Irak-Politik:
Plädoyer gegen europäische Überheblichkeit
Von Fritz W. Peter
Amerikas "normative Autorität liegt in Trümmern" (FAZ,
17.4.03),
urteilte Jürgen Habermas, als die
US-Truppen gegen Saddam vorgerückt waren. Was Recht ist, war in
weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit
schnell ausgemacht, und wer gegen
internationales Recht verstoße, der stelle sich außerhalb und gegen
die Völker- und Wertegemeinschaft – so der moralische
Vorwurf, der viele
Menschen in Gegnerschaft zur Bush-Regierung einte und den
Regierungen in Berlin und Paris als erklärten Widersachern
einer entschlossenen US-Politik
erhebliche Popularität verschaffte. In Deutschland ließ sich –
mit dem Gestus der politischen Moral – sogar eine Wahl
zu gewinnen,
die doch eigentlich
angesichts der
gesamtwirtschaftlichen Situation des Landes vorrangig unter Rekurs
auf wirtschafts- und reformpolitische
Themen hätte entschieden werden müssen.
Habermas
sprach in seinem Aufruf
"Unsere Erneuerung – Die Wiedergeburt Europas",
veröffentlicht am 31.5.03
in der Frankf.
Allgem.
Zeitung, mit
viel Pathos (und einem
kollektivistischen Zungenschlag) von den
"demonstrierenden Massen
[ ! ]
in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und
Paris [...]. Die Gleichzeitigkeit dieser überwältigenden
Demonstration [...] könnte rückblickend als Signal für die Geburt
einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen."
Jürgen Habermas wird
bewusst geworden sein, dass der verbale Donner seines Aufrufs eher
akustische als praktische Wirkung zu entfalteten vermochte.
Ausgerufen wird hier die "Geburt" oder "Wiedergeburt" oder das
Projekt eines moralisch verpflichteten
Kontinents
– ein freilich hoher
Anspruch! In moralischer Pose präsentierten sich besonders
die
Regierungen in
Berlin und Paris, wobei nicht
ganz eindeutig ist, welche
der beiden die jeweils andere mehr
oder eher zur Frontstellung gegen
Washington animierte. [vgl. u.a. Herbert Kremp:
"Die wahren Antreiber (...) waren
die Deutschen."
"Auf dem Abstellgleis",
in: Welt am Sonntag, 27.4.03]
Gegen eine moralisch ambitionierte Politik wird grundsätzlich nichts
einzuwenden sein,
doch was qualifiziert einzelne europäische Regierungen, als
Instanzen der politischen Moral und der Vertrauenswürdigkeit
aufzutreten?
Wie ist die Wirklichkeit der Außenbilanz ihrer Politik der
vergangenen Jahre und zum gegenwärtigen Zeitpunkt?
Profane Aspekte der Irak-Politik
Der Irak-Strategie der Bush-Regierung wird
unterstellt, dass sie von hegemonialen und Wirtschaftsinteressen
(Öl- und Rüstungslobby) bestimmt werde. Waffen- und Ölgeschäfte
diktierten aber auch
die Beziehungen einiger europäischer Länder
mit dem Irak. Am meisten galt dies für Frankreich (vgl.
die nachfolgenden Ausführungen unter
"Beispiel Frankreich").
Informierten Beobachtern wird damit nichts
Neues mitgeteilt, der kursorische Leser erfährt es jetzt aber
sogar auf der
Nachrichten-Frontseite der t-online-Website (www.t-online.de,
7.10.04). Unter der Überschrift
"Bestechung mit Öl-Gutscheinen?"
wird aus dem Bericht des US-Waffeninspekteurs Charles Duelfer,
veröffentlicht am 6.10.04, resümiert. Im Nachrichten-üblichen
Wiedergabe-Stil heißt es:
"Die irakische Regierung unter Ex-Diktator Saddam Hussein soll
Politiker vor allem aus Frankreich
und Russland bestochen [sowie unerlaubte Ölgeschäfte mit diesen
Ländern abgewickelt] haben, um die gegen das Land verhängten
UN-Sanktionen zu unterlaufen [... und
] weil Frankreich und Russland über einen ständigen Sitz im
UN-Sicherheitsrat verfügen. Als Quelle für den schwerwiegenden
Vorwurf wird der frühere Saddam-Vize und Außenminister Tarek Asis
genannt [der die Geschäfte persönlich zu
überwachen hatte].
