"Jeden Tag werden wir dümmer":
Solidarität: Mit wem? – Rückkehr: Wohin?
Von Hanno Loewy
"Jeden Tag werden wir dümmer." Mit diesen Worten
begann ich mich im April 2002 in einem Essay über mich selber zu
ärgern. Und über die Hilflosigkeit, mit der ich auf den
eskalierenden Konflikt um Israel und Palästina reagierte – und immer
noch reagiere. Daraus wurde ein Text, der in der Wochenzeitung Die
Zeit erschien und über den sich andere geärgert haben und den ich
nun selbst, ohne die Kürzungen der Redaktion, wieder einmal lese:
Jeden Tag werden wir dümmer. Die Gewalt in Israel und
Palästina eskaliert und ein amerikanischer Präsident kann auf den
Tisch schlagen und "Genug!" rufen – die Nachricht kommt und
verraucht wie der Wetterbericht der letzten Woche.
Täglich werden Solidarisierungen verlangt und
geleistet. Bekenntnisse für die einen, gegen die anderen. Jeden Tag
korrumpiert die Gewalt das Denken und Handeln. "Arafat gleich
Hitler" skandieren die einen, "Sharon gleich Hitler" die anderen.
Die Rhetorik der Vernichtung fordert Tribut, eine Rhetorik, die
freilich immer nur von der Vernichtung handelt, die die jeweils
andere Seite im Sinn habe. Und angesichts drohender Vernichtung sei
fast alles erlaubt. Oder alles?
Nennen wir die Realitäten beim Namen. Der Staat
Israel hält seit 1967 gegen jedes Völkerrecht Territorien besetzt,
deren Bevölkerung er täglich schikaniert und erniedrigt. Nur dies
verhindere, so heißt es, die eigene Vernichtung. Hunderttausende
Palästinenser folgten 1948 ihren Führern und flohen, teils gewaltsam
vertrieben, teils mit der trügerischen Aussicht auf gewaltsame
Rückkehr, aus ihren Städten und Dörfern, ohne dass das ihnen
angetane Unrecht anerkannt worden wäre. Und viele träumen bis heute
davon, die Juden "ins Meer zu treiben". Die Palästinensische
Führung, inklusive Arafat, hat vor zwei Jahren ein weitreichendes,
wenn auch in vieler Hinsicht unzureichendes Friedensangebot der
israelischen Regierung nicht mit einer anderen, alternativen
Friedensoption beantwortet, sondern mit der Ermunterung von
Selbstmordmassakern, die nicht nur jeden Zivilisten zum potenziellen
Opfer, sondern vor allem jeden Palästinenser zur potenziellen Bombe
machen. Die israelische Führung hat nun ein ebenso beispielloses –
wenn auch sicherlich unzureichendes – Friedensangebot fast der
gesamten arabischen Welt wie Luft behandelt und stattdessen einen
Rachefeldzug in die palästinensische Zivilbevölkerung getragen, mit
dem Argument, dort hielten sich die Täter verborgen. Wo denn sonst?
Und Sharons Versprechen, der Hydra der Selbstmordattentate die Köpfe
abzuschlagen, hat sich als tödliches Hirngespinst eines Mannes
erwiesen, der ebenso wie Arafat Gefangener seiner eigenen Taktik
geworden ist. Nur dass er, anders als Arafat, nicht unter Hausarrest
steht. Diese nach beiden Seiten
"ungerechte" Liste, lässt sich beliebig verlängern. Und keine Seite
wird je mit ihr zufrieden sein.
Die Konfliktparteien verstehen zu wollen, wohin führt
es? Auf den Ostermärschen war vom Verständnis für
Selbstmordattentate die Rede. Und die angesichts antisemitischer
Gewalt in Europa zu Recht beunruhigten Vertreter jüdischer Gemeinden
üben sich in Rechtfertigung für die Politik eines rechtsradikalen
Abenteurers, mit dem noch vor Jahren kaum einer gerne am Tisch
gesessen hätte. Wen nimmt dies
hierzulande Wunder? Dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel fällt zur
Gewalt in Israel und Palästina kein intelligenterer Titel ein als
das antisemitische Stereotyp "Auge um Auge. Der biblische Krieg".
