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Jüdische Weisheit
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"Jeden Tag werden wir dümmer":
Solidarität: Mit wem? – Rückkehr: Wohin?

Von Hanno Loewy

"Jeden Tag werden wir dümmer." Mit diesen Worten begann ich mich im April 2002 in einem Essay über mich selber zu ärgern. Und über die Hilflosigkeit, mit der ich auf den eskalierenden Konflikt um Israel und Palästina reagierte – und immer noch reagiere. Daraus wurde ein Text, der in der Wochenzeitung Die Zeit erschien und über den sich andere geärgert haben und den ich nun selbst, ohne die Kürzungen der Redaktion, wieder einmal lese:

Jeden Tag werden wir dümmer. Die Gewalt in Israel und Palästina eskaliert und ein amerikanischer Präsident kann auf den Tisch schlagen und "Genug!" rufen – die Nachricht kommt und verraucht wie der Wetterbericht der letzten Woche.

Täglich werden Solidarisierungen verlangt und geleistet. Bekenntnisse für die einen, gegen die anderen. Jeden Tag korrumpiert die Gewalt das Denken und Handeln. "Arafat gleich Hitler" skandieren die einen, "Sharon gleich Hitler" die anderen. Die Rhetorik der Vernichtung fordert Tribut, eine Rhetorik, die freilich immer nur von der Vernichtung handelt, die die jeweils andere Seite im Sinn habe. Und angesichts drohender Vernichtung sei fast alles erlaubt. Oder alles?

Nennen wir die Realitäten beim Namen. Der Staat Israel hält seit 1967 gegen jedes Völkerrecht Territorien besetzt, deren Bevölkerung er täglich schikaniert und erniedrigt. Nur dies verhindere, so heißt es, die eigene Vernichtung. Hunderttausende Palästinenser folgten 1948 ihren Führern und flohen, teils gewaltsam vertrieben, teils mit der trügerischen Aussicht auf gewaltsame Rückkehr, aus ihren Städten und Dörfern, ohne dass das ihnen angetane Unrecht anerkannt worden wäre. Und viele träumen bis heute davon, die Juden "ins Meer zu treiben". Die Palästinensische Führung, inklusive Arafat, hat vor zwei Jahren ein weitreichendes, wenn auch in vieler Hinsicht unzureichendes Friedensangebot der israelischen Regierung nicht mit einer anderen, alternativen Friedensoption beantwortet, sondern mit der Ermunterung von Selbstmordmassakern, die nicht nur jeden Zivilisten zum potenziellen Opfer, sondern vor allem jeden Palästinenser zur potenziellen Bombe machen. Die israelische Führung hat nun ein ebenso beispielloses – wenn auch sicherlich unzureichendes – Friedensangebot fast der gesamten arabischen Welt wie Luft behandelt und stattdessen einen Rachefeldzug in die palästinensische Zivilbevölkerung getragen, mit dem Argument, dort hielten sich die Täter verborgen. Wo denn sonst? Und Sharons Versprechen, der Hydra der Selbstmordattentate die Köpfe abzuschlagen, hat sich als tödliches Hirngespinst eines Mannes erwiesen, der ebenso wie Arafat Gefangener seiner eigenen Taktik geworden ist. Nur dass er, anders als Arafat, nicht unter Hausarrest steht.

Diese nach beiden Seiten "ungerechte" Liste, lässt sich beliebig verlängern. Und keine Seite wird je mit ihr zufrieden sein.

Die Konfliktparteien verstehen zu wollen, wohin führt es? Auf den Ostermärschen war vom Verständnis für Selbstmordattentate die Rede. Und die angesichts antisemitischer Gewalt in Europa zu Recht beunruhigten Vertreter jüdischer Gemeinden üben sich in Rechtfertigung für die Politik eines rechtsradikalen Abenteurers, mit dem noch vor Jahren kaum einer gerne am Tisch gesessen hätte.