Asis habe gesagt, dass: ‚beide Seiten wussten,
dass [die erlangten Vorteile ...
erwidert werden sollten]
durch Anstrengungen, die
UN-Sanktionen aufzuheben oder durch Widerstand gegen amerikanische
Initiativen im Sicherheitsrat.’"
Der t-online-Darstellung
ist jedoch aufgrund des Telegrammstils dieser Nachrichtenmeldung
nicht zu entnehmen, ob nur dubiose Transaktionen und persönliche
Verfehlungen oder auch
gezielte, systematische
politische
Weichenstellungen etwa auf französischer oder russischer Seite
stattgefunden
haben – die dann wohl wenig mit staatspolitischer Moral,
aber viel mit einträglichen Geschäften um
Öl-Dollars, käuflichem politischen Einfluss und ungeniertem Gebrauch
der Macht zu tun hätten.
Banale, aber wertvolle EinsichtBei
kritischer Einstellung fällt es schwer, Europas politische
Außenbilanz im Vergleich zur amerikanischen auch nur graduell als
die moralisch unbedenklichere anzusehen – ob man nun als
Vergleichszeitraum die letzten 5 Jahre, 50 oder 150 Jahre nimmt.
Selbst für die jüngste Zeit dürfte dies schwer fallen; denn – um es
nur mit einigen Fragen anzudeuten – wie stünde es um den Balkan
jetzt, wenn nicht unter Führung US-amerikanischer Streitkräfte dort
eingegriffen worden wäre; oder wie stünde es um die Bereitschaft der
Sudanesischen Regierung, das Morden in Darfur – jedenfalls in
der bisherigen ungehemmten Form – einzuschränken, wenn nur die UNO
"eingegriffen" hätte (vgl. das Fallbeispiel Ruanda – mit
800.000 Toten in wenigen Monaten wegen Nicht-Handelns) oder nur die
Europäer Einspruch eingelegt hätten?
Um noch ein drittes Beispiel zu nennen: Wie hätte
es je zu landesweiten Wahlen in Afghanistan (international
überwachten Wahlen, mit guter Beteiligung) kommen können, wenn nicht
zuvor durch amerikanisches Eingreifen ein Schlussstrich unter das
Steinzeit-Regime der Taliban gesetzt worden wäre?
[Anmerkung: Dass Schröder noch vor Auszählung der
Stimmen Präsident Karsai plumpen Zuspruch gab, war freilich dem
Wahlverlauf in seiner symbolischen Bedeutung für das Land
abträglich. "Ich bin der Auffassung, dass er es schaffen wird –
und zwar in der ersten Runde." Schröders Kommentar verletzte
nicht nur grundlegende Spielregeln, sondern platzte auch in die
angestrengten Bemühungen der Wahlkampfleitung und ihrer Helfer, der
Infragestellung der Wahl durch die Herausforderer Karsais die
Grundlage zu nehmen. Unregelmäßigkeiten im Wahlverlauf hatten einen
Proteststurm ausgelöst und gefährdeten den Vorgang unmittelbar. So
musste alles daran gesetzt werden, dem drohenden
Ansehensverlust bzgl. der Aussagekraft und Ernsthaftigkeit
der Wahlen entgegen zu treten. Das Verhalten Schröders bewirkte das
Gegenteil.]
Moral oder Doppelmoral?
Europa tritt gern als
Mahner,
aber weniger als
Macher
hervor,
und dort wo es handelnd involviert ist,
wird man nicht selten von einer gemischten und
z.T.
kümmerlichen Bilanz sprechen müssen, die eher
nicht
dazu berechtigt, den moralischen Zeigefinger gegen andere zu heben.
Auch gerade in Bezug
auf die Länder des arabischen Gürtels war die "Induktionsleistung"
Europas für sowohl die soziale Entwicklung als auch die politische
Kultur gering. Grund dafür war u.a.
das "doppelte Spiel" in den Beziehungen mit diesen Ländern.
So waren die dorthin ausgesandten Botschaften oft eher
zweideutig.
In ihren Erklärungen drängten die Europäer die arabische Welt,
politische
Lösungen anzustreben
(z.B.
eine
"Friedenslösung"
mit
Israel zu suchen und zu akzeptieren) und politischen bzw.
bürgerlichen
Grundrechten
mehr Geltung
zu verschaffen (sowie
dafür die wirtschaftlichen
bzw.
sozialen Voraussetzungen zu schaffen). Doch wie konsequent,
substanziell und verlässlich war diese Haltung? Oft
(oder sogar regelmäßig)
diktierten
andere als die genannten Präferenzen das
Handeln –
und gutes Einvernehmen wurde
meist auch dann
erzielt, wenn die begehrten Partner (so die ölreichen, Waffen
importierenden Golfstaaten)
weder friedliche Absichten verfolgten (s. vorheriges Stichwort
"politische Lösungen"),
noch demokratische Legitimität besaßen oder auch nur anstrebten (s.
vorheriges Stichwort
"Grundrechte").