Wenn in Nordirland Katholiken und Protestanten, in Ex-Jugoslawien
Serben und Kroaten, in Indien Moslems und Hindus oder in Afrika
Tutsi und Hutu sich – oder die einen die anderen – massakrieren,
dann spricht niemand von biblischen Kriegen. Doch die
"Ursachenforschung" zur Gewalt im Nahen Osten weicht gerne ins
Grundsätzliche aus. Wer manche deutschen Zeitungen verfolgt, wird
den Eindruck nicht los, als koche so manche trübe Suppe auf diesem
Feuer. Die Frankfurter
Rundschau meldet jeden Tag in großen Titeln Israels neueste
gewaltsame Schritte. Und in kleinen Lettern darunter die neuesten
Attentate. Wer soll darin nicht eine "klammheimliche" Parteinahme
sehen? Nicht zuletzt aber ein Kommentar in der Zeit, veröffentlicht
zum 9. November 2001, konnte kaum anders verstanden werden, als
beschäftige sich die deutsche Öffentlichkeit nicht mit dem
Nahostkonflikt, sondern mit den eigenen Projektionen auf "die
Juden". Aus Christoph Dieckmann hat es da gesprochen, in Sätzen wie:
"War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote offenbarte,
unterwegs nach einem verheißenen Land, in dem aber längst andere
Menschen lebten? Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt
dafür mit Tod und tötet jeden Tag?" Und: "Niemals vergesse ich, wie
am zehnten Jahrestag der deutschen Einheit der Palästinenserknabe
Mohammed al-Durra in den Armen seines Vaters erschossen wurde." Was
sich da in altertümelnder Sprache Bahn brach, war sicher ein
Ausrutscher. Doch sind die Ausrutscher nicht die Momente der
Ehrlichkeit? Nicht zufällig endete Dieckmanns Bekenntnis mit den
"Genen der Völker". Was wollte er uns damit sagen?
Solange die Wahrnehmung der Gewalt in den deutschen
Medien immer wieder nur die eigenen, geschichtsgeladenen
"Schuld"-Phantasien beflügelt (Auschwitz-Vergleiche aller Art), wird
von den jüdischen Gemeinden in Deutschland nur wenig kritische
Distanz zur israelischen Regierungspolitik erwartet werden können.
Dies ist ebenso fatal wie die Versuche, eine
Neudefinition deutscher Außenpolitik auf dem Rücken von
Ressentiments und "Tabubrüchen" zu starten. Dass Joschka Fischer
sich von Karl Lamers (CDU) vorwerfen lassen muss, man höre aus ihm
"die Israelis sprechen", mag ein Treppenwitz politischer
Profilneurosen sein. Aber dass Bundeskanzler Schröder den
Vorwahlkampf mit den Grünen mit der Ankündigung befeuern will, man
würde über den Einsatz deutscher Soldaten im Nahen Osten nachdenken,
offenbart ein erschreckendes Maß von Desinteresse an dem realen
Konflikt. Was also bleibt noch
jenseits blinder Solidarität? Es wäre unwahrhaftig, zu
verheimlichen, aus welcher Perspektive sich mir diese Fragen
stellen. Ohne das jüdische Siedlungsprojekt in Palästina hätten
meine Eltern den Holocaust wahrscheinlich nicht überlebt. Sie haben
sich dennoch dafür entschieden, nach Deutschland zurückzukehren, was
keine populäre Entscheidung war. Was bleibt ist Verbundenheit, aber
nicht blinde Gefolgschaft, Verwandtschaft, aber eben nicht
"Identität". Ich jedenfalls bin
kein Israeli, sondern Jude (und meinetwegen auch deutscher
Staatsbürger). Doch wo täglich gewaltsam gestorben wird, werden
andere, eindeutigere Identitäten verlangt. Vielleicht ist es Zeit,
sie zu verweigern. Vielleicht ist es Zeit, darüber nachzudenken,
worin Solidarität wirklich bestehen kann, in den Schranken der
Zivilisation und den Regeln des internationalen Rechts. Solidarität