Wen nimmt dies hierzulande Wunder? Dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel fällt zur Gewalt in Israel und Palästina kein intelligenterer Titel ein als das antisemitische Stereotyp "Auge um Auge. Der biblische Krieg". Wenn in Nordirland Katholiken und Protestanten, in Ex-Jugoslawien Serben und Kroaten, in Indien Moslems und Hindus oder in Afrika Tutsi und Hutu sich – oder die einen die anderen – massakrieren, dann spricht niemand von biblischen Kriegen. Doch die "Ursachenforschung" zur Gewalt im Nahen Osten weicht gerne ins Grundsätzliche aus. Wer manche deutschen Zeitungen verfolgt, wird den Eindruck nicht los, als koche so manche trübe Suppe auf diesem Feuer.

Die Frankfurter Rundschau meldet jeden Tag in großen Titeln Israels neueste gewaltsame Schritte. Und in kleinen Lettern darunter die neuesten Attentate. Wer soll darin nicht eine "klammheimliche" Parteinahme sehen? Nicht zuletzt aber ein Kommentar in der Zeit, veröffentlicht zum 9. November 2001, konnte kaum anders verstanden werden, als beschäftige sich die deutsche Öffentlichkeit nicht mit dem Nahostkonflikt, sondern mit den eigenen Projektionen auf "die Juden". Aus Christoph Dieckmann hat es da gesprochen, in Sätzen wie: "War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote offenbarte, unterwegs nach einem verheißenen Land, in dem aber längst andere Menschen lebten? Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag?" Und: "Niemals vergesse ich, wie am zehnten Jahrestag der deutschen Einheit der Palästinenserknabe Mohammed al-Durra in den Armen seines Vaters erschossen wurde." Was sich da in altertümelnder Sprache Bahn brach, war sicher ein Ausrutscher. Doch sind die Ausrutscher nicht die Momente der Ehrlichkeit? Nicht zufällig endete Dieckmanns Bekenntnis mit den "Genen der Völker". Was wollte er uns damit sagen?

Solange die Wahrnehmung der Gewalt in den deutschen Medien immer wieder nur die eigenen, geschichtsgeladenen "Schuld"-Phantasien beflügelt (Auschwitz-Vergleiche aller Art), wird von den jüdischen Gemeinden in Deutschland nur wenig kritische Distanz zur israelischen Regierungspolitik erwartet werden können.

Dies ist ebenso fatal wie die Versuche, eine Neudefinition deutscher Außenpolitik auf dem Rücken von Ressentiments und "Tabubrüchen" zu starten. Dass Joschka Fischer sich von Karl Lamers (CDU) vorwerfen lassen muss, man höre aus ihm "die Israelis sprechen", mag ein Treppenwitz politischer Profilneurosen sein. Aber dass Bundeskanzler Schröder den Vorwahlkampf mit den Grünen mit der Ankündigung befeuern will, man würde über den Einsatz deutscher Soldaten im Nahen Osten nachdenken, offenbart ein erschreckendes Maß von Desinteresse an dem realen Konflikt.

Was also bleibt noch jenseits blinder Solidarität? Es wäre unwahrhaftig, zu verheimlichen, aus welcher Perspektive sich mir diese Fragen stellen. Ohne das jüdische Siedlungsprojekt in Palästina hätten meine Eltern den Holocaust wahrscheinlich nicht überlebt. Sie haben sich dennoch dafür entschieden, nach Deutschland zurückzukehren, was keine populäre Entscheidung war. Was bleibt ist Verbundenheit, aber nicht blinde Gefolgschaft, Verwandtschaft, aber eben nicht "Identität".