Beispiel Frankreich
Ein eklatantes
Beispiel lieferte Jaques Chirac. Peinlich dürften dem französischen
Präsidenten die Bilder aus den siebziger Jahren sein, als er,
damals Premierminister, seinem Gast Saddam Hussein die Atomanlage in
Cadarache zeigte. Frankreich lieferte anschließend einen kompletten
Atomreaktor, Typ Osiris, mit der der zahlungskräftige irakische
Geschäftspartner, wie leicht absehbar war, nicht nur Strom erzeugen
wollte. Für Israel bedeuteten die in Saddams Händen entstehenden
Möglichkeiten eine Bedrohung der politischen und physischen Existenz
– ein nicht hinnehmbares Risiko. Israelische Bomber zerstörten
den Atommeiler Osirak 1981 vor seiner endgültigen Inbetriebnahme. [Osirak
(Osiraq) war die französische Bezeichnung aus Osiris
und Irak, die irakische Bezeichnung war Tammuz 1
– eine Bezugnahme auf jenen Monat im arabischen Kalender, in
dem sich 1968 die Baath-Partei zur Macht geputscht hatte. Tammuz
war auch eine babylonische Gottheit; als Gott des Ackerbaus
verkörperte er die Lebenskräfte des Frühjahrs.]
Vor den
Israelis hatten bereits iranische "Phantom"-Jäger den Atomreaktor
Tammuz angegriffen. Der Angriff erfolgte gleich zu Beginn des 1.
Golfkriegs (zw. Irak und Iran), Sept.1980, war aber nicht
erfolgreich. In offizieller Stellungnahme äußerte sich die irakische
Nachrichtenagentur dazu wie folgt: "Das iranische Volk sollte den
irakischen Nuklearreaktor nicht fürchten, da keine Absicht besteht,
ihn gegen den Iran zu verwenden, sondern gegen die zionistische
Einheit." Mit anderen Worten, Israel war das Ziel. Nach
überwiegender Auffassung unter Völkerrechtlern war der israelische
Militärschlag dennoch ein Verstoß gegen geltendes Recht (vgl. u.a.
Horst Fischer, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., S. 884/87f.)
Angesichts der Motive und Taten Saddams erscheint der Angriff
andererseits als notwendige, gebotene Gegenwehr und insofern als
berechtigt. Ein Völkerrecht, das einseitig nur die Gefahren
präemptiver militärischer Schläge, nicht jedoch die Gefahren des
Unterlassens derartiger Maßnahmen (extreme Situationen
vorausgesetzt) in den Blick nimmt, verfehlt die Lebenswirklichkeit.
Entsprechende Rechtsauffassungen können kaum als Beitrag zu einer
rationalen Sicherheitspolitik dienen. "Internationales Recht ist
kein Pakt für nationalen Suizid," urteilt Louis Rene Beres, hier
zitiert als ein Vertreter der Mindermeinung in der völkerrechtlichen
Beurteilung.
In: "In Support of
Anticipatory Self-Defense:
Israel, Osiraq, and International Law"
(abrufbar unter
http://freeman.io.com/m_online/jun97/beres1.htm
).
Nicht nur Israel, auch andere Staaten ...
Nicht nur
Israel, auch andere Staaten der Region waren durch das
Hegemoniestreben Saddams unter ständiger Bedrohung. Den Beweis
hierfür hat das Regime in Bagdad durch seine Kriege und sein
gesamtes Verhalten selbst erbracht. Die Rücksichtslosigkeit der
Kriegsführung (so wurden mehrere zehntausend Iraner durch
Gasangriffe getötet) und die nicht geringere Skrupellosigkeit, mit
der die irakische Wirtschaft und Gesellschaft für die ausschließlich
machtpolitischen Zwecke des Regimes vereinnahmt und dabei ausgezehrt
wurden, bezeugen den Charakter des Systems. Wäre es Saddam gelungen,
die geplanten Nuklearkapazitäten aufzubauen (sie wurden – in einem
der ölreichsten Länder dieser Welt – letztlich nicht aus
energiewirtschaftlichen Gründen geplant, zumal für ein
wirtschaftliches Entwicklungsland andere Prioritäten als die
Nukleartechnologie zählten), so hätten die Bedrohungsszenarien für
die Region und die Welt insgesamt völlig andere Dimensionen
angenommen. Dem "chirurgisch" geführten, präemptiven Eingriff der
Israelis (ohne Verlust von Menschenleben sowie zum letztmöglichen
Zeitpunkt vor Inbetriebnahme der Anlage, d.h. ohne
Verstrahlungsrisiko) war es zu verdanken, dass eine äußerst
wahrscheinliche fatale Entwicklung nicht ihren Lauf nahm.
