Daniel Cohn-Bendit warnt:
Konkrete Gefahr für die Juden Europas
Aus einem Gespräch mit Eran Tiefenbrunn,
Jedioth achronoth
"Seit dem 11. September
haben sich die Antisemiten geoutet"
Einer der Führer der liberalen Partei
Deutschlands äußerte einen Satz, der an Äußerungen aus besonders
düsteren Zeiten erinnerte: "Die Juden sind die wahren Schuldtragenden am
Antisemitismus". Daniel Cohn-Bendit, einer der angesehensten Politiker
Europas, war schockiert. "Europa setzt sich aus nationalen Staaten
zusammen und ist sich der Tatsache bewusst, dass jedes Volk das Recht
auf Selbstbestimmung hat. Die derzeitige Regierung Israels betreibt eine
Politik, die weniger Existenz und weniger Sicherheit für ihre Bürger
herstellt".
"Wer ist schuld an Antisemitismus?
Natürlich die Juden." Dieses Motto, ein Brauch des "weichen", latenten
und sozusagen legitimen Antisemitismus, war im 19. und 20. Jahrhundert
in aller Munde. Nach dem Holocaust ist es verschwunden, und jetzt, zum
ersten Mal seit vielen Jahren, tauchte es wieder auf. Das muss Daniel
Cohn-Bendit zu seiner großen Besorgnis feststellen.
Cohn-Bendit, der "Rote Dani" der
Studentenunruhen von 1968, ist heute einer der angesehensten Politiker
in der EU. Der rothaarige Anarchist, der zu einem gemäßigten "Grünen"
wurde, einem Mitglied im europäischen Parlament, einem gefragten
Dozenten, ist eine Führungspersönlichkeit, dessen Meinung auch von
rechten Rivalen geschätzt wird. Keiner kann so exakte Röntgenaufnahmen
der Rechten abgeben wie er.
Er ist am Tag vor der Kapitulation
Deutschlands geboren, als Sohn jüdischer Eltern, die die Hölle überlebt
und sich im Norden Frankreichs niedergelassen haben. Er selbst ist in
französisch und deutsch aufgewachsen: Er lernte an einer deutschen
Schule und einer französischen Universität. Er kennt die Mentalität der
beiden führenden Gesellschaften der EU ganz genau und fühlt sich sowohl
als Deutscher als auch als Franzose.
Diese Woche hatte er das Gefühl - etwas,
das ihm alle paar Monate passiert- dass er unbedingt eine Warnung an die
Israelis aussprechen muss. Manchmal ist es Kritik an der Politik in den
Gebieten, jetzt handelt es sich um die konkrete Gefahr, die er für die
Juden erkennt. Und diese Gefahr liegt im Antisemitismus.
Das Ereignis, das ihn erschütterte,
geschah vor Kurzem in Deutschland. Es handelte sich nicht wieder um eine
Friedhofsschändung, auch nicht um ein Hakenkreuz an einer Synagoge.
Nein, es war ein innenpolitisches Ereignis in Deutschland. Ein hohes
Mitglied der FDP, der gebürtige Syrer Jamal Karsli, verglich die
Aktionen Israels in den Gebieten mit den Nazis. Michel Friedmann, der
Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, protestierte
gegen den Vergleich. Als Reaktion machte der stellvertretende
Vorsitzende dieser wichtigen Partei seinen Mund auf und sagte:
"Friedmann schürt mit seinen arroganten Äußerungen den Antisemitismus.
Er und seinesgleichen sind für seine Existenz verantwortlich".
Ist Europa also wieder antisemitisch?
"Europa selbst ist nicht antisemitisch,
aber es entstehen wieder, vor allem nach dem 11. September, Strömungen
gegen Juden. Sie erscheinen gleichzeitig mit der Kritik an der Politik
der israelischen Regierung in den Gebieten. Aber man sollte sich nicht
täuschen lassen: Es gibt Freunde, die Kritik üben, und es ist ihr Recht,
wenn nicht sogar ihre Pflicht, das zu tun, und es gibt Antisemiten."
Wie differenziert man zwischen ihnen?
"Vor allem liegt es am Ton, auch am Text.
Wenn man einen Satz hört wie ‘Endlich zeigen die Juden ihr wahres
Gesicht, ihre Schamlosigkeit und wie sie sich anderen gegenüber
benehmen’, dann ist das ein Satz, der schon lange im Magen gelegen ist.
Ein Satz, wie er jahrelang nicht öffentlich geäußert werden durfte.
Jetzt kann jeder sagen was er will."
Ist der Antisemitismus von den
Randgruppen ins Zentrum der Gesellschaft gerückt, in den
bürgerlich-liberalen Teil?
"In Frankreich weniger. Dort kommt der
Zorn vor allem von den Immigranten aus Nordafrika, die sich gedemütigt
fühlen und sich mit den Palästinensern identifizieren. Sie lassen ihre
Wut an den Juden aus. Das ist kein Antisemitismus. Das ist die Wut
derjenigen, die sich als die Palästinenser Europas betrachten. Es gibt
jedoch auch echte Antisemiten, die lassen sich heute eher in Deutschland
finden, wo sie politisch geschlossener sind als in anderen Ländern. Das
wird bei dem Fall von Karsli und Möllemann besonders deutlich, der uns
wieder einmal an Stimmen aus der Vergangenheit erinnert, aus der
Weimarer Republik: ‘Die Juden sind die wahren Schuldigen am
Antisemitismus’. Nun gut, vielleicht ist Karsli dumm, aber die Tatsache,
dass Möllemann Antisemitismus eingesetzt hat, ist furchtbar. Wie kann es
sein, dass sich ein derart wichtiger Politiker in einer solchen Form
äußert, dass er mit potentiellem Antisemitismus spielt und in seinem Amt
bleiben kann?"
