Aus den Annalen des alten Europa:
Der letzte Gallier
DER gegenwärtige Dissens zwischen Frankreich und den USA in Fragen der Außen-
und Sicherheitspolitik hat eine lange Vorgeschichte. Schon in den
Fünfzigerjahren bestand de Gaulle gegenüber den USA auf Frankreichs eigenen
außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Die Geister schieden sich
unter anderem an der Politik gegenüber dem Ostblock und China, wobei De
Gaulle schon sehr früh auf Entspannung setzte. Damals führten die
Divergenzen immerhin bis zum Austritt Frankreichs aus dem atlantischen
Verteidigungsbündnis im Jahr 1966.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE
Journalist, Autor von "De Gaulle", Paris (Perrin) 2002.
Die Irakkrise hat Spannungen zwischen Frankreich und den USA hervorgerufen,
die sicher nicht so schnell vergessen oder gar überwunden sein werden. Ist
dies der Beginn einer neuen Phase der Entfremdung zwischen den beiden
Ländern? Um die Tragweite der Divergenzen zu ermessen, muss man sie in die
Reihe früherer bilateraler Differenzen einordnen, die es seit den Anfängen
der Fünften Republik immer wieder gab.
Als General de Gaulle 1958 das Präsidentenamt wieder übernahm, legte er seine
Sicht der Weltlage und der sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen
für Frankreich dar. In seinen Augen war die Sowjetunion nicht willens -
womöglich auch nicht mehr imstande -, ihren Machtbereich weiter nach
Westeuropa auszudehnen. Sie hatte sich überdies mit China als neuem Rivalen
auseinander zu setzen. "Wer nicht Krieg führt, muss früher oder später
Frieden schließen", folgerte de Gaulle. Da sich die beiden Großmächte
angesichts des atomaren Gleichgewichts eine direkte Konfrontation nicht mehr
erlauben konnten, verloren die US-Atomwaffen ihre Funktion als Schutzschild
für Europa. Um politisch handlungsfähig zu bleiben, sollte Frankreich sich
deshalb aus dem atlantischen Verteidigungsbündnis zurückziehen und
versuchen, den Ländern des "Ostblocks" im Geiste von "Entspannung,
Verständigung und Zusammenarbeit" gegenüberzutreten. Zugleich wollte de
Gaulle ein eigenes System der nuklearen Abschreckung aufbauen.
Diese Politik führte zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten mit den USA. Bei
einer Zusammenkunft mit de Gaulle am 5. Juli 1958 zeichnete der
amerikanische AM John Foster Dulles ein ganz anderes Bild. Er sah die
Sowjetunion weiterhin als größte Bedrohung für Europa, aber auch für den
Nahen Osten, Afrika und Asien, und hielt eine politische und militärische
Stärkung des atlantischen Bündnisses und den Aufbau eines regionalen
Verteidigungssystems für unerlässlich. Sein Vorschlag: Die europäischen
Länder sollten der Stationierung von Mittelstreckenraketen und taktischen
Atomwaffen auf ihrem Territorium zustimmen.
De Gaulle trat diesen Vorstellungen in allen Punkten entgegen. Für ihn war die
Politik der Sowjetunion vor allem durch nationale, wenn nicht
nationalistische Erwägungen bestimmt. Den Kommunismus benutze sie dabei nur
zu Legitimation - "so wie Sie den Kongress", erklärte er seinem
Gesprächspartner ohne Umschweife. Nur wenn Frankreich uneingeschränkt über
sie verfügen könne - was für die USA natürlich nicht in Frage kam -, wolle
de Gaulle US-amerikanische Atomwaffen auf französischem Boden dulden. Als
das Gespräch auf die Krise im Libanon kam - die USA schickten bald darauf
ein Expeditionskorps nach Beirut - mahnte er, der Nahe Osten dürfe nicht zu
einem neuen Schauplatz des Kalten Krieges werden und man müsse die
Unabhängigkeit der Staaten in der Region unbedingt stärken.
Obwohl für die französische Politik damals der Algerienkrieg im Vordergrund
stand, machte General de Gaulle rasch deutlich, welchen Kurs er
einzuschlagen gedachte. Zu seinen ersten Entscheidungen gehörte die
Weigerung, Mittelstreckenraketen in Frankreich stationieren zu lassen.