Völkerrechtliche Argumentation, wie sie zahlreich vorgetragen
wurde, die entsprechende Entscheidungslagen unzureichend würdigt,
bringt das Völkerrechtsanliegen selbst unter Ideologieverdacht.
[Einzelheiten und Hintergründe
des französischen Irak-Geschäfts schildert u. a. William
Shawcross, in: The Allies, London. Festgehalten ist dort auch
eine Aussage Saddams (damals abgedruckt in einer irakischen
Zeitschrift), derzufolge die Zusammenarbeit mit Frankreich
unabdingbar war, um
"die arabische Atombombe zu bauen"
(s. auch die Buchbesprechung von
Jeffrey Gedmin, betitelt:
"Dieser Krieg war gerecht"
in: Die Welt, 31.1.04)]
Es wird hier
nicht unterstellt, dass die französische Politik vorsätzlich
anti-israelisch war, sie nahm allerdings entsprechende Wirkungen
billigend inkauf. Parallel zum Atomgeschäft wurden milliardenschwere
Rüstungsgeschäfte mit Bagdad getätigt (15 Mrd. Franc). Im Gegenzug
stieg der Irak nach Recherchen des Nachrichtenmagazins L’Express
zum zweitwichtigsten Öllieferanten Frankreichs auf. In den
neunziger Jahren, d.h. während der gegen den Irak verhängten
UN-Sanktionen, versuchte man erneut, ein lukratives (und wiederum
dubioses) Geschäft aufzuziehen – mittels der in diesen
Jahren geheim ausgehandelten Verträge der staatseigenen
französischen Öl-Multis Total
und Elf Aquitaine
(mittlerweile fusioniert zu TotalFinaElf).
Die französische Seite versprach sich Geschäfte in der
Größenordnung von 100 Mrd. Dollar. Voraussetzung war freilich, dass
der Vertragspartner, das Saddam-Regime, fortbesteht. Die seinerzeit
geschlossenen Verträge sahen ganz unüblich günstige Konditionen für
den französischen Partner vor. Dafür wurde von irakischer Seite
erwartet, dass sich Frankreich für die Aufhebung der UN-Sanktionen
einsetzt. Kenneth R. Timmerman belegt diese Angaben (auch anhand der
ihm vorliegenden Vertragstexte) in seinem Buch: "The French
Betrayal of America". In einem Artikel: "The French War for
Oil " in: New York
Post, 16.3.04, fasst
er wesentliche Aussagen des Buches zusammen. Als weitere,
aktuellste und wohl auch informierteste Quelle kann der oben
erwähnte Bericht Charles Duelfers
herangezogen werden (u.a.
unter
http://news.findlaw.com/hdocs/docs/iraq/dciwmd93004kf.pdf
).
Duelfer legte den Bericht als
Beauftragter des US-Geheimdienstdirektors vor (Special Advisor to
the Director of Central Intelligence on Iraq’s Weapons of Mass
Destruction).
Die eingangs erwähnte t-online-Meldung ordnet sich in dieses Bild
nahtlos ein:
Es habe Bestechung im Umfeld von Staatspräsident Chirac gegeben wie
auch schon bei dessen Vorgänger Mitterrand. "So habe die
französische sozialistische Partei
[damalige Regierungspartei und Partei Mitterrands] 1988 [dem Jahr,
als Saddam durch Giftgas-Angriffe einen Genozid an der
kurdisch-irakischen Bevölkerung verübte] eine Million Dollar
erhalten.
[...] Bis Juni 2000 habe Frankreich im Rahmen [des Programms] ‚Öl
für Lebensmittel’ Verträge im Wert von 1,78 Milliarden Dollar
erhalten, 15 Prozent
aller unter dem Programm geschlossenen Kontrakte. [...] Mit den
Einnahmen aus den
Exporten sollte das Land eigentlich
Medikamente und Lebensmittel kaufen, um die Lage der Bevölkerung zu
verbessern."