mit den Israelis, kann es sie heute noch geben ohne Solidarität mit
den Palästinensern? Der Krieg im Nahen Osten nimmt jeden Tag mehr
die Züge eines Bürgerkrieges an, ohne dass die Akteure auf beiden
Seiten Bürger desselben Staates wären. Noch greift der Konflikt
nicht auf die arabischen Bürger Israels über, die verängstigt,
selbst bedroht durch die Selbstmordmörder und zugleich strukturell
benachteiligt – in einem Staat, der vorgibt ein "jüdischer" zu sein
–, jeden Tag aufs neue hoffen, nicht hineingezogen zu werden in
diesen Strudel der Gewalt. "Bürgerkrieg": ein schiefes, aber nahe
liegendes Bild für einen Konflikt, der längst keine Unterschiede
zwischen Zivilisten und Kombattanten mehr kennt, der auf einem
Territorium ausgetragen wird, dessen innere Grenze eine
Waffenstillstandslinie ist, auf deren beiden Seiten sich im Grunde
dieselben Akteure befinden, nur in anderen Mehrheitsverhältnissen:
Juden und Palästinenser, oder genauer: jüdische und arabische
Israelis und arabische, aber auch jüdische Palästinenser. (Denn auch
in Hebron mit seiner alten jüdischen Gemeinde werden in Zukunft
Juden leben wollen.) Oder denkt jemand im Ernst daran, die
Zweistaatlichkeit, von der alle wissen, dass sie die einzige Lösung
sein kann, könnte in ethnisch oder religiös homogene Staaten münden?
Von Ex-Jugoslawien könnten wir mittlerweile gelernt haben, dass die
Bürgerkriege nicht enden, solange sich die Nachfolgestaaten ethnisch
definieren wollen. "Wer nicht
für uns ist, ist gegen uns", sagt eine israelische Regierung, die
sich längst mit Israel gleichgesetzt hat, und Schlimmeres: die jeden
Versuch einer postzionistischen Definition der israelischen Nation
erstickt. Israel sei kein israelisches Projekt, Israel sei "ein
weltweites jüdisches Projekt", erklärt Sharon und bringt mit diesen
Worten nichts anderes zum Ausdruck, als dass Israel eben nicht das
Land seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürger sei, sondern ein
"Projekt", an dem ein Teil seiner Bevölkerung nicht teilhat. Man
sollte sich keine Illusionen machen: Die Vorstellungen der meisten
palästinensischer Führer über den zukünftigen Staat Palästina sehen
nicht besser aus. So widern
mich Ostermärsche an, auf denen die Selbstverteidigung von
"Kulturen" gepriesen wird, und so bin ich, als in Frankfurt zu Recht
für Israel und gegen Terror demonstriert wurde, zu Hause geblieben
und habe weiter darauf gewartet, dass einmal eine Demonstration für
Israel und Palästina, gegen Besatzung und Terror stattfindet. Dass
endlich aufgehört wird nach den "Schuldigen" in diesem Konflikt zu
suchen, dass darauf verzichtet wird, Rechtfertigungen für
Unrechtfertigbares auszudenken, nach "dem Böseren" hinter der bösen
Tat zu suchen – und eine Politik begonnen wird, die davon ausgeht,
dass beide Seiten die Grenze dessen, was völkerrechtlich und
menschenrechtlich erlaubt sein kann (wenn es Völkerrecht und
Menschenrecht noch geben soll), dessen, was aus welchen eigenen
Interessen, Bindungen, Schwächen auch immer noch tolerierbar ist,
längst hinter sich gelassen haben. Die beiden Seiten wirksam mit
Sanktionen droht, wenn dieser Weg nicht verlassen und bedingungslos
miteinander verhandelt wird. Und so absurd es klingen mag: Viele
Freunde in Israel warten sehnsüchtig auf ein Zeichen, dass die Welt
draußen diesen kollektiven Selbstmord nicht länger hinnimmt.