Gibt es in Europa eine Rechte und eine
Mitte, die aus solchen Äußerungen politisch profitieren können?
"Sie haben enormes Potential: Ein Viertel
bis zu einem Drittel der Wähler sind Judenhasser oder Araberhasser. Bis
heute hat Deutschland einen moralischen Schrank gebaut, in dem es sich
versteckt, sich geschützt hat. Einen Schrank, der das Land und die
großen Parteien vor dem Spiel mit diesem Potential schützte. Das ist
jetzt vorbei."
Viele in Israel sind der Meinung, dass
jetzt, wie vor Jahrzehnten, um die Existenz gekämpft wird, nicht um die
Gebiete. Ein großer Teil der öffentliche Meinung in den USA akzeptiert
diese Haltung. Warum ist Europa nicht bereit, sie zu akzeptieren?
"Weil sich Europa aus nationalen Staaten
zusammensetzt und sich der Tatsache bewußt ist, dass jedes Volk Recht
auf Selbstbestimmung und Selbstkontrolle hat. Ich glaube, dass viele in
Europa verstehen, dass die israelische Regierung Existenz und Sicherheit
gewährleisten will, jedoch eine Politik betreibt, die weniger Existenz
und Sicherheit für die Israelis schafft. Sie glauben den Europäern
nicht, aber bei vielen von ihnen besteht ein Konsensus darüber, dass ein
Palästinenserstaat erst dann entstehen wird, wenn sich die Israelis
wieder sicher fühlen. Viele von uns glauben, dass Sie den Palästinensern
erklären müssen: ‘Sie haben das Recht zu demonstrieren, jedoch nicht mit
Terror und Gewalt, die unser Gefühl der Sicherheit erschüttern’. Sie
müssen verstehen, dass die Demonstration von Stärke keine Sicherheit
garantieren kann, und die Palästinenser müssen verstehen, dass Terror zu
nichts führt. Die Palästinenser müssen wissen, dass es kein
Rückkehrrecht geben wird, und Sie, dass es keine Lösung geben wird,
solange es die Siedlungen gibt."
Viele in der israelischen Linken, auch
Ihre Freunde, sind aus der Illusion des Friedens erwacht. Was würden Sie
tun, wenn Sie Israeli wären?
"Man kann gleichzeitig ein Linker und ein
Patriot sein. Die israelische Linke muss den Palästinensern klar machen:
‘Wenn Sie auf Gewalt verzichten, wird Sie das nur stärken. Sobald Sie
von Anschlägen und Terror absehen, werden Sie sich einer enormen
Unterstützung seitens der Bürger Israels erfreuen können und einen Staat
erhalten’."
Eine kleine Minderheit der
IDF-Soldaten weigert sich, in den Gebieten zu dienen. Was ist die Grenze
des Gehorsams in einem demokratischen Staat, und wird mit dem Dienst in
den Gebieten diese Grenze überschritten?
"Ich kann diejenigen, die dort nicht
dienen wollen, verstehen. Ich bin nicht sicher, ob ich mich wie sie
verhalten würde, aber die Erscheinung stellt keine Gefahr für die
Demokratie dar, sondern hat sie hingegen gestärkt. Ein Staat muss das
Recht der Verweigerung anerkennen, auch wenn die Verweigerung nicht
immer gerechtfertigt ist."
Seit dem 11. September fragen sich
viele, wie es sein kann, dass sich in keinem moslemischen Staat, mit
Ausnahme der Türkei, eine Demokratie westlichen Stils entwickeln konnte.
Gibt es etwas in der arabisch-moslemischen Kultur, das eine solche
Entwicklung verhindert?
"Die Grundlage der Demokratie ist
Säkularismus. Ohne eine säkulare Gesellschaft, ohne eine Trennung der
Religion vom Staat hätte nirgends eine Demokratie entstehen können. Die
arabischen Gesellschaften, aber auch ein wichtiger Teil in der
israelischen Gesellschaft, sind nicht bereit Säkularismus zu übernehmen.
Warum? Unter anderem wegen der Armut. Bekämpfen Sie Armut, und Sie
erhalten eine säkulare Gesellschaft, und sie wird zu Demokratie führen.
Nichts ist genetisch."
Sind Sie der Meinung, dass wir uns
immer weiter von einem Friedensabkommen entfernen?
"Ich glaube, dass dies ein sehr langer
Prozess sein wird. Für einen kurzen historischen Moment haben Sie sich
diesem Frieden genähert, und er wurde durch drei Schüsse beendet, die
auf den Mann abgefeuert wurden, der ganz alleine den Frieden auf seinem
Rücken getragen hat, Jizhak Rabin. Jetzt müssen Sie mit dem, was Sie
haben, den Frieden erreichen- Sharon und Arafat. Sie fragen sicher, ob
man mit Arafat einen Frieden erzielen kann. Er ist der Gewählte, was
kann man da machen, Ihr Armen. Wenn es doch nur eine Alternative gäbe.
Aber für eine Alternative braucht man Wahlen, und dafür müssen Sie sie
in Ruhe lassen, damit sie sich um ihre Dinge kümmern und die Person
wählen können, die ihre Zukunft sicherstellt. Lasst sie in Ruhe, und sie
werden dann sicherlich ihre Wahl treffen."
haGalil onLine 04-06-2002 |