[vgl. die weitergehenden Hinweise in:
Die Irak-Erfahrung – Lehrstunde für Völkerrechtler?,
Teil
1,
April 2004, insbes.
Kapitel 4,
"Anwendungsfall der Genozid-Konvention?",
mit eingehender
Bezugnahme auf die UN-Berichte zur Situation im Irak in der Zeit
Saddams, einschließl. Hinweisen auf
Auswirkungen und Mißbrauch des "food-for-oil"-Programms,
ferner die ergänzenden Literaturhinweise
in Kapitel 6, S. 26 unten; der Text ist auf der Website der
Hilfsorganisation WADI e.V. eingestellt:
www.wadinet.de/news/dokus/Voelkerrechtsfrage_Irak_Teil-1.pdf
]
Mit Blick auf die Nachrichtenquelle (t-online) könnte gesagt werden:
"Die Spatzen pfeifen es von den Dächern"
– nämlich das "Straßenlied" von einer Politik, die vorgibt,
Sachwalterin besonderer Moralität zu sein, jedoch offensichtlich von
anderen Motiven bestimmt ist.
Beispiel Deutschland
Unrühmliches
Verhalten war nicht auf Frankreich beschränkt. Allein zwischen 1982
und 1986 erhielt der Irak aus der Bundesrepublik Waffen im Gegenwert
von 2 Mrd. DM und war damit viertgrößter Importeur bundesdeutscher
Rüstungsgüter. Gemäß damaliger Expertenschätzungen hatten ca. 170
Unternehmen unter Umgehung des Außenwirtschaftsgesetzes
Rüstungsgüter oder Know-how nach Irak geliefert. Nur gegen 25 Firmen
wurde staatsanwaltlich ermittelt, und nur wenige Fälle wurden der
Öffentlichkeit bekannt. "Deutsche
Unternehmen waren direkt am Aufbau der chemischen und biologischen
Anlagen im Irak beteiligt", so
Raymond A. Zilinskas, Direktor des Chemical and Biological Weapons
Nonproliferation Program am Center for Nonproliferation Studies des
Monterey Institute of International Studies. Zu erinnern
ist daran, dass Saddam Giftgas außer im ersten Golfkrieg auch gegen
die eigene Bevölkerung (ab 1987 gegen Kurdendörfer, 1988 gegen die
Bevölkerung der Stadt Halabscha – mit
tausenden qualvoll verätzter und umgebrachter Menschen) eingesetzt
hat. Eine – z.T. – vernehmlich protestierende internationale
Öffentlichkeit konnte den Adressaten in Bagdad nicht beeindrucken.
Dessen Strategie richtete sich derzeit schon auf ein Gebiet, das er
als eine Provinz des Irak ansah und für das er rechtmäßige
Herrschaftsansprüche geltend machte (so seine Sicht), den
Nachbarstaat Kuweit.
Der
Teheraner Stadtrat legte im April (2004) fest, dass vor der
deutschen Botschaft eine Gedenktafel angebracht wird, mit der an
die deutschen Chemiewaffenlieferungen an das Saddam-Regime
erinnert wird. Deutschland gilt den Iranern als eins der
zentralen Lieferländer für das irakische Chemiewaffenprogramm,
das die schweren Giftgaseinsätze gegen iranische Truppen im
1. Golfkrieg ermöglichte. Die amtliche iranische
Nachrichtenagentur zitiert den Stadtratsvorsitzenden Mehdi
Chamran mit den Worten:
"Jeder Iraner und jeder Offizielle im Land sieht Deutschland
als Mitschuldigen für Saddams kriminelle Taten ...". Der
Stadtrat beschloss auch, eine zweite Gedenktafel gleichen
Inhalts an einem Sanatorium für Kriegsopfer der damaligen
Giftgasangriffe anzubringen. Auslöser der Aktion auf iranischer
Seite war, dass zum Gedenken an den Mord an vier iranischen
Dissidenten (sie gehörten dem kurdischen Bevölkerungsteil an)
vor dem Mykonos Restaurant 1992 in Berlin-Charlottenburg eine
Tafel mit dem Hinweis auf die Verwicklung des Irans in diesen
Anschlag (gemäß gerichtlicher Urteilsfindung) angebracht worden
war [vgl. Agentur Reuters "Tehran
escalates war of plaques with Berlin" (v. 22.4.04),
Deutsche Welle "Germany
and Iran Embroiled in Diplomatic Spat"
(v. 28.4.04)] |
Bilanz der letzten Jahre
Mit drei Hinweisen soll abschließend auf ein selbstkritisches Urteil
hingewirkt werden, wenn im Politikvergleich, noch dazu in
moralischer Perspektive, der eigenen Seite die überlegene Haltung
zugesprochen wird.