Das einzige was mir persönlich einstweilen bleibt,
ist, mein von Israel erklärtes "Rückkehrrecht", jene Fiktion einer
angeborenen Zugehörigkeit zur israelischen Nation, die ich weder
beantragt noch je gewünscht habe, in aller Form "zurückzugeben". So
sehr dieses Rückkehrrecht nach dem Holocaust historisch zu begründen
war – wenn Juden meiner Generation Israelis werden wollen, welches
Privileg gegenüber einer 1948 aus Jaffa vertriebenen Familie wollen
wir eigentlich geltend machen?
Nicht um eine Distanzierung von den Menschen in Israel geht es. Im
Gegenteil: um die Möglichkeit einer Solidarität, die tatsächlich
gebraucht wird. Eine Solidarität, die keine Angelegenheit der Juden
der Diaspora alleine wäre, sondern eines jeden, der in Zukunft in
einer offenen Welt ziviler Gesellschaften und nicht in einem
Zellenblock ethnisch, "kulturell" abgeschotteter
Zwangsgemeinschaften leben möchte.
Amos Oz hat einmal die Hoffnung ausgedrückt, auf der
Bühne des Nahostkonfliktes könnte es einmal zu einer Tschechowschen
Lösung kommen: Wenn der Vorhang fällt, sind alle auf der Bühne
unzufrieden. Aber immerhin: Sie leben. Die wahrscheinlichere
Alternative scheint das Ende einer Shakespeareschen Tragödie: Die
Ideale von Rache und Ehre haben triumphiert, aber auf der Bühne
liegen nur noch die Leichen der Helden und Antihelden. Es wird Zeit,
an eine dritte Lösung zu denken: Das internationale Publikum, allen
voran das amerikanische, könnte endlich intervenieren, die Bühne
stürmen. Dort wird längst kein Theater mehr gespielt.
(Leicht gekürzt erschienen in Die Zeit, 17/2002)
* * * Nun ist
ein Jahr vorübergegangen, und ich frage mich, wie dumm wir
mittlerweile eigentlich sind. Aus meinem Fenster blicke ich auf den
Campus einer amerikanischen Hochschule. In der Ruhe vor dem Sturm
hat es mich für ein paar Wochen als Scholar in Residence an die
Rutgers University nach New Jersey verschlagen. Mit gemischten
Gefühlen warte ich auf die amerikanische Intervention, die nun
keineswegs auf der israelisch-palästinensischen Bühne stattfinden
soll, sondern in Bagdad – und über deren Sinn und Unsinn, deren
völkerrechtliche Fragwürdigkeit und deren möglichen realpolitischen
Sinn, deren moralische Verwerflichkeit und deren mögliche paradoxe
Rechtfertigung ich an dieser Stelle weder mit mir selbst noch mit
anderen einig bin. Und ich frage mich, ob wir auch in dieser
Hinsicht in einigen Wochen noch dümmer oder durch die Macht von
Fakten über irgendetwas "aufgeklärter" sein werden.
Mit dem Blick auf Jerusalem, auf Tel Aviv und Gaza,
auf Haifa und Ramallah: Hat irgendjemand in diesem vergangenen Jahr
etwas lernen können? Die Fronten erscheinen härter denn je, das
Dilemma auswegloser als zuvor. Die Selbstmordattentate gehen weiter.