Immerhin wandte er sich brieflich an Präsident Eisenhower und regte in einem
Memorandum an, dass alle internationalen Probleme im Rahmen einer ständigen
Abstimmung zwischen den USA, Frankreich und England behandelt werden sollten
- einschließlich Fragen der atomaren Bewaffnung. Er machte sich allerdings
keine Illusionen über die Reaktion der USA: "Sie werden nicht zustimmen",
sagte er zu General Pierre-Marie Gallois, der das Memorandum in Washington
übergeben sollte. Und er behielt Recht.
De Gaulle unterhielt gute Beziehungen zu Präsident Eisenhower, der ihm seine
klare Haltung in der Berlinkrise ebenso hoch anrechnete wie den Entschluss,
Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Er unterstützte auch dessen
Nachfolger John F. Kennedy in seiner Reaktion auf die Stationierung
sowjetischer Raketen auf Kuba, obwohl sich Frankreich unter keinen Umständen
an einem amerikanischen Embargo gegen Kuba beteiligen sollte. Bei alledem
verlor de Gaulle aber die wichtigste logische Konsequenz seiner Außenpolitik
nie aus dem Blick: den Rückzug Frankreichs aus der Nato und ihren
gemeinsamen Kommandostrukturen. Am 7. März 1966 wurde dieser Schritt
vollzogen.
Von da an hielt Paris in allen Bereichen der Politik eine eigenständige Linie
bei. Etwa im Verhältnis zu Ländern der "Dritten Welt": Mit Algerien, später
mit dem Iran und dem Irak, etablierte Frankreich eine neue Form von
Beziehungen zwischen einer Industrienation und einem relativ
unterentwickelten, aber rohstoffreichen Land. In Laos und Kambodscha
unterstützte man Regierungen, die ihre Unabhängigkeit und Neutralität
gegenüber den USA verteidigten und zugleich bemüht waren, eigene Bündnisse
gegen Nordvietnam und die Anfänge der Untergrundbewegung in Südvietnam
zustande zu bringen.
Wichtigster Schritt dieser Politik war 1964 die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Frankreich und China, ein Ziel, das de Gaulle seit dem
Beginn seiner neuen Amtszeit verfolgt hatte. Die USA reagierten darauf
äußerst verstimmt. Mit dem Vietnamkrieg wurden die außenpolitischen
Vorstellungen vollends unvereinbar: Für die USA handelte es sich um einen
Kampf an einer entscheidenden Front im Ost-West-Konflikt, Frankreich
verurteilte diesen Krieg und setzte auf Dialog und Einigung mit den
"wirklichen Kräften", namentlich dem "nationalen Widerstand" - ganz gleich,
welches Regime damit zunächst an die Macht gelangen würde (so de Gaulle bei
seiner Rede in Phnom Penh 1965).
Diese Position machte sich auch in der Lateinamerikapolitik geltend: Auf einer
Reise durch mehrere lateinamerikanische Länder gab de Gaulle die viel
beachtete Erklärung ab, eine Ablehnung der nordamerikanischen Hegemonie
müsse nicht gleich den Anschluss an den Ostblock bedeuten - schließlich sei
überall in der Welt auch eine unabhängige und eigenständige Position
möglich. In dem heftigen und öffentlichen Einspruch gegen die Intervention
der USA in der Dominikanischen Republik 1966 kam diese Ansicht deutlich zum
Tragen. Präsident Lyndon B. Johnson hatte zuvor Truppen zur Absicherung der
Diktatur auf Haiti entsandt.
Auch de Gaulles berühmtes "Vive le Québec libre!" bei seinem Kanadabesuch 1967
konnte nur als Kampfansage an die angelsächsische Vorherrschaft auf dem
amerikanischen Kontinent verstanden werden. Im Nahen Osten pflegte er enge
Beziehungen zu Israels Ministerpräsident Ben Gurion, warnte aber vor
politischen Schritten, die von den arabischen Völkern als Demütigung
aufgefasst werden und damit den Ausgleich zwischen ihnen und Israel
gefährden könnten. Den israelischen Präventivschlag vom 6. Juni 1967
verurteilte er in klaren Worten.(1)
Mister Goldfinger
DE GAULLE übte außerdem scharfe Kritik am internationalen Finanzsystem, das den
Dollar zur internationalen Reservewährung machte und die USA damit nicht nur
von den üblichen Regeln im Umgang mit Staatsverschuldung entband, sondern
ihnen überdies eine enorme Einfluss auf die Finanzmärkte verschaffte. In der
US-Presse verglich man den französischen Staatspräsidenten daraufhin mit
"Mister Goldfinger" aus dem gleichnamigen James-Bond-Film - als habe er es
auf den Goldschatz in Fort Knox abgesehen.
