
Wieder einmal allein
Juden und der Antisemitismus:
Schulterschluss mit Scharon
RICHARD CHAIM SCHNEIDER
Die Nachrichten sind erschreckend: In allen
europäischen Ländern ist ein sprunghafter Anstieg an antisemitischen
Übergriffen zu beklagen. Verbale und physische Attacken gegen Juden und
ihre Einrichtungen gehören beinahe schon zum Alltag, und es sind diesmal
nicht nur die Ewiggestrigen oder die Glatzen, die ihrem Rassismus freien
Lauf lassen, sondern vor allem Muslime. Allerdings lassen auch „normale“
Bürger, ja selbst Intellektuelle, Kirchenmänner und Politiker sich zu
antisemitischen, respektive anti-zionistischen Äußerungen hinreißen. Die
palästinensische Intifada scheint den europäischen Kontinent erreicht zu
haben.
Diese Entwicklung führt bei den europäischen Juden zu
einer immensen Verunsicherung, die sich auch in Auswanderungsgedanken
ausdrückt, nicht zuletzt in Frankreich, wo die Polizei bei Angriffen
arabischer Jugendlicher auf Juden gerne mal zu spät am Ort des
Geschehens erscheint. Immer mehr französische Juden wollen seit der
außerordentlichen Zunahme an Anschlägen ihr Heimatland verlassen,
jüdische Intellektuelle klagen die französische Regierung und auch
Präsident Chirac trotz aller eilfertigen Besorgnis-Rhetorik an, die
aktuelle Situation zu verharmlosen.
Diese über ganz Europa verbreitete Verunsicherung hat
inzwischen die offizielle Haltung europäisch-jüdischer Organisationen
gegenüber der Politik des Staates Israel beeinflusst. Solidarität mit
Israel versteht sich von selbst. Und die Sicht auf die
Nahost-Problematik wird seit je natürlich eher durch die israelische als
durch die palästinensische Propaganda beeinflusst. Doch die
uneingeschränkte Solidarität mit dem Vorgehen Ariel Scharons war
zumindest zu Beginn seiner Amtszeit keineswegs selbstverständlich, im
Gegenteil. Man bedauerte sehr, dass ausgerechnet Scharon, der in keiner
westlichen Demokratie mit seiner Vorgeschichte eine Chance gehabt hätte,
Ministerpräsident zu werden, an die Macht gehievt wurde. Denn das
europäische Judentum ist den demokratischen Grundlagen seiner
Heimatländer verpflichtet und grundsätzlich liberal eingestellt. Ähnlich
wie in den USA plädierte man schon längst für einen palästinensischen
Staat und begriff, dass die Siedlungen im Westjordanland und im
Gaza-Streifen ein großes Hindernis auf dem Weg zum Frieden sind.
Hoffnungslos blauäugig
Die politische Kehrtwendung der letzten Monate, die
totale Solidarität mit Scharon, hat verschiedene Gründe. Da ist zunächst
die tiefe Enttäuschung über Arafat, der die einmalige Chance eines
endgültigen Friedens mit absurden Forderungen wie dem Rückkehranspruch
der palästinensischen Flüchtlinge ins Kernland Israels sabotierte und
immer offensichtlicher Terror als politisches Mittel toleriert. Da ist
natürlich auch die Wut, die, ähnlich wie in Israel, eine psychologisch
verständliche Reaktion des Zurückschlagens als ultima ratio
herausfordert, da Verhandlungen mit den Palästinensern – so die jüdische
Lesart – längst nichts mehr bringen und sinnlos geworden sind.
Schließlich aber, und das ist für europäische Juden
vielleicht der entscheidende Punkt, da er im eigenen Alltagsleben
erfahrbar ist: die überwiegend pro-palästinensische Einstellung und auch
Politik Europas. Unerwartet empfindet man sich aufgrund dieser
Wahrnehmung in einem gemeinsamen Kampf mit Israel verfangen. Die
anti-israelische Haltung der europäischen Nationen, die Deutschland
aufgrund seiner Geschichte noch am vorsichtigsten formuliert, löst tiefe
Besorgnis aus. In diesem Zusammenhang steht auch die europäische Kritik
am Vorgehen der USA nach dem 11.September. Jüdische Organisationen
können diese überhaupt nicht begreifen und fragen sich, inwieweit sich
dahinter nicht eine Präferenz für die muslimische Welt verbirgt – was
wiederum als Gefahr für Israel eingeschätzt wird.
Der Ruf nach „Dialog“, nach „Wirtschafts- und
Entwicklungshilfe“ als angeblich einzig wahre Möglichkeit, den Terror
langfristig zu bekämpfen, wird als blauäugig begriffen. Das Bemühen der
EU, mit diktatorischen Regimes im Iran oder Irak im Gespräch zu bleiben,
ist für Juden schon allein deshalb unerträglich, weil die Ayatollahs und
Saddam Hussein für die Vernichtung Israels plädieren.