Sharon träumt weiter davon, Arafat aus dem Lande zu schaffen. Und
wenn der Krieg im Irak tatsächlich beginnt, zu welchem Irrsinn
werden sich beide Seiten im Schatten der großen Nachrichten noch
hinreißen lassen? Doch je
länger ich darüber nachdenke, umso weniger weiß ich, ob eine
Friedenslösung für den Nahen und Mittleren Osten von einer Lösung
des israelischen Konflikts ausgehen kann oder ob nicht gerade das
Gegenteil der Fall ist. Muss jene Dynamik der tödlichen und
totalitären Bedrohung der arabischen und islamischen Nationen und
Bevölkerungen, politischen Parteiungen und ethnisierten Gruppen
untereinander, sei es in zwischenstaatlichen Konkurrenzen und
Kriegen, sei es in inneren sozialen Konflikten und Bürgerkriegen
nicht zuerst unterbrochen werden, um überhaupt eine andere
Perspektive für Israel und Palästina zuzulassen. (Die israelische
Politik hat in dieser Beziehung noch nie eine produktive Rolle
gespielt, um es milde auszudrücken, aber ausgelöst hat sie diese
Dynamik nicht.) Stimmt es denn wirklich, dass es der Konflikt
zwischen Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern ist, der
diese Region der Welt nicht zur Ruhe kommen lässt, oder ist es nicht
möglicherweise genau umgekehrt? Sind Israelis und Palästinenser
nicht so etwas wie Geiseln eines potenziellen und immer wieder auch
ganz realen Kriegs zwischen den postkolonialen Nationen und Völkern,
Eliten und sozialen Gruppen, der diese Region in Atem hält und in
dem die einzige Gemeinsamkeit, die einzige gemeinsame Sprache, die
die Kontrahenten miteinander finden (und Gegner müssen sich ja auch
auf etwas beziehen können), ein Amalgam aus Antisemitismus und
antiwestlichem Identitätswahn darstellt? Wenn soziale Bewegungen in
arabischen Ländern den Aufstand proben, dann benutzen sie den
Antizionismus als Sprache, mit der sie ihre eigenen Regierungen
vorführen und sich gleichzeitig als die wahren Vertreter arabischer
Interessen inszenieren. So wird soziale Bewegung gegen autoritäre
Macht zur antidemokratischen Bewegung. Für eine Linke, die nach
Anknüpfungspunkten für Solidarität sucht, erweist sich dies als
teuflische Falle. Um sich
Legitimation zu verschaffen, Anhänger, Loyalität in den sozialen
Auseinandersetzungen, nationalen Konkurrenzen und religiösen Kämpfen
um Deutungsmacht, bedarf es nicht nur des Feindes, sondern auch
eines unsichtbaren Dritten, eines Feindes hinter dem Feind. Nur so
kann der Kampf gegen den anderen auch als Kampf um dessen Anhänger
geführt werden. Nur so kann der Kampf um Einfluss und Macht, um
Ressourcen und Gefolgschaft als moralischer Krieg um den wahren
Islam, um die wahre Identität, um Dominanz geführt werden. So nimmt
jeder Führer für sich in Anspruch, der wahre Kämpfer gegen die
Juden, gegen den Westen, gegen Amerika zu sein. Eine fatale
Konkurrenz, die die Radikalisierung vorantreibt und
Verschwörungstheorien aller Art, vor allem aber mit antisemitischer
Spitze, fast unweigerlich hervorbringt.
