtig. Es
gibt einen Anschlag und eine Reaktion darauf, die zwangsläufig zu einem
weiteren Anschlag führt undsoweiter. Sie maßen den Selbstmordanschlägen
keine besondere Bedeutung bei, sie betrachteten diese als lokales
Problem Israels."
"In Israel sehen wir die Dinge natürlich anders: es gibt
einen Prozess der Hetze, dadurch werden Terroranschläge verursacht,
woraufhin die Gewalt eskaliert. Es gibt auch Meinungsunterschiede
bezüglich der Hetze in palästinensischen Schulbüchern. Wir warnten vor
diesem Phänomen; sie versprachen, sich darum zu kümmern. Ihre Ergebnisse
unterscheiden sich von unseren. Sie wollten zeigen, dass die Hetze in
palästinensischen Schulbüchern verschwindet. Wir sagten: Schaut genauer
hin, denn dies ist nicht der Fall. Doch sie sind sich der Feinheiten,
die für uns sehr sensible Angelegenheiten sind, nicht bewusst. Das liegt
nicht daran, dass sie anti-israelisch sind, sondern daran, dass sie auf
einer anderen Gefühlsebene an diese Angelegenheit herangehen, einer, die
sich vollkommen von der unseren unterscheidet."
Kney-Tal sagt, nachdem die Europäer eine rationale
Entscheidung zugunsten der Versöhnung untereinander getroffen und sechs
Jahrzehnte im Frieden und in wirtschaftlichem Wohlstand gelebt haben,
haben sie nun ein Problem damit, Israels schwierige Lage zu verstehen.
"Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied Europa, auf die Anwendung von
Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten zu verzichten und die
Europäische Union aufzubauen, die auf der Basis von gemeinsamen
Interessen operiert.... Was die Europäer verrückt macht, sind Staaten
wie die USA und Israel, die die ausschließlich rationalen und legalen
Regeln des Spiels nicht anerkennen und die glauben, dass es Situationen
gibt, die von ihnen verlangen, dass sie ihr Recht auf Selbstverteidigung
ausüben, indem sie massive militärische Stärke anwenden. Die Europäer
glauben nicht an ein Nullsummenspiel; stattdessen versuchen sie
Interessen zu kultivieren, die von allen Seiten geteilt werden, wobei
sie versuchen, den möglichst umfassendsten gemeinsamen Nenner zu
schaffen."
Nach zwei verheerenden Weltkriegen, sagt Kney-Tal,
möchte Europa nicht glauben, dass es Situationen gibt, die nicht durch
Verhandlungen zu lösen sind. Es unterliegt der kognitiven Dissonanz:
wenn die Europäer der Behauptung zustimmen würden, dass die PA Hetze
benutzt und dass diese Hetze zu irrationalen Handlungen wie
Selbstmordanschlägen führt, würde diese Zustimmung der Art
widersprechen, in der die Situation bis jetzt analysiert wurde und der
Weise, in der die Europäer die Angelegenheiten betrachtet haben wollten.
"Sie können diese Logik, dass Hetze zu
Selbstmordanschlägen führt, einfach nicht akzeptieren. Solch eine
Akzeptanz würde die Ablehnung der Kreatur nach sich ziehen, die sie
geschaffen haben, nämlich die Palästinensische Autonomiebehörde, die
hauptsächlich durch europäische Hilfe und finanzielle Unterstützung
gegründet worden ist", sagt Kney-Tal.
Die EU ist stolz, dass sie es der PA ermöglicht hat, die
letzten Jahre, in denen Israel der PA harte ökonomische Sanktionen
auferlegt hatte, zu überleben.
"Sie behaupten, dass sie es nicht getan haben, weil sie
besonders selbstlos sind, sondern weil sie –im Gegensatz zu Israel und
nun auch zu den USA- verstanden haben, dass das legale palästinensische
Rahmenwerk auf lange Zeit aufrecht erhalten bleiben muss und dass dieses
System von einem Führer, nämlich Arafat, der auf legitime Art gewählt
wurde, angeführt werden muss, um Verhandlungen und einen Fortschritt im
diplomatischen Prozess garantieren zu können", sagt Kney-Tal. "Mit
anderen Worten: die Europäer sagen uns im Grunde, dass sie es besser
wissen als wir, weil sie in diese Geschichte nicht emotional verwickelt
sind und weil sie die Situation deshalb auf nüchterne, distanzierte und
neutrale Weise betrachten und zu beiden Seiten gleichermaßen eine
Beziehung haben können. Somit stehen sie der amerikanischen Position
extrem kritisch gegenüber, denn diese unterstützt Sharon und die
israelische Regierung."