Ich jedenfalls bin kein Israeli, sondern Jude (und meinetwegen auch deutscher Staatsbürger). Doch wo täglich gewaltsam gestorben wird, werden andere, eindeutigere Identitäten verlangt. Vielleicht ist es Zeit, sie zu verweigern. Vielleicht ist es Zeit, darüber nachzudenken, worin Solidarität wirklich bestehen kann, in den Schranken der Zivilisation und den Regeln des internationalen Rechts. Solidarität mit den Israelis, kann es sie heute noch geben ohne Solidarität mit den Palästinensern? Der Krieg im Nahen Osten nimmt jeden Tag mehr die Züge eines Bürgerkrieges an, ohne dass die Akteure auf beiden Seiten Bürger desselben Staates wären. Noch greift der Konflikt nicht auf die arabischen Bürger Israels über, die verängstigt, selbst bedroht durch die Selbstmordmörder und zugleich strukturell benachteiligt – in einem Staat, der vorgibt ein "jüdischer" zu sein –, jeden Tag aufs neue hoffen, nicht hineingezogen zu werden in diesen Strudel der Gewalt. "Bürgerkrieg": ein schiefes, aber nahe liegendes Bild für einen Konflikt, der längst keine Unterschiede zwischen Zivilisten und Kombattanten mehr kennt, der auf einem Territorium ausgetragen wird, dessen innere Grenze eine Waffenstillstandslinie ist, auf deren beiden Seiten sich im Grunde dieselben Akteure befinden, nur in anderen Mehrheitsverhältnissen: Juden und Palästinenser, oder genauer: jüdische und arabische Israelis und arabische, aber auch jüdische Palästinenser. (Denn auch in Hebron mit seiner alten jüdischen Gemeinde werden in Zukunft Juden leben wollen.) Oder denkt jemand im Ernst daran, die Zweistaatlichkeit, von der alle wissen, dass sie die einzige Lösung sein kann, könnte in ethnisch oder religiös homogene Staaten münden? Von Ex-Jugoslawien könnten wir mittlerweile gelernt haben, dass die Bürgerkriege nicht enden, solange sich die Nachfolgestaaten ethnisch definieren wollen.

"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", sagt eine israelische Regierung, die sich längst mit Israel gleichgesetzt hat, und Schlimmeres: die jeden Versuch einer postzionistischen Definition der israelischen Nation erstickt. Israel sei kein israelisches Projekt, Israel sei "ein weltweites jüdisches Projekt", erklärt Sharon und bringt mit diesen Worten nichts anderes zum Ausdruck, als dass Israel eben nicht das Land seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürger sei, sondern ein "Projekt", an dem ein Teil seiner Bevölkerung nicht teilhat. Man sollte sich keine Illusionen machen: Die Vorstellungen der meisten palästinensischer Führer über den zukünftigen Staat Palästina sehen nicht besser aus.

So widern mich Ostermärsche an, auf denen die Selbstverteidigung von "Kulturen" gepriesen wird, und so bin ich, als in Frankfurt zu Recht für Israel und gegen Terror demonstriert wurde, zu Hause geblieben und habe weiter darauf gewartet, dass einmal eine Demonstration für Israel und Palästina, gegen Besatzung und Terror stattfindet. Dass endlich aufgehört wird nach den "Schuldigen" in diesem Konflikt zu suchen, dass darauf verzichtet wird, Rechtfertigungen für Unrechtfertigbares auszudenken, nach "dem Böseren" hinter der bösen Tat zu suchen – und eine Politik begonnen wird, die davon ausgeht, dass beide Seiten die Grenze dessen, was völkerrechtlich und menschenrechtlich erlaubt sein kann (wenn es Völkerrecht und Menschenrecht noch geben soll), dessen, was aus welchen eigenen Interessen, Bindungen, Schwächen auch immer noch tolerierbar ist, längst hinter sich gelassen haben. Die beiden Seiten wirksam mit Sanktionen droht, wenn dieser Weg nicht verlassen und bedingungslos miteinander verhandelt wird. Und so absurd es klingen mag: Viele Freunde in Israel warten sehnsüchtig auf ein Zeichen, dass die Welt draußen diesen kollektiven Selbstmord nicht länger hinnimmt.

Das einzige was mir persönlich einstweilen bleibt, ist, mein von Israel erklärtes "Rückkehrrecht", jene Fiktion einer angeborenen Zugehörigkeit zur israelischen Nation, die ich weder beantragt noch je gewünscht habe, in aller Form "zurückzugeben". So sehr dieses Rückkehrrecht nach dem Holocaust historisch zu begründen war – wenn Juden meiner Generation Israelis werden wollen, welches Privileg gegenüber einer 1948 aus Jaffa vertriebenen Familie wollen wir eigentlich geltend machen?

Nicht um eine Distanzierung von den Menschen in Israel geht es. Im Gegenteil: um die Möglichkeit einer Solidarität, die tatsächlich gebraucht wird. Eine Solidarität, die keine Angelegenheit der Juden der Diaspora alleine wäre, sondern eines jeden, der in Zukunft in einer offenen Welt ziviler Gesellschaften und nicht in einem Zellenblock ethnisch, "kulturell" abgeschotteter Zwangsgemeinschaften leben möchte.

