Schaffhauser
Nachrichten
Dienstag 27. Januar 2004
Zwischen Antiisraelismus und Antisemitismus:
Israel begeht erstmals den "Tag der Antisemitismus- Bekämpfung"
Die Regierung verwischt die Grenzen zur Kritik an ihrer Politik
Von Charles Landsmann
Tel Aviv. Kann ein Jude Antisemit sein? Die für
nicht jüdische Ohren seltsam klingende Frage hat in diesen Tagen in
Stockholm und Jerusalem eine politisch-zeitgeistige Antwort
erhalten. Der israelische Botschafter in Schweden, Mazel,
beschädigte die provokative Einrichtung eines nach Schweden
ausgewanderten israelischen Künstlers, weil dieser damit seiner
Meinung nach den Terror feierte.
Israels Ministerpräsident Ariel Scharon lobte daraufhin den
Botschafter für dessen tatkräftigen Kampf gegen den Antisemitismus.
Kein einziger Minister wagte an der Regierungssitzung Widerspruch:
Was hat ein missverständliches (Kunst-)Werk über eine
Selbstmordattentäterin, welche - wie im schriftlichen Teil der
Installation ausdrücklich festgehalten wurde - 19 unschuldige
Israelis ermordet hat, mit Antisemitismus zu tun?
Widerspruch nicht geduldet
Israels Minister für Diaspora-Angelegenheiten, Nathan
Scharansky, ehemaliger Dissidentenanführer in der Sowjetunion, gab
die indirekte Antwort bei der Präsentation des
Antisemitismus-Berichts 2003: «Alle Grenzen zwischen Antisemitismus
und Antiisraelismus sind weggewischt.» Und wieder wagte niemand
Widerspruch gegen diese These, mit der die Regierung Scharon alle
ihre ausländischen Kritiker mundtot zu machen versucht, wie sie
dies, mit anderen Mitteln, im eigenen Land mit den internen
Kritikern bereits seit längerem praktiziert.
Längst gelten im Land ideologisch gefärbte Sprachregelungen und für
das Ausland politische Kurzschluss-Argumentationen. Wer den
Sperrwall-Bau zwischen Israel und der Westbank kritisiert, ist
Antisemit, weil er den jüdischen Einwohnern Israels das Recht auf
Schutz vor Terror abspricht. Wer gegen den Siedlungsbau ist, hat
eine antisemitische Gesinnung, denn er streitet den Juden das
Menschenrecht auf freie Niederlassung in ihrem biblischen Land ab.
Wer gegen die Drangsalierungen und Erniedrigungen der
palästinensischen Zivilbevölkerung ist, der tut dies aus
Antisemitismus, denn er will den Schutz der jüdischen Siedler
verhindern. Wer sich gegen Bombardierungen von Wohnhäusern und
Unschuldige gefährdende Liquidierungsaktionen ausspricht, der ist
Antisemit, weil er das Recht des jüdischen Staats auf
Selbstverteidigung und Terrorbekämpfung verneint.
Scharanskys Erklärung und die Regierungsthese stimmen mit einer der
drei zentralen Feststellungen des Antisemitismus-Reports zu den
Charakteren der antisemitischen Aktivitäten weltweit überein: Der
neue Antisemitismus verwischt den Zusammenhang zwischen
Antiisraelismus und Antisemitismus. Die beiden anderen Punkte
betreffen Anschläge gegen jüdische Gemeinden in der Diaspora und den
traditionellen Antisemitismus.
Der Bericht dürfte für viele zu einem überraschenden Schluss
gekommen sein: Weltweit hat demnach die Zahl der antisemitischen
Vorfälle abgenommen, doch gleichzeitig ist deren Gewalt-«Qualität»
angestiegen. Mit anderen Worten: Die Antisemiten verüben weniger,
aber gewaltsamere Anschläge. Während die Anzahl der antisemitischen
Gewaltakte in den GUS-Staaten im letzten Jahr markant zurückging,
nämlich von 16 auf 9 Prozent aller weltweit verübten Taten,
explodierte sie in Westeuropa von 63 auf 79 Prozent.
Ganz klar geht diese negative Bilanz auf die antisemitische Welle
zurück, die Frankreich überflutet. Noch 2002 wurden in Frankreich
«nur» 77 antisemitische Vorfälle wie Grabschändungen, antisemitische
Karikaturen und Schmierereien verzeichnet sowie 69 Gewaltakte. Für
das letzte Jahr lauteten die Zahlen: 141 Vorfälle und 85
Gewalttaten. In Prozentzahlen ausgedrückt bedeutet das, dass nicht
weniger als 47 Prozent aller antisemitischen Akte weltweit in
Frankreich verübt worden sind, während es im Vorjahr noch 34 Prozent
gewesen waren. Grossbritannien nimmt mit 29 Prozent den zweiten
Platz in dieser Tabelle des Hasses ein.
Die Spitzenstellungen dieser beiden Staaten kann nicht überraschen,
wenn man den Wandel des Antisemitismus in den letzten Jahren in
Betracht zieht. Der in der Studie als dritter zentraler Punkt
genannte «traditionelle Antisemitismus» hatte vielfach eindeutig
christliche Wurzeln. Dieser wird - derzeit vor allem von Italien mit
Aufsehen erregendem Erfolg - in den meisten europäischen Staaten
bekämpft und zurückgedrängt. Die neue antisemitische Welle wiederum
ist vor allem von mehr oder minder radikalen moslemischen Elementen
losgetreten worden. Sie hat logischerweise mit Frankreich und
Grossbritannien die beiden Staaten mit den zahlenmässig grössten
moslemischen Minderheiten erfasst.
Mehr Kritiker als Antisemiten
In ihrer politischen Dimension in Bezug auf Israel
wohl noch wichtiger ist eine Umfrage in neun europäischen Staaten,
welche die italienische Zeitung «Corriere della Sera» am Montag
veröffentlichte. Danach sind 16,1 Prozent der Europäer gegen die
Existenz Israels, vor allem weil ohne Israel die Palästinenser
längst ihren eigenen Staat hätten. Diese Zahl deckt sich fast mit
den rund 15 Prozent, welche als Antisemiten gewertet werden müssen.
Übrigens: 7,2 Prozent der Europäer sind gemäss dieser Umfrage
Holocaust-Leugner.
Die Umfrage macht mehr als deutlich, dass eigentlich nur Antisemiten
auch antiisraelisch eingestellt sind. Die Zahl der europäischen
Kritiker der israelischen Politik, genauer der Politik der Regierung
Scharon gegenüber den Palästinensern, ist aber erheblich grösser als
diese 15-16 Prozent der anti-israelischen Antisemiten. Demnach
verweist die Umfrage eindeutig die Behauptung der israelischen
Regierung ins Reich taktischer politischer Lügen, ausländische
Kritik an ihrer Politik sei antisemitisch.
hagalil.com
28-01-2004 |