Laudatio für zwei außergewöhnliche Frauen:
Auszeichnung für Gila
Svirsky und Sumaya Farhat-Naser
Vergangene Woche wurde die Hermann Kesten-Medaille, die das
P.E.N.-Zentrum Deutschland gemeinsam mit dem Hessischen Ministerium
für Wissenschaft und Kunst verleiht, an die Israelin Gila Svirsky
und die Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser verliehen. Der mit
10.200 Euro dotierte Preis würdigt die herausragende Tätigkeit
zweier Autorinnen, die lange Jahre jeweils eine Frauenorganisation
für Frieden und Verständigung in Nahost geleitet haben. Die Laudatio
bei der Preisverleihung in Darmstadt hielt Uri Avnery:
"Sumaya Farhat ist als Tochter sehr armer Bauern in Birseit
geboren, damals ein kleines Dorf, das von seinen Oliven lebte (daher der Name:
Ölbrunnen). Gila Svirsky ist in New-Jersey zur Welt gekommen, Tochter einer
intellektuellen jüdischen Familie aus Litauen. Zwei Kontinente, zwei Welten,
beinahe hätte ich gesagt – zwei Planeten. Das Schicksal, und die Geschichte
unseres Landes, hat sie zunächst in Jerusalem und nun hier, in diesem festlichen
Saal, zusammen gebracht.
In drei verschiedenen, doch miteinander verknüpften Kämpfen, sind
sie engagiert: Der Kampf um das Land, der Kampf um den Frieden und der Kampf um
die Rechte der Frauen. Sumaya ist Palästinenserin, Gila ist Israelin. Sie
gehören zwei Völkern an, die seit 120 Jahren Krieg gegeneinander führen. Es ist
ein einzigartiger Krieg. Es geht nicht um ein Stück Land zwischen zwei Staaten,
wie der hundertjährige Kampf zwischen Deutschland und Frankreich um
Elsaß-Lothringen. Es ist ein Kampf zwischen zwei Völkern um ein Land, das beide
als ihr Vaterland beanspruchen.
Sumayas Familie lebt seit vielen Generationen in Birseit.
Vielleicht sind ihre Vorfahren vor 1300 Jahren mit den Arabern ins Land
gekommen. Wahrscheinlicher ist, das die Familie seit Jahrtausenden im Lande
verwurzelt ist und sich im Laufe der Geschichte den verschiedenen Kulturen
angepasst hat, die in Palästina nacheinander herrschten – die kanaanitische,
dann die israelitische, die christlich-byzantinische, dann die der Kreuzritter,
vorher und später die arabische. Ihre Religion blieb christlich, und langsam
übernahm sie mit der Gemeinde der griechisch-orthodoxen Kirche das Arabische,
das zur Kultur des Landes Palästina wurde. Sumayas Familie ist zur lutherischen
Kirche übergetreten, aber sie gehört zur palästinensischen Nation, deren Kultur
vorwiegend von der muslimischen Mehrheit beeinflusst ist.
Gilas Vorfahren haben seit Jahrhunderten mit dem Gesicht nach
Jerusalem gebetet. Für sie war das Land Israels, Palästina, das Heimatland ihres
Volkes, aus dem sie durch Gottes Willen verbannt worden waren, eine Strafe, von
der sie erst erlöst werden sollten, wenn Gott den Messias schickt. Erst als in
Europa Ende des 19. Jahrhunderts der rabiate Antisemitismus aufkam, beschloss
ein Teil der Juden, nicht mehr auf den Messias zu warten, sondern sich selbst zu
erlösen und in Palästina wieder eine nationale Heimstätte zu errichten. Für ganz
religiöse Juden war das eine Todsünde.