Hinweis 1
betrifft den Militärschlag der NATO
gegen Serbien und die Positionierung von Außenminister Fischer im
innerparteilichen
Klärungsprozess. Hinweis 2
gilt der Entwicklung in Afghanistan, Hinweis 3 nimmt Bezug auf
Aspekte des Irak- und des Tschetschenien-Konflikts.
In der Frage des NATO-Einsatzes gegen Milosevic hatte
Fischer der Regierungsposition gegen die eigene Basis Nachdruck
verschaffen müssen. Wegen des Grundsatzstreits in dieser Frage an
der Grünen-Basis war ein Parteitag mit einer
bindenden Beschlussfassung
verlangt worden. Von den
Delegierten
forderte
Fischer damals ein Votum, das geeignet war,
die politischen Bedingungen zu
schaffen für
seine Außenministertätigkeit und die Koalitionszusammenarbeit.
Indirekt hatte er demnach seinen Rücktritt angedroht.
Zur Begründung seines Standpunkts, dass der Nato-Einsatz –
für den es kein Mandat der Vereinten
Nationen gab –
in vollem Umfang erforderlich sei, verwies er auf Parallelen der
serbischen Kriegsstrategie zu den Verbrechen der Nazizeit.
"Nie wieder Auschwitz",
lautete seine Begründung dafür, dass der Grundsatz
"Nie wieder Krieg"
im vorliegenden Fall einzuschränken sei.
Bewusst
übernahm er das Vokabular der Nazis zur Kennzeichnung der
Kriegsziele und Handlungsweisen aufseiten von Milosevic. So warf er
diesem z.B. "völkische"
Vertreibungspolitik vor.
[Anmerkung:
Dass der Inbegriff des Nazi-Terrors – Auschwitz –
und andere Parallelverweise herhalten sollten oder mussten, um das
Gefühl und Gewissen der grünen Delegierten aufzurütteln und die
Stimmabgabe im Sinne der Regierungsposition zu beeinflussen,
erscheint nicht völlig plausibel. Für einen fühlenden und denkenden
Menschen sollte es genügen, wenn von "Vertreibungspolitik"
oder
"systematischer Vertreibungspolitik",
"Massenerschießungen",
"Massengräbern"
etc. gesprochen wird.
Nicht nur muss berücksichtigt werden,
dass
politische Argumentation auf der Ebene des
"moralischen Overkill"
auf Dauer eine abstumpfende Wirkung hat, stets ist auch zu prüfen,
ob Vergleiche nicht scheitern müssen am Charakter,
dem Bedeutungsgehalt, der Ausgeprägtheit oder Einmaligkeit der
zitierten Vergleichsereignisse.]
Der
NATO-Führungsmacht USA, ohne die es kein militärisches Vorgehen
gegen Milosevic gegeben
hätte (zumal sich Russland widersetzte), ist es also zu verdanken,
dass "völkischer"
Vertreibung
bzw. "ethnischer
Säuberung"
auf dem Balkan
nicht noch
länger
das Feld überlassen wurde. Fischers aufrüttelnder Appell an die
Parteitagsdelegierten wäre ein folgenloses
Spiel mit
Worten geblieben, wenn nicht die politische Führung und militärische
Einsatzstärke Amerikas
der Argumentation "Zähne" verliehen hätte. Europa, das viel direkter
als der transatlantische
Partner vom Geschehen auf dem Balkan
betroffen war, trug in der
gefährlichsten
Phase der Auseinandersetzung
zum
Erfolg zwar bei, jedoch,
wie selbstkritisch eingeräumt werden sollte, in der "zweiten Reihe".
Um dies als Lerngewinn zu nutzen,
sollte die
Erfahrung auch in aller Deutlichkeit und Öffentlichkeit eingeräumt
werden.
Hinweis 2: In
Afghanistan ist es dank des amerikanischen Einmarsches heute möglich,
dass, wie erwähnt, Wahlen landesweit
unter internationaler Aufsicht durchgeführt werden können,
Aufbauarbeit
zumindest in Teilen des Landes
geleistet wird und – vor allem – ein
Schreckensregime
entmachtet ist.
