
Gegen die kollektive Existenz der Juden:
Der politische Antisemitismus kehrt zurück
Elijahu Salpeter
Das jüdische Volk und der Staat Israel müssen
sich an eine neue Situation gewöhnen: die moralischen, politischen
und finanziellen Verpflichtungen, die die europäischen Staaten für
die Vertreter der Holocaustopfer und ihre Erben übernommen haben,
geht zu Ende.
Der "Holocaustfonds", den die Schweizer Regierung
und Industrie für die Entschädigung von Hunderttausenden
Holocaustüberlebenden eingerichtet hatten, beendete seine Arbeit zum
Beispiel am 1. Januar, und dies war nur einer der Wege, wenn auch
nicht der wichtigste, auf welchen die Völker der Welt die Juden für
den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit entschädigen
wollten. Von größerer Bedeutung waren die Zahlungen, die Deutschland
an Juden und Israel geleistet hat, die sich bereits auf Milliarden
Mark belaufen und auch in den nächsten Jahren noch weiterfließen
werden. Dies war der wichtigste Beitrag zur Rehabilitierung der
Überlebenden in aller Welt, wie auch zur Festigung der
wirtschaftlichen Rahmen des jüdischen Staates.
Die Rückführung des Besitzes an Privatpersonen und
Gemeinden war eher eine Sache der Gerechtigkeit als eine
Entschädigung der Opfer. Es ist jedoch klar, dass ohne den
moralischen und politischen Druck, vor allem seitens der USA und
ihrer Juden, sich viele Staaten in Europa an dem formellen Argument
festgehalten hätten, dass die Opfer nicht Bürger desselben Staates
waren und deshalb auf sie das Prinzip zutrifft, dass Besitz ohne
Eigentümer und Erben dem Staat zufällt, in dessen Grenzen er sich
befindet.
Die Tatsache, dass dieses Argument nicht zur
Anwendung kam, stellt eine internationale Anerkennung von drei
Prinzipien dar:
Erstens: die Tatsache, dass es keinen jüdischen Staat gab, trug zum
Holocaust bei, und deshalb war es gerechtfertigt, einen solchen zu
gründen.
Zweitens: das jüdische Volk in der Diaspora ist nicht nur eine
religiöse und/oder ethnische Struktur, sondern auch eine politische.
Drittens: der Staat Israel ist zumindest teilweise der kollektive
Erbe des Eigentums von Juden, die ermordet wurden und keine Erben
haben.
Diese drei Prinzipien sind wohl einer der
wichtigsten Besitzwerte, die die sechs Millionen hinterlassen haben.
Je mehr Zeit jedoch vergeht, desto schwächer wird das Bewusstsein
dafür, sowohl der Juden in der Diaspora als auch der Völker, mit
welchen sie zusammenleben, dass die Juden einem Volk angehören.
Im Verlauf der Jahre, vor allem nach dem
Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, verschärften sich die
Interessendifferenzen zwischen den verschiedenen jüdischen
Gemeinden. Gleichzeitig nimmt die Zahl derer ab, die der Überzeugung
sind, dass es ohne den Staat Israel keine Zukunft für das jüdische
Volk gebe.
Auch das Vorrecht Israels auf die Gelder des
jüdischen Volks wird zunehmend erschüttert. Jetzt ist es erlaubt,
und auch gerechtfertigt zu fragen, was wichtiger für die zukünftige
Existenz des jüdischen Volkes ist- eine jüdische Schule in
Wladiwostok oder drei Wohnwägen auf einem Hügel in Hebron.
Vor dem Hintergrund dieser Fragen sollte man den
Charakter des Antisemitismus zu Beginn dieses Jahrhunderts
überprüfen. Handelt es sich um denselben Antisemitismus wie in der
Vergangenheit? Es ist richtig, dass fast überall wieder Angriffe auf
Synagogen zu verzeichnen sind, auf jüdische Gräber und auch auf
fromme Juden. Aber es scheint, dass es sich dabei um Geister der
Nazivergangenheit handelt, die versuchen, aufzuerstehen. Obwohl die
Angriffe der letzten zwei Jahre ernst genommen werden müssen, gibt
es heute fast keinen Staat in der Welt (mit Ausnahme der
moslemischen), in welchen Juden existenzielle Gefahren mit
antisemitischem Hintergrund drohen. Die Gefahr für die jüdische
Existenz ist wieder kollektiv. Die Zahl der Personen, die den Juden
das Recht auf einen eigenen Staat absprechen, nimmt ständig zu.
Heute gibt es linke Kreise, denen auch Juden angehören, die offen
fragen, ob es eine Rechtfertigung für einen separaten jüdischen
Staat gebe.
Wir müssen uns heute die Frage stellen, ob wir es
mit einer neuen Art von Antisemitismus zu tun haben, mit dem
sozusagen ein historischer Kreis geschlossen wird. Der Hass richtet
sich nicht mehr gegen die physische Existenz des Juden, sondern
gegen die kollektive Existenz der Juden, die durch den Staat Israel
zum Ausdruck kommt. Der antike Antisemitismus war nicht rassistisch
sondern national: die Römer haben die Juden nicht wegen ihres
Judentums verfolgt, sondern da sie ein aufständisches Volk waren.
Das Christentum wertete die Fortsetzung der Existenz der Juden als
Bedrohung für die Prinzipien ihres Glaubens. In der Moderne entstand
dann der rassistische Antisemitismus, der die Juden als
"Untermenschen" verabscheute und somit letzten Endes ihre
Vernichtung rechtfertigte.
Die dritte Phase des Antisemitismus ist die
Verneinung des politischen Zionismus. Es ist kein Zufall, dass sich
im anti-zionistischen Lager, vor allem in der Linken, viele Juden
finden lassen. Diese Juden fühlen sich in ihrem Land nicht wegen
ihres Judentums bedroht, sondern weil sie mit dem jüdischen Staat
identifiziert werden.
Man kann nur schwer sagen, ob und wann der "neue"
Antisemitismus den "alten" endgültig ablösen wird. Der Staat Israel
muss jedoch begreifen, dass wir uns am Beginn einer neuen Phase
befinden. Die letzte Welle der Angriffe gegen Juden in der Diaspora
könnten sicherlich Ausdruck versteinerter antisemitischer Haltungen
aus der Vergangenheit sein, gleichzeitig könnte es jedoch durchaus
sein, dass sie bereits dem neuen Antisemitismus zuzuordnen sind, dem
politischen. Deshalb wird es immer weniger effektiv, jede Kritik an
Israel als Antisemitismus darzustellen. Auch die Bereitschaft der
Juden in der Diaspora, diese Erklärung als unerschütterliche
Wahrheit zu akzeptieren, wird immer mehr abnehmen, so auch ihre
Bereitschaft, Israel finanzielle Hilfe zu leisten, ohne zu fragen,
wofür die israelische Regierung diese Gelder verwendet. Immer mehr
Spender werden für spezifische Zwecke spenden wollen, die ihren
Haltungen und ihrer Weltanschauung entsprechen.
Israel muss in neuen Begriffen denken. Für die
Juden genügt allein die Existenz eines starken Staates Israel nicht,
um ihre Sicherheit in der Diaspora zu gewährleisten. Damit der Staat
Israel die Juden schützen kann, muss er sich erst selbst mit dem
neuen Antisemitismus auseinandersetzen, der gegen ihn gerichtet ist.
hagalil.com
27-01-2003 |