Amos Oz hat einmal die Hoffnung ausgedrückt, auf der Bühne des Nahostkonfliktes könnte es einmal zu einer Tschechowschen Lösung kommen: Wenn der Vorhang fällt, sind alle auf der Bühne unzufrieden. Aber immerhin: Sie leben. Die wahrscheinlichere Alternative scheint das Ende einer Shakespeareschen Tragödie: Die Ideale von Rache und Ehre haben triumphiert, aber auf der Bühne liegen nur noch die Leichen der Helden und Antihelden. Es wird Zeit, an eine dritte Lösung zu denken: Das internationale Publikum, allen voran das amerikanische, könnte endlich intervenieren, die Bühne stürmen. Dort wird längst kein Theater mehr gespielt.
(Leicht gekürzt erschienen in Die Zeit, 17/2002)

* * *

Nun ist ein Jahr vorübergegangen, und ich frage mich, wie dumm wir mittlerweile eigentlich sind. Aus meinem Fenster blicke ich auf den Campus einer amerikanischen Hochschule. In der Ruhe vor dem Sturm hat es mich für ein paar Wochen als Scholar in Residence an die Rutgers University nach New Jersey verschlagen. Mit gemischten Gefühlen warte ich auf die amerikanische Intervention, die nun keineswegs auf der israelisch-palästinensischen Bühne stattfinden soll, sondern in Bagdad – und über deren Sinn und Unsinn, deren völkerrechtliche Fragwürdigkeit und deren möglichen realpolitischen Sinn, deren moralische Verwerflichkeit und deren mögliche paradoxe Rechtfertigung ich an dieser Stelle weder mit mir selbst noch mit anderen einig bin. Und ich frage mich, ob wir auch in dieser Hinsicht in einigen Wochen noch dümmer oder durch die Macht von Fakten über irgendetwas "aufgeklärter" sein werden.

Mit dem Blick auf Jerusalem, auf Tel Aviv und Gaza, auf Haifa und Ramallah: Hat irgendjemand in diesem vergangenen Jahr etwas lernen können? Die Fronten erscheinen härter denn je, das Dilemma auswegloser als zuvor. Die Selbstmordattentate gehen weiter. Sharon träumt weiter davon, Arafat aus dem Lande zu schaffen. Und wenn der Krieg im Irak tatsächlich beginnt, zu welchem Irrsinn werden sich beide Seiten im Schatten der großen Nachrichten noch hinreißen lassen?

Doch je länger ich darüber nachdenke, umso weniger weiß ich, ob eine Friedenslösung für den Nahen und Mittleren Osten von einer Lösung des israelischen Konflikts ausgehen kann oder ob nicht gerade das Gegenteil der Fall ist. Muss jene Dynamik der tödlichen und totalitären Bedrohung der arabischen und islamischen Nationen und Bevölkerungen, politischen Parteiungen und ethnisierten Gruppen untereinander, sei es in zwischenstaatlichen Konkurrenzen und Kriegen, sei es in inneren sozialen Konflikten und Bürgerkriegen nicht zuerst unterbrochen werden, um überhaupt eine andere Perspektive für Israel und Palästina zuzulassen. (Die israelische Politik hat in dieser Beziehung noch nie eine produktive Rolle gespielt, um es milde auszudrücken, aber ausgelöst hat sie diese Dynamik nicht.) Stimmt es denn wirklich, dass es der Konflikt zwischen Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern ist, der diese Region der Welt nicht zur Ruhe kommen lässt, oder ist es nicht möglicherweise genau umgekehrt? Sind Israelis und Palästinenser nicht so etwas wie Geiseln eines potenziellen und immer wieder auch ganz realen Kriegs zwischen den postkolonialen Nationen und Völkern, Eliten und sozialen Gruppen, der diese Region in Atem hält und in dem die einzige Gemeinsamkeit, die einzige gemeinsame Sprache, die die Kontrahenten miteinander finden (und Gegner müssen sich ja auch auf etwas beziehen können), ein Amalgam aus Antisemitismus und antiwestlichem Identitätswahn darstellt? Wenn soziale Bewegungen in arabischen Ländern den Aufstand proben, dann benutzen sie den Antizionismus als Sprache, mit der sie ihre eigenen Regierungen vorführen und sich gleichzeitig als die wahren Vertreter arabischer Interessen inszenieren. So wird soziale Bewegung gegen autoritäre Macht zur antidemokratischen Bewegung. Für eine Linke, die nach Anknüpfungspunkten für Solidarität sucht, erweist sich dies als teuflische Falle.