Zudem wird den europäischen Politikern Doppelmoral
vorgeworfen. Die lautstarke Entrüstung Brüssels über die Zerstörung
palästinensischer Infrastruktur, die mit EU-Geldern finanziert wurde,
wie etwa der Flughafen von Gaza, wirkt aus jüdischer Sicht absurd und
verlogen: Absurd, weil Krieg nun mal Krieg sei und die Europäer meinten,
es gäbe tatsächlich einen „sauberen“ Krieg, verlogen aber, da die EU
ignoriere, dass die Palästinenser mit dem EU- Geld Waffen für den Kampf
gegen Israel kaufen.
Die jüngste Äußerung des Präsidentschaftskandidaten
Lionel Jospin in Frankreich, Scharon allein sei an der Eskalation in
Nahost schuld, wird ebenso als sicheres Indiz für europäischen
Antisemitismus gewertet wie das Vorgehen der belgischen Justiz, die
immer noch prüft, ob Scharon für seine indirekte Verantwortung an den
Massakern von Sabra und Schatila vor ein Kriegsgericht zu stellen ist.
Wie kann es sein, fragen sich jüdische Funktionäre, dass Belgien die
arabischen Diktatoren, auf deren Befehl in den eigenen Ländern Tausende
ermordet wurden, unbehelligt lässt, den Juden Scharon aber „vernichten“
will?
Der unisono erschallende Jubel der Europäer über die
saudi-arabische Friedensinitiative wird als weiteres Indiz für die
Verkennung der Realität in Nahost gewertet: Die Initiative klammere alle
heiklen Punkte aus und sei nichts als der Versuch der Saudis, sich bei
den Amerikanern wieder Liebkind zu machen, nachdem Terror-Organisationen
von den Saudis kräftig finanziert wurden – urteilen namhafte jüdische
Stimmen.
Und das wichtigste Argument für die kritiklose
Unterstützung Israels: die europäischen Medien. Ihnen wird eine allzu
einseitige Haltung in der Berichterstattung aus Nahost unterstellt, die
Berichte aus Israel seien grundsätzlich von antisemitischen Untertönen
durchzogen.
Ob dieser Vorwurf empirisch zutrifft, ist schwer zu
beurteilen. Doch es besteht kein Zweifel, dass eine unausgewogene
Berichterstattung des Nahostkonflikts zu beobachten ist. In England und
Frankreich in noch viel größerem Ausmaß als in Deutschland; hierzulande
sind die Journalisten, wiederum wegen der deutschen Vergangenheit,
vorsichtiger.
Doch auch deutsche jüdische Kreise fragen sich, wieso
etwa die Tötung einer schwangeren Palästinenserin durch die israelischen
Streitkräfte eine Schlagzeile wert ist, die Ermordung einer schwangeren
Israelin am Tag danach aber mit keiner Zeile erwähnt wird. Solche
Beispiele werden von jüdischen Organisationen überall in Europa seit
Ausbruch der Intifada gesammelt. Das Berliner Büro des American-Jewish
Committee will demnächst eine Studie über das Bild Israels in den
deutschen Medien veröffentlichen. Diese soll beweisen, dass
Antisemitismus ein entscheidender Faktor in der Berichterstattung ist.
Egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht –
entscheidend ist, dass bei Juden dieser Eindruck entstanden ist. Die
Folge: eine generelle Ablehnung jeglicher Israel-Kritik, selbst wenn
diese sachlich richtig ist. Sie wird inzwischen per se als
„antisemitisch“ begriffen, der jüdische Reflex, sich stets gleich
bedroht zu fühlen, ist derzeit stärker ausgeprägt als sonst und bewirkt,
dass auch in Europa die emotionale Schärfe der Auseinandersetzung um den
Nahost-Konflikt wächst.
Juden in aller Welt interpretieren den Kampf Israels
mit zunehmender Dauer der zweiten Intifada immer häufiger als
Überlebenskampf des jüdischen Volkes. Es ist ein schier endloser Kampf
gegen den Terror und die arabischen Feinde. Für europäische Juden kommt
ein weiterer Aspekt hinzu: Es ist außerdem auch ein Kampf gegen den
europäischen Antisemitismus.
Eine antisemitische Stimmung löst Besorgnis aus, ein
möglicher Untergang Israels könnte eine gewaltige antisemitische
Pogromwelle auslösen. Der Schulterschluss mit Israel sei also unbedingt
geboten. Wieder einmal stünde das jüdische Volk alleine da – gegen die
Araber und ein antisemitisches Europa. Man mag diese
Weltuntergangsstimmung für völlig überzogen halten. Besser aber wäre es,
wenn Europa diese Ängste seiner jüdischen Bürger ernst nehmen und sie
mit einer entsprechenden politischen Haltung zerstreuen würde.
Schließlich sind die europäischen Nationen zunächst ihren Bürgern
verpflichtet. Nicht den Israelis – und auch nicht den Palästinensern.
haGalil onLine 05-04-2002 |