Deutschland ist es – gleichsam widerstrebend – zugefallen, einen
nicht unbedeutenden Entwicklungsbeitrag leisten zu können und dabei
im Übrigen eine Vertrauensbeziehung
wieder aufleben zu lassen,
die aus länger
zurückliegender Zeit mit dem Land am Hindukusch bestand.
Für Afghanistan hat sich eine
Chance
(kein Selbstläufer)
zu allmählicher weiterer
Entwicklung
ergeben und damit zur Durchbrechung eines Teufelskreises aus
Verelendung,
Staatszerfall, weiterer Destabilisierung
der Gesamtregion und
der Bildung
ausgreifender terroristischer Strukturen. Deutschen Einsatzkräften
ist es also
ermöglicht worden,
zur Entwicklung einerseits und zur Sicherheitslage andererseits
beizutragen – dies auf dem Hintergrund einer Politik
Washingtons,
der es an Entschlusskraft nicht fehlte!
Doppelte Standards
Der dritte Hinweis bezieht sich auf Aspekte mit direktem oder
indirektem Bezug zum Irak-Konflikt. In
einer
Zwischenbilanz der rot-grünen Außenpolitik
in der 15. Legislaturperiode, betitelt:
"Verschiebung des außenpolitischen Koordinatensystems",
hält der
Außenpolitische
Sprecher
der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedbert Pflüger, der Regierung den
Spiegel vor. Einige Auszüge:
"Während kaum eine Gelegenheit ausgelassen wird, kritisch, mitunter
hämisch mit dem moralischen Zeigefinger auf die US-Regierung zu
weisen, kennt die rot-grüne Bundesregierung in ihrer Russland- und
China-Politik keine Werteorientierung. [...] zum ersten Mal in der
Geschichte der Bundesrepublik [unterhält] ein deutscher Kanzler ein
engeres Vertrauensverhältnis zum russischen als zum amerikanischen
Präsidenten [...].
Gute Beziehungen zu den Führern Russlands liegen im deutschen
Interesse.
Das darf aber nicht dazu führen, die
autokratischen Tendenzen in Russland mit Schweigen oder
Augenzwinkern zu bedenken und zu den russischen
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien zu schweigen. [...]
Bundesregierung und Opposition haben zu Recht Guantanamo und die
Folter in amerikanischen
Gefängnissen im Irak kritisiert. In den USA werden die damit
zusammenhängenden Vorwürfe peinlich
genau aufgearbeitet und abgestellt. In Russland dagegen gibt es kaum
noch jemanden, der die Missstände dort kraftvoll anprangert,
geschweige denn beseitigt. Aber genau diesen Unterschied zwischen
Partner Russland und dem Wertepartner USA muss die Bundesregierung
in ihrer Politik beachten. [...]
Ohne Zweifel war und ist es die Pflicht eines Partners in der
Atlantischen Allianz, die amerikanische
Regierung auf folgenreiche Fehleinschätzungen, nicht zuletzt im
Nachkriegs-Irak, hinzuweisen und auf Korrektur zu drängen. Es wäre
möglich gewesen, vom Militärschlag im März 2003 abzuraten und
deutsche Soldaten aus dem Irak herauszuhalten, ohne gleichzeitig mit
Frankreich und Russland aktiv und öffentlich gegen die USA zu
agitieren."
Pflügers Einwände sind berechtigt und notwendig.
Warum schließt eine Regierung, gebildet aus Parteien, denen es doch
stets lautstark um Moralität in der Politik ging,
derart die Augen vor
antidemokratischen Entwicklungen,
Verstößen gegen grundlegende Bürgerrechte,
täglichen, sich seit Jahren steigernden Menschenrechtsverletzungen,
brutaler Repression in Teilen des russischen Herrschaftsbereichs?
Das aus
strategischen
Gründen abhängig gehaltene Tschetschenien bietet mittlerweile ein
einziges Bild der Zerstörung. Wie ist es möglich, dies zu übersehen?
[Aufnahme der Frage im nächsten Kapitel]
Nicht vergleichbar, sondern mit ganz anderen Bezugspunkten und auf
ganz anderer Ebene drängen
sich
weitere
Fragen an diese Regierung auf: Was ist so hinnehmbar am Dominanz-
bzw. Hegemoniestreben
Frankreichs in einem demokratischen Europa der
jetzt 25 Staaten, deren große Vision und verbindende Idee es ist,
eine Gemeinschaft
auf der Basis von Gleichberechtigung zu sein? Und als
Schlüsselfrage:
Was ist so
fortschrittlich
daran, ein arbeitsfähiges Miteinander im westlichen Bündnis und
transatlantischen Verhältnis zur Disposition zu stellen?