Um sich Legitimation zu verschaffen, Anhänger, Loyalität in den sozialen Auseinandersetzungen, nationalen Konkurrenzen und religiösen Kämpfen um Deutungsmacht, bedarf es nicht nur des Feindes, sondern auch eines unsichtbaren Dritten, eines Feindes hinter dem Feind. Nur so kann der Kampf gegen den anderen auch als Kampf um dessen Anhänger geführt werden. Nur so kann der Kampf um Einfluss und Macht, um Ressourcen und Gefolgschaft als moralischer Krieg um den wahren Islam, um die wahre Identität, um Dominanz geführt werden. So nimmt jeder Führer für sich in Anspruch, der wahre Kämpfer gegen die Juden, gegen den Westen, gegen Amerika zu sein. Eine fatale Konkurrenz, die die Radikalisierung vorantreibt und Verschwörungstheorien aller Art, vor allem aber mit antisemitischer Spitze, fast unweigerlich hervorbringt.

Antisemitismus ist im postkolonialen geographischen Raum der Globalisierung (und der reicht bekanntlich bis in die Pariser Vorstädte, bis nach Amsterdam und London und auf seine Weise auch nach Berlin) zu einer universellen Verschwörungstheorie geworden, die den eigenen Gegner, den tatsächlichen Konkurrenten zugleich als Opfer finsterer Machenschaften eines dritten Akteurs hinter der Szene begreift. So ist es z.B. kein Zufall, welchen Erfolg die "Protokolle der Weisen von Zion" im ägyptischen Fernsehen als groß angelegte Serie haben. Der Plot der Verschwörung braucht im übrigen keine rassistische Folie. Der postkoloniale Antisemitismus, der heute den Mittelmeerraum und die arabische und islamische Welt zu dominieren beginnt, ist so wenig rassistisch, wie er "islamisch" ist. Er bedient ein Bedürfnis, das unmittelbar aus der sozialen und politischen Wirklichkeit entstammt, die die Auflösung der Kolonialreiche und Imperien hinterlassen hat. Im ungleichen Verhältnis zu den Industrienationen, in der Falle ökonomischer Monokulturen, die auf Rohstoffen beruhen, und in der Sackgasse ausgebliebener Demokratisierung und Säkularisierung artikuliert sich der Herrschaftsanspruch der lokalen Eliten als Identitätspolitik. Wo Globalisierung nicht nur in die Universalisierung von Markt führen darf, sondern auch die Globalisierung von Menschenrechten eingeklagt werden müsste, wird ethnischer und religiöser Solipsismus im Namen "unterdrückter Völker" gepredigt. Und damit jene fatale Ungleichgewichtigkeit der Marktglobalisierung nur potenziert, die den längst grenzenlosen Finanzmärkten weiterhin national begrenzte, Arbeitsmigration verhindernde Arbeitsmärkte entgegensetzt.

So halten sich selbst die Immigranten-Communities in Europa mittlerweile an antisemitische Verschwörungstheorien, die ihnen trügerisches "Selbstbewusstein" verschaffen, und dies tritt häufig an die Stelle von bürgerrechtlichem Engagement, das doch die Bedingungen des Eintritts in die Einwanderungsgesellschaft immer wieder neu aushandeln muss. So bleibt den Palästinensern scheinbar keine andere Rolle, als die Märtyrer für islamische Radikale in aller Welt abzugeben, statt ihren eigenen Interessen nachzugehen.

Auf der anderen Seite spielt wachsender Antisemitismus eben jener Deutung in die Hände, die Israel bis heute vor allem als rettenden Hafen sieht und aufrüstet, als "Projekt der Juden aller Welt" und nicht als zivile Gesellschaft, als Staat seiner Bürger, seien sie nun Juden, Muslime oder Christen, Juden oder Araber. Und Fundamentalismus in der westlichen – sowohl christlichen wie auch jüdischen – Welt treibt Israel als Stellvertreter nur weiter in eine ethnisch-religiös aufgeladene Konfrontation hinein, in der es nichts zu gewinnen gibt.