Dieser politische Kurs musste in der Endphase des Kalten Krieges 1981 erstmals
korrigiert werden. Damals war bereits François Mitterrand im Amt: Auf dem
Gipfeltreffen der reichsten Länder in Ottawa, auf denen sämtliche
politischen, wirtschaftlichen und strategischen Problemfelder behandelt
wurden, entstand eine neue Allianz unter Führung der Vereinigten Staaten.
Einen weiteren Wendepunkt bedeutete der Zerfall der Sowjetunion nach 1991, die
nicht etwa zu Überlegungen führte, ob das von den Vereinigten Staaten
dominierte atlantische Verteidigungsbündnis weiterhin sinnvoll sei - im
Gegenteil: Die Nato dehnte ihre Zuständigkeit weit über den im
Gründungsvertrag festgelegten Bereich aus und nahm auch noch neue Mitglieder
auf.
Frankreich machte gute Miene zu diesem Spiel. Nachdem es Mitterrand nicht
gelungen war, die anderen Staaten zur Einrichtung eines europäischen
Verteidigungssystems außerhalb der Nato zu bewegen, versuchte Jacques
Chirac, dieses Konzept durch Eingliederung in den Nordatlantikpakt zu
retten. Das im Juni 1996 in Berlin geschlossene Abkommen sah jedoch vor,
dass der Einsatz der europäischen Streitkräfte nur mit Zustimmung des
Nato-Oberkommandos und im Rahmen der militärischen Infrastruktur des
Bündnisses erfolgen dürfe - also nur mit Duldung der USA.
In der deutsch-französischen Erklärung vom 9. Dezember 1996 wurde der
dauerhafte Charakter der transatlantischen Verpflichtungen beschworen. Und
nachdem Frankreich bereits in den Militärausschuss und den Rat der
Verteidigungsminister der Nato zurückgekehrt war, machte Chirac das Angebot,
sein Land auch in die militärische Befehlsstruktur einzugliedern - unter
einer Bedingung: Die Zuständigkeit für die "Südflanke" der Nato sollte einem
der europäischen Mittelmeeranrainerstaaten übertragen werden. Die USA
lehnten den Vorschlag ab.
Dann wurde das Bündnis in Jugoslawien auf die Probe gestellt. Weil die
einzelnen europäischen Staaten nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten sahen,
vor allem aber, weil sie sich nicht einig waren und unterschiedliche
Vorbehalte hatten, kam die Nato ins Spiel. Die Vereinten Nationen segneten
das Eingreifen ab, indem sie die Verteidigungsorganisation zu ihrem
"bewaffneten Arm" im Jugoslawienkonflikt erklärten. Im Kosovokrieg zeigte
sich aber, wohin die Entwicklung geführt hatte: Die USA beschlossen, die UNO
zu ignorieren und die Nato-Truppen, einschließlich der französischen
Kontingente, zum ausführenden Organ ihrer Intervention zu machen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges schien es den USA geboten, den
Zuständigkeitsbereich der Nato zu erweitern und jene osteuropäischen Staaten
in das Bündnis aufzunehmen, die glaubten, sich unter US-amerikanischen
Schutz stellen zu müssen. Frankreich sperrte sich nicht dagegen - und musste
an der Entwicklung im Nahen Osten und den diesbezüglichen
Meinungsverschiedenheiten mit den USA erleben, wie wenig diese Fügsamkeit
belohnt wurde. Eine Krise in den bilateralen Beziehungen war unausweichlich.
Sie hat sich aus dem allzu langen Stillhalten gegenüber einseitigen
Entscheidungen ergeben - und könnte Frankreich am Ende womöglich zu einer
Neubestimmung seiner transatlantischen Beziehungen führen.
deutsch von Edgar Peinelt
Fußnote:
(1) De Gaulle machte damals die umstrittene Bemerkung, die Juden seien "ein
selbstgewisses und herrisches Volk". Mit erstaunlicher Voraussicht stellte
er aber auch fest, Israel sei im Begriff, "in den eroberten Gebieten ein
Besatzungsregime einzurichten, das ohne Unterdrückung, Zwangsmaßnahmen und
Vertreibung nicht auskommen kann; dort entwickelt sich ein Widerstand, den
Israel als Terrorismus begreift".
Le Monde diplomatique Nr. 7004 vom 14.3.2003, 286 Zeilen, PAUL-MARIE DE LA
GORCE
hagalil.com
30-10-2003 |