Zur ersteren Frage:
Die
ausfälligen
Bemerkungen
Chiracs,
als Anfang Februar 2003 die zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten
der Vilnius-Guppe (damals noch im EU-Beitrittskandidaten-Status) den
Schulterschluss mit der amerikanischen Irak-Position "begingen",
sind noch gut – aber nicht in guter – Erinnerung. Chirac ließ erbost
wissen: Wer ohne vorherige Absprache mit den EU-Partnern auf die
amerikanische Linie einschwenke, lege
"kein sehr verantwortliches Verhalten"
an den Tag. Weiter ließ er sich über
"mangelnde Gewissenhaftigkeit"
und sogar
"eine nicht sehr gute Erziehung"
aus. Wenig rühmlich –
wenn demokratische Tradition als Maßstab genommen
wird – war
insbesondere die
Äußerung:
"Ich glaube, sie haben eine gute Gelegenheit versäumt zu schweigen."
[vgl. R. Veser
"Schützenhilfe für EU-Gegner",
in: FAZ,
21.2.03, Zeitgeschehen S. 12.
"Chiracs Worte werden – Veser
zitiert aus der litauischen Tageszeitung ‚Lietuvos Rytas’ – so
verstanden,
dass die Osteuropäer
‚stimmlose Vasallen von Paris und Berlin’
werden sollten, ..."
Ein weiteres
Verhalten Frankreichs sei zudem noch in frischer Erinnerung:
"In Warschau und Vilnius hat man nicht vergessen,
dass Chirac während des Streits über den Transit zwischen Russland
und der russischen Exklave
Kaliningrad durch Polen und Litauen
die russische Position unterstützt und damit elementaren Interessen
dieser beiden Länder geschadet hat."
(ebd.)]
Die Äußerungen und Tonlage Chiracs bezeichnete Karl-Peter Schwarz
seinerzeit in einem Kommentar der
Frankf. Allg. Ztg. ("Wie Kredit verspielt wird",
24.2.93, S.1)
zu Recht
als
"imperial".
[Anmerkung:
Die Motivlage
der osteuropäischen Länder
erscheint leicht nachvollziehbar.
Sie alle
drängen in den
Schutz der
westlichen Allianz und westlichen Gemeinschaft.
Glaubwürdige Garantiemacht
ist für sie
letztlich nur Amerika. Der Hintergrund einer – noch lebendigen –
Erfahrung eines halben Jahrhunderts
politischer
Unfreiheit und (erzwungener) kultureller Isolation
wirkt als schwere Hypothek in fast determinierender Weise nach.
Wer
könnte dies übersehen – oder nicht
verstehen? Die Osteuropäer sagen nicht:
"Nie wieder
Krieg!",
sondern:
"Nie wieder politische und wirtschaftliche Unterjochung!"
Beispiel: Die rumänische Zeitung
Ziarul de Iasi
(v.
26.2.03)
analysiert
Konturen einer neuen Ordnung,
in der sich ein deutsch-französisches Kerneuropa als Gegengewicht
zu Amerika russischer Unterstützung versichere. Die
Ost- und Mittelosteuropäer befänden sich in dem Dilemma,
sich entweder
für ihre Sicherheit zu entscheiden, die allein die Amerikaner geben
könnten, oder die Protektion
Russlands zu akzeptieren –
"diesmal innerhalb der europäischen institutionellen Struktur".
(zit.
n.
FAZ,
1.3.03)]
Rotgrüne
Weitsicht oder Realitätsferne?
Die Politik dieser Regierung ist Opfer ihrer Vorstellung geworden,
Multipolarität auch ohne vorhandene Grundlage –
kontrafaktisch – durchsetzen zu können. Man begibt sich in
eine z.T. mutwillige Distanz und Dissonanz zur transatlantischen
"unipolaren" Vormacht USA, benötigt dann aber "Nähe", Konsens oder
Beistand von anderer Seite – und findet sich prompt in solchen
"Beistandspakten" wieder, z.B. Seite an Seite mit den
"Achsenpartnern" Russland und Frankreich, nunmehr genötigt, auch die
problematischen und nicht tolerierbaren Aspekte in der Politik
dieser Partner mit Schweigen oder Nachsicht zu übergehen.
(
. . . )
Weiter / Ausführliche Version dieses Textes:
http://www.wadinet.de/news/dokus/Das_Alte_Europa.pdf
hagalil.com
10-11-2004 |