So treiben Israelis und Palästinenser weiterhin auf Wellen der "Solidarität", die sie gegeneinander ausspielen. "Solidaritäten", die mit den Lebensinteressen und Sicherheitsbedürfnissen wenig, mit Identitätspolitiken anderswo in der Welt aber sehr viel zu tun haben. Kräften, die an einer Lösung des Konflikts gar nicht interessiert sind.

Wenn irgendwann einmal beide Seiten es sich endlich herausnehmen werden, miteinander Tacheles zu reden, wenn man ihnen die Chance dazu auch gibt, wenn irgendwann einmal darüber gesprochen werden kann, wie im Nahen Osten auf dem Territorium von Israel und Palästina zwei Nationen (und nicht zwei archaische "Völker") in Frieden miteinander existieren können, dann werden beide Seiten nicht nur ihre realen Ansprüche, sondern vor allem ihre symbolischen Ansprüche miteinander versöhnen müssen.

Wenn vom "Rückkehrrecht" die Rede ist, dann hört man davon zumeist aus palästinensischem Munde. Doch so schmerzhaft es für die Palästinenser sein wird, auch sie werden begreifen müssen, dass es keinen Frieden geben wird, solange beide Seiten den demographischen Status quo grundsätzlich in Frage stellen: durch eine gegen alle Vernunft fortgesetzte Siedlungspolitik oder durch kompromisslos artikulierte Ansprüche auf massenhafte palästinensische Rückkehr ins eigentliche israelische Staatsgebiet (wenn wir die Grenzen von 1967 pragmatischerweise als solches bezeichnen), eine Rückkehr, von der jeder weiß, dass sie auf dem Wege der Kompensation gelöst werden muss, und die ein pragmatisches politisches Problem kurzer Dauer sein wird, wenn sie einmal angegangen wird.

Israel wird nur dann ein Land mit sicheren Grenzen sein, wenn es der Staat seiner Bürger sein wird und nicht das Projekt der Juden der Welt. Denn nur dann werden seine Grenzen nicht von innen in Frage gestellt, durch eine "Einwanderungspolitik", die keine Grenzen kennt. Durch ein "Rückkehrgesetz", das die Souveränität in der zentralsten Frage überhaupt, nämlich wer israelischer Staatsbürger ist, aufgibt und außerhalb der Souveränität des israelischen Staates religiösen Autoritäten überantwortet. Palästina wird nur dann ein Staat mit sicheren Grenzen sein, wenn es ebenfalls der Staat seiner Bürger werden wird, und nicht das Projekt einer palästinensischen Diaspora, deren historische Ansprüche sich genauso auf Territorien außerhalb Palästinas erstrecken. Auf dem Weg dorthin wird es Entschädigungen geben müssen. Es wird ein Angebot an die Siedler geben müssen, sich zu entscheiden, ob sie Israelis bleiben wollen und in Israel leben oder ob sie in Palästina leben und Palästinenser werden wollen.

Es wird eine Übergangsregelung geben müssen, die das israelische Rückkehrgesetz, das auf der Erfahrung des Holocaust beruht, zeitlich befristet und in ein modernes Einwanderungsrecht überführt, das den Interessen Israels entspricht. All dies setzt vor allem eines voraus: dass zivile Politik an die Stelle eines Krieges um Zugehörigkeit tritt, der die Gesellschaften im Nahen Osten barbarisiert und vernichtet.

Vielleicht ist dazu der Krieg, der in den nächsten Tagen beginnen soll, eine paradoxe Voraussetzung. Vielleicht aber zerstört er genau jene Kräfte, die es in dieser Region noch gibt, die für eine zivile Gesellschaft im Irak und im Iran, in der Türkei und Israel, in Palästina und Ägypten, in Jordanien und im Libanon, in Syrien oder in Saudi-Arabien eintreten.

Jeden Tag werden wir dümmer. Ich gehe mir jetzt die Nachrichten anschauen.

New Brunswick, 15. März 2003

Aus: BUKO (Hg.): radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke, ISBN 3-935936-18-4, Assoziation A, Berlin/Hamburg/Göttingen 2003

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Kann es eine Solidarität mit Israel geben - ohne eine Solidarität mit den Palästinensern?

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