Sumayas Urgrossvater im damaligen Palästina - eine entlegene
Provinz des türkischen Reiches - konnte nicht ahnen, dass im fernen Europa eine
Bewegung entsteht, die ihm sein Land wegnehmen will. Da er nicht lesen und
schreiben konnte und sein Horizont nicht über die Grenzen seines Dorfes
hinausging, konnte er es auch gar nicht erfahren. Und für die Juden, die in
Basel 1897 den ersten zionistischen Kongress abhielten, existierte weder Birseit
noch irgend ein anderes Dorf in Palästina. Für sie war das Land einfach leer –
"ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land", wie die damalige eingängige aber
falsche Parole lautete. Isaac Deutscher, ein berühmter jüdischer Historiker, hat
den Konflikt folgendermaßen beschrieben: Ein Mensch wohnt im oberen Stockwerk
eines Hauses, in dem ein Brand entsteht. Um sich zu retten, springt er aus dem
Fenster und landet auf dem Körper eines Passanten, der schwer verwundet wird.
Zwischen den beiden entsteht eine tödliche Feindschaft. Wer hat Schuld?
Natürlich hinkt dieser Vergleich, wie jeder. Er gibt aber ein
verständliches Bild von dem, was sich zugetragen hat – jedenfalls nach
aufgeklärter jüdischer Sicht. Zionisten sehen das ganz anders, und Araber auch.
Der Konflikt beherrscht unser Leben. Sumaya ist im Juni 1948 geboren, ein Monat
nach dem Staat Israel, mitten in dem Krieg, in dem ich als Soldat gedient habe.
Israelis nennen ihn den Unabhängigkeitskrieg, Palästinenser nennen ihn die
Nakbah, die Katastrophe, weil die Hälfte ihres Volkes im Krieg vertrieben worden
ist. Sumayas Birseit war weit von den Fronten entfernt – sonst wäre sie wohl in
einem Flüchtlingslager geboren worden. Gila kam zwei Jahre vorher zur Welt.
Keiner von uns, die wir im Lande leben, kann sich diesem Konflikt entziehen. Ob
sie will oder nicht – und sie will nicht! – Gila gehört zum Volk, das heute die
Palästinenser unterdrückt, und Sumaya gehört zum Volk der Unterdrückten.
Zwischen den beiden Völkern besteht keine Symmetrie und kann auch
keine bestehen. Wir Israelis können uns nicht der Verantwortung für das, was
unser Staat tut, entziehen. Wir können nur versuchen, dies zu ändern. Das haben
wir seinerzeit von den Deutschen gefordert, und das müssen wir jetzt von uns
selbst fordern. Wir müssen versuchen, dem Krieg zwischen Israel und Palästina
ein Ende zu setzen. Sumaya und Gila haben sich dieser Pflicht nicht entzogen.
Darum sind sie hier.
Der Krieg zwischen Israelis und Palästinenser tobt schon seit 120
Jahren. Zu dieser Stunde ist er schlimmer als je, und er kann noch viel, viel
schlimmer werden. Aber seit einigen Jahren hat ein anderer Kampf begonnen, mit
ganz verschiedenen Fronten. Nicht zwischen Israelis and Palästinensern, sondern
zwischen denen, die Frieden wollen, Israelis und Palästinenser, und denen, die
ihn ablehnen, Israelis und Palästinenser. In diesem Kampf stehen Gila und Sumaya
seit Jahren auf der selben Seite, Schulter an Schulter. Das ist nicht leicht.
Man braucht viel Mut um - wie Sumaya - sich im palästinensischen Volk für den
Frieden mit Israel einzusetzen, während israelische Soldaten sich in allen
palästinensischen Städten und Dörfern herumtreiben, Menschen hinrichten, Häuser
zerstören, Bäume ausreißen, eine ganze Bevölkerung einsperren und ihr Leben zur
Hölle machen. Auch Birseit ist belagert und isoliert. Man braucht viel Mut um -
wie Gila - sich in Israel für den Frieden mit den Palästinensern einzusetzen,
während Palästinenser Selbstmordaktionen in israelischen Märkten und Bussen
ausüben, und viele Israelis davon überzeugt sind, dass die Palästinenser uns ins
Meer werfen wollen.