"Der Disput mit Europa", erklärt Kney-Tal,
"verschlimmerte sich gemeinsam mit der ausartenden Krise mit den
Palästinensern... Für uns wurde es klar, dass das rationale Rahmenwerk
der Verhandlungen, das im Osloprozess konstruiert worden war und das für
beide Seiten einen allmählichen Fortschritt bezüglich zweier Staaten für
zwei Völker darstellte, schiefgegangen war und kollabierte. Die Europäer
sehen dies anders."
Die EU weigerte sich und weigert sich immer noch,
irgendeine Rolle in einem Prozess zu spielen, der zu einem Kollaps auf
palästinensischer Seite führt. Die EU glaubt, dass solch ein Prozess den
diplomatischen Prozess lähmen und eine Situation des absoluten Terrors
und der Anarchie schaffen würde.
"Solch ein chaotischer Zustand ist genau das Gegenteil
von dem, was Europa derzeit möchte", sagt Kney-Tal. "Europa nimmt an,
dass die Palästinenser, wenn es ihr Wille ist, am Ende einen Staat haben
werden, und dann wird Europa daran beteiligt sein, diese Nation
aufzubauen. Da die Palästinenser solch eine Rolle innehaben, muss die PA
also unter allen Umständen erhalten bleiben. Über Jahre hinweg
verhielten sich die Europäer gegenüber unseren Appellen, die nach
Reformen in der PA riefen, und gegenüber unseren Behauptungen, dass
Hetze zu Angriffen führt und das die EU-Unterstützung Arafat erlaubt,
den Terror zu finanzieren, teilnahmslos. Die Herausforderung besteht für
die Europäer darin, zu beweisen, dass diese, unsere Behauptungen
unbegründet sind und dass wir solche Vorwürfe im Grunde auf
manipulierende Art benutzen, um sie zu zwingen, ihre finanzielle
Unterstützung zu beenden und der PA den Rücken zuzuwenden."
"Für die Europäer kommt der rationale
Verhandlungsprozess vor allem anderen. Er muss fortgeführt werden,
komme, was da wolle, denn wenn wir erst einmal das Ende des Prozesses
erreicht haben und eine Lösung ausgehandelt wurde, wird eine neue Ära
der Heilung beginnen und dann wird die Zeit reif sein, um sich mit der
Frage der Hetze auseinanderzusetzen. Mit anderen Worten: die Ansicht
Europas ist eine fundamentale; bevor man sich um die Folgen der Probleme
kümmern kann, müssen zunächst die Ursachen behandelt werden. Und so wie
sie es sehen, ist die Besatzung die Ursache des Streites. Sie sagen, wir
sollen die Sache mit der Besatzung erledigen und dann wird eines der
beiden Dinge geschehen: entweder wird Ruhe herrschen oder die Europäer
werden verstehen, dass es keine Ruhe gibt, weil die Palästinenser
weiterführende Ziele haben. Wir Israelis sagen das Gegenteil: Wir können
die Ursachen des Problems erst behandeln, wenn wir uns um die Symptome
gekümmert haben. Diesbezüglich ist der Interpretationsunterschied sehr
groß."
Europa blieb unnachgiebig, erklärt Kney-Tal, selbst
nachdem die Gespräche in Camp David und Taba abgebrochen worden waren.
"Dies war ein rationaler Prozess; die Parteien saßen am
Verhandlungstisch. Dann wurde klar, dass man mit Gesprächen nicht weiter
kam; doch die Europäer weigerten sich, diese Tatsache zu akzeptieren.
Auf gewisse Art befanden sie sich in einer Phase des Leugnens. Zuerst
mussten sie sich mit den Versionen, die sie von Ehud Barak und von
Shlomo Ben-Ami angeboten bekamen, zufrieden geben. Ein Jahr später wurde
vom früheren Clinton-Berater Robert Malley eine gegenteilige Version
dargelegt, die Israels Behauptung widerlegte. Die Franzosen liebten
diese. Malleys Artikel wurden sofort übersetzt und über die Medien
verbreitet. Sie stimmten mit dem Weltbild überein, dass es zwei Seiten
gibt und dass beide Seiten die gleiche Verantwortung für die
Versäumnisse tragen. Wieder einmal reflektierte diese europäische
Meinung eine rationalistische Annäherung an die Konfliktlösung."
So wie Kney-Tal es sieht, helfen diejenigen in Israel,
die sich als Mitglieder des Friedenslagers präsentieren, den Europäern,
an ihrer Weigerung festzuhalten, eine logische Verbindung zwischen der
Hetze, der finanziellen Unterstützung und den Selbstmordanschlägen zu
ziehen. Denn diese Israelis sagen, die Behauptungen, dass Hetze zu
Terror führt, stammen von den politisch Rechten, die die PA stürzen
wollen. Die EU betrachtet das Friedenslager als potentiellen Partner für
die Fortführung des Dialogs mit den Palästinensern, sagt Kney-Tal.