Sumaya Farhats Weg zur Friedensaktivistin war nicht leicht. Schon
als Kind hat sie den Mut gehabt, den Sitten und Gebräuchen ihrer konservativen
Dorfgemeinschaft zu trotzen. Sie hatte das für ein Mädchen ungewöhnliche Glück,
die Schule besuchen zu dürfen, und zwar die deutsche, lutherische Schule Talitha
Kumi in Beit-Jala bei Bethlehem. Nach dem Abitur hatte sie die Möglichkeit, nach
Deutschland zu kommen, um hier zu studieren und ihren Lebensweg selbst zu
gestalten In ihre Heimat zurückgekehrt, hat sie konsequent die Friedenspolitik
unterstützt und selbst viel dazu getan, die Zusammenarbeit mit israelischen
Friedensgruppen zu fördern. Dabei begegnete sie in Jerusalem Gila Svirsky.
Gilas Weg zum Frieden war in anderer Weise kompliziert. Alle ihre
Verwandten sind im Holocaust umgekommen. Zum Glück sind ihr Vater und ihre
Mutter vorher ausgewandert – der Vater nach Amerika, die Mutter nach dem
damaligen Palästina. Sir trafen sich zufällig in Jerusalem, heirateten und
ließen sich in New Jersey nieder. Gilas Vater, ein liberaler Intellektueller,
war in Litauen ein Journalist. In Amerika wurde er Hühnerzüchter und
Möbelhändler. Die Mutter war eine rechtsradikale Zionistin. Beide waren streng
orthodox, und auch Gila ist als orthodoxe Jüdin erzogen worden. Als sie mit 19
Jahren nach Israel kam, war sie orthodox-religiös und zionistisch. Also gehörte
sie zu den Kreisen, die nach 1967 mit der Besiedelung der eroberten Gebiete
begannen. Ihre Freunde stellten die ersten Siedlungen im Etzion-Block auf, nur
ein paar Kilometer von der Schule entfernt, in der Sumaya zwei Jahre vorher noch
Schülerin war. Gila hatte keine Erleuchtung, wie der Rabbiner Saulus, der nach
seinem Damaskuserlebnis zum Paulus wurde. Sie begann, ihre Meinungen von Grund
auf zu verändern, als die israelische Armee 1982 auf dem Weg nach Beirut im
Libanon Verwüstung anrichtete.
Sie ist heute eine der radikalsten Aktivistinnen für Frieden und
Menschenrechte. Ich selbst habe einige Male erlebt, wie Gila Svirsky bei
stürmischen Demonstrationen Soldatenketten durchbrach. Einmal, im glühenden
Hochsommer, nicht weit von Sumayas Schule, als Soldaten uns den Weg in ein
belagertes palästinensisches Dorf verweigerten, setzten wir uns auf den heißen
Straßenasphalt – wie auf einen brennenden Ofen – und versperrten so den
Siedlern, Gilas ehemaligen Kameraden, die Landstrasse. Ich war dabei, als Gila
und Sumaya gemeinsam, in der ersten Reihe, einen Friedensmarsch durch das
arabische und israelische Jerusalem anführten, entlang der herrlichen 500 Jahre
alte Mauer. Die tägliche Zusammenarbeit israelischer und palästinensischer
Friedensaktivisten ist ein Licht, das auch in der heutigen Dunkelheit leuchtet.
Es ist ein gemeinsamer Marsch in eine gemeinsame Zukunft – eine Zukunft in der
die Staaten Israel und Palästina nebeneinander und zusammen leben werden, mit
Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt, mit der Grenze von 1967, der sog. Grünen
Linie als offene Grenze, ohne Siedlungen und mit einer gerechten Lösung des
Flüchtlingsproblems.
In dieser Zukunft werden Gila und Sumaya keine Ausnahmen mehr
sein, wie sie es heute noch sind. Es ist allerdings eine kaum zu erklärende
Tragödie, dass wirkliche, konsequente und systematische Zusammenarbeit
israelischer und palästinensischer Friedenskräfte bis heute nur punktuell
zustande gekommen ist. Um so mehr gebührt Gila und Sumaya für ihre geduldigen
Bemühungen unsere besondere Anerkennung. Die Zusammenarbeit selbst dieser beiden
Frauen war keineswegs einfach. Der Dialog zwischen ihnen – wie ihn Sumaya in
ihrem zweiten Buch beschreibt - war hart, oft sogar schmerzlich, aber
grundehrlich. Diese Ehrlichkeit ist eine Vorbedingung für wirkliche Versöhnung
zwischen den beiden Völkern, deren nationale Narrative vollkommen verschieden,
ja gegensätzlich, sind.
Aber, auch wenn ein Frieden am Ende zustande kommen wird, für uns
ein unbedingtes Muss, wird der gemeinsame Kampf Sumayas und Gilas noch nicht zu
Ende sein. Denn sie, ja wir alle haben – noch eine dritte Front: den Kampf um
die Stellung der Frau in einer modernen Gesellschaft. Für Sumaya wird das viel
schwerer sein als für Gila. Der Staat Palästina, der nach so viel Blutvergießen
entstehen wird, wird am Anfang auf die bestehenden patriarchalischen
Lebensformen der palästinensischen Gesellschaft sich gründen. In ihrem ersten
Buch, "Thymian und Steine", erzählt Sumaya wie ihre Vorfahren sich in Birseit
niedergelassen haben: Als im Hause ihres Urahn Farach ein Mädchen geboren wurde,
kamen die Nachbarn, um ihm Trost zu spenden, weil es kein Sohn war. Ein fremder
Gast, ein Moslem, sprach auch seinen Trost aus, und Farach erwiderte, nach
arabischer Art, "Das Kind sei dir geschenkt." Das waren leere Worte der
Gastfreundschaft, aber nach 16 Jahren kam der Gast wieder und forderte das
Mädchen. Der Vater bereute den Ausspruch, nicht weil das Mädchen einen eigenen
Willen hatte – das war ja undenkbar – sondern weil der Mann ein Moslem war, und
Farach ein Christ. So floh er mit der ganzen Familie in die Berge, und die
Familie kam nach Birseit.
Das war vor vielen Jahren, aber auch Sumaya selbst musste für den
von ihr gewählten Lebensweg kämpfen. Als junges Mädchen wurde sie von ihrem
älteren Bruder tyrannisiert, denn in einem arabischen Haushalt, auch in einem
christlichen, zählten Mädchen nicht. Mit 14 Jahren wollte ihr Großvater sie, wie
üblich, mit einem Verwandten verheiraten. Gegen jede Sitte, weigerte Sumaya
sich. Wie sie schreibt: "Großvaters Schock was so groß, dass er kein Wort
hervorbrachte und das Haus verließ." Heute spielt Sumaya in palästinensischen
Frauenorganisationen eine führende Rolle. Im Freiheitskrieg der Palästinenser
spielen Frauen eine wichtige Rolle, aber in der Gesellschaft sind sie weit davon
entfernt, gleichberechtigt zu sein. Frauen wie Sumaya werden noch lange zu
kämpfen haben, um innerhalb ihrer Gesellschaft, langsam und stufenweise, dieses
Ziel zu erreichen.
Auch Gila ist eine entschiedene Feministin. Die Situation der
Frauen in der israelischen Gesellschaft ist zwar unvergleichlich besser als die
ihrer arabischen Kolleginnen, aber auch sie ist noch weit von einer wirklichen
Gleichberechtigung entfernt. Sumaya und Gila können sich gegenseitig helfen.
Keine Gesellschaft kann gedeihen, wenn sie auf die volle Beteiligung einer
ganzen Hälfte der Bevölkerung verzichtet. Darum ist es nicht nur eine Sache der
Frauen, es ist auch Sache der Männer, sich für Gleichberechtigung einzusetzen.
Im Kampf um Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte stehen die
Frauen in der vordersten Linie. Dadurch fördern sie auch ihr Recht auf
Gleichberechtigung. Sumaya Farhat-Naser und Gila Svirsky können dabei als gute
und lebendige Vorbilder dienen.
Liebe Sumaya, liebe Gila, Es ist mir eine Ehre, euch beide zu
würdigen. In dieser schönen alten Stadt, weit entfernt von unserem gemeinsamen
Schlachtfeld sehen wir, wie ein normales, friedliches Leben aussehen kann.
Keiner von uns hat je einen so friedlichen Tag in unserem Lande erlebt. Aber
morgen geht es wieder zurück in den Kampf, in den Kampf um Gerechtigkeit und
Frieden. Schalom. Salaam."
hagalil.com
26-11-2002 |