Änderung der Einstellung
Nach den Angriffen am 11. September auf amerikanische
Ziele und dem steilen Anstieg in der Zahl der Selbstmordanschläge in
Israel hat sich der Ton und die Annäherung der EU im letzten Jahr
geändert. "Es gibt bezüglich der Position der EU einen gewissen
Fortschritt", sagt Kney-Tal. "Nun sprechen sie ausdrücklich über
Aktionen gegen den palästinensischen Terror... Die Europäer sind
ausgewogener und drücken sogar Solidarität mit Israel aus. Die Liste der
Terrororganisationen, die von der EU als illegal betrachtet werden, ist
gewachsen und beinhaltet nun sogar den militärischen Flügel der Hamas
und den Islamischen Jihad. Kürzlich wurden acht palästinensische und
arabische Organisationen hinzugefügt, darunter auch die
Al-Aqsa-Märtyrer-Brigade. Um das Gleichgewicht zu halten, fügten sie
natürlich auch die jüdischen Gruppen Kahane Chai und Kach hinzu. Sie
haben auch die Bedingungen für Geldüberweisungen und die Kontrolle der
Gelder verschärft."
Kney-Tal ist besorgt über eine neue Generation von
westeuropäischen Führern, die mit der palästinensisch-arabischen
Schilderung der Dinge aufgewachsen sind. "Diese Schilderung, die durch
Israelis oder frühere israelische Forscher gestützt wird, hat beinahe
das gesamte akademische und politische Diskussionsfeld und die
Mediendiskussion über diese Themen eingenommen", sagt er. "Sie passt zum
populären Weltbild der heutigen Europäer, das pazifistisch und
postmodern ist, voller Schuldgefühle gegenüber den früheren Kolonien und
voller Sympathie für unterdrückte Nationen, die ihre Selbstbestimmung
fordern. Sie dient sowohl Wahlinteressen wie auch den traditionellen
Interessen der Realpolitik, die den größten Teil der EU-Politik
einnimmt."
Gleichzeitig fürchtet er, dass es einen schneller
werdenden Prozess der Delegitimisierung Israels gibt. Israel wird
zunehmend als grobes, brutales und rassistisches Land betrachtet, das
auf Bürgerrechten herumtrampelt. Bis jetzt ist diese Ansichtsweise zum
größten Teil zwar nur in intellektuellen Kreisen vorhanden, doch der
Trend nimmt zu.
"Ich bin besorgt über die Tatsache, dass Israel und
Europa es nicht geschafft haben, ein Rahmenwerk zu gestalten, das den
jüdisch-christlichen Dialog ermöglicht und erleichtert", sagt Kney-Tal.
"Die Europäer bauen Rahmenwerke für tiefgehende Diskussionen, jedoch nur
mit denjenigen Israelis, deren Sichtweise der ihren weitgehend ähnlich
ist, also mit den Israelis, die die Linie der EU rechtfertigen und der
Position der EU dadurch moralische Gültigkeit verleihen. Die Europäer
verstehen weder Israels Realität noch Israels reiche, kulturelle
Vielfalt."
"Das zweite Problem besteht in einer Abwesenheit des
intellektuellen Dialogs. Akademiker in Israel halten den Mund und ich
bin besorgt darüber, dass die intellektuelle Elite in Israel noch nicht
kapiert hat, dass sie mit allen anderen im gleichen Boot sitzt: sollte
Israel von den Wellen verschlungen werden, wird diese Elite ebenfalls
untergehen. Ich bin vollkommen irritiert darüber, dass einige Akademiker
in Israel eine europäische Petition unterschrieben haben, die nach der
Trennung von wissenschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen
Europa und Israel ruft."
So wie Kney-Tal es sieht, hat Israel keine andere Wahl,
als "Europa in einen ernsthaften und aufrichtigen Dialog zu ziehen,
einer, der nicht nur die fortdauernden Ereignisse behandelt, sondern
auch in tiefergehende Ebenen vordringt. Denn dieser fehlt tatsächlich.
Unsere Beziehungen zu Europa sind asymmetrisch, weil wir im Gegensatz zu
Europa ein kleines Land sind. Diese Asymmetrie muss in eine andere Art
der Kooperation als die, die wir bisher hatten, umgesetzt werden. Wir
müssen damit beginnen; wir müssen die Botschaften deutlicher anbringen
und Verständnis erlangen, das auf gemeinsamen Interessen in der
Sicherheit und in der Demokratie basiert."
hagalil.com
27-08-02 |
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