Antisemitismus ist im postkolonialen geographischen
Raum der Globalisierung (und der reicht bekanntlich bis in die
Pariser Vorstädte, bis nach Amsterdam und London und auf seine Weise
auch nach Berlin) zu einer universellen Verschwörungstheorie
geworden, die den eigenen Gegner, den tatsächlichen Konkurrenten
zugleich als Opfer finsterer Machenschaften eines dritten Akteurs
hinter der Szene begreift. So ist es z.B. kein Zufall, welchen
Erfolg die "Protokolle der Weisen von Zion" im ägyptischen Fernsehen
als groß angelegte Serie haben. Der Plot der Verschwörung braucht im
übrigen keine rassistische Folie. Der postkoloniale Antisemitismus,
der heute den Mittelmeerraum und die arabische und islamische Welt
zu dominieren beginnt, ist so wenig rassistisch, wie er "islamisch"
ist. Er bedient ein Bedürfnis, das unmittelbar aus der sozialen und
politischen Wirklichkeit entstammt, die die Auflösung der
Kolonialreiche und Imperien hinterlassen hat. Im ungleichen
Verhältnis zu den Industrienationen, in der Falle ökonomischer
Monokulturen, die auf Rohstoffen beruhen, und in der Sackgasse
ausgebliebener Demokratisierung und Säkularisierung artikuliert sich
der Herrschaftsanspruch der lokalen Eliten als Identitätspolitik. Wo
Globalisierung nicht nur in die Universalisierung von Markt führen
darf, sondern auch die Globalisierung von Menschenrechten eingeklagt
werden müsste, wird ethnischer und religiöser Solipsismus im Namen
"unterdrückter Völker" gepredigt. Und damit jene fatale
Ungleichgewichtigkeit der Marktglobalisierung nur potenziert, die
den längst grenzenlosen Finanzmärkten weiterhin national begrenzte,
Arbeitsmigration verhindernde Arbeitsmärkte entgegensetzt.
So halten sich selbst die Immigranten-Communities in
Europa mittlerweile an antisemitische Verschwörungstheorien, die
ihnen trügerisches "Selbstbewusstein" verschaffen, und dies tritt
häufig an die Stelle von bürgerrechtlichem Engagement, das doch die
Bedingungen des Eintritts in die Einwanderungsgesellschaft immer
wieder neu aushandeln muss. So bleibt den Palästinensern scheinbar
keine andere Rolle, als die Märtyrer für islamische Radikale in
aller Welt abzugeben, statt ihren eigenen Interessen nachzugehen.
Auf der anderen Seite spielt wachsender
Antisemitismus eben jener Deutung in die Hände, die Israel bis heute
vor allem als rettenden Hafen sieht und aufrüstet, als "Projekt der
Juden aller Welt" und nicht als zivile Gesellschaft, als Staat
seiner Bürger, seien sie nun Juden, Muslime oder Christen, Juden
oder Araber. Und Fundamentalismus in der westlichen – sowohl
christlichen wie auch jüdischen – Welt treibt Israel als
Stellvertreter nur weiter in eine ethnisch-religiös aufgeladene
Konfrontation hinein, in der es nichts zu gewinnen gibt.
So treiben Israelis und Palästinenser weiterhin auf
Wellen der "Solidarität", die sie gegeneinander ausspielen.
"Solidaritäten", die mit den Lebensinteressen und
Sicherheitsbedürfnissen wenig, mit Identitätspolitiken anderswo in
der Welt aber sehr viel zu tun haben. Kräften, die an einer Lösung
des Konflikts gar nicht interessiert sind.
Wenn irgendwann einmal beide Seiten es sich endlich
herausnehmen werden, miteinander Tacheles zu reden, wenn man ihnen
die Chance dazu auch gibt, wenn irgendwann einmal darüber gesprochen
werden kann, wie im Nahen Osten auf dem Territorium von Israel und
Palästina zwei Nationen (und nicht zwei archaische "Völker") in
Frieden miteinander existieren können, dann werden beide Seiten
nicht nur ihre realen Ansprüche, sondern vor allem ihre symbolischen
Ansprüche miteinander versöhnen müssen.
Wenn vom "Rückkehrrecht" die Rede ist, dann hört man
davon zumeist aus palästinensischem Munde. Doch so schmerzhaft es
für die Palästinenser sein wird, auch sie werden begreifen müssen,
dass es keinen Frieden geben wird, solange beide Seiten den
demographischen Status quo grundsätzlich in Frage stellen: durch
eine gegen alle Vernunft fortgesetzte Siedlungspolitik oder durch
kompromisslos artikulierte Ansprüche auf massenhafte
palästinensische Rückkehr ins eigentliche israelische Staatsgebiet
(wenn wir die Grenzen von 1967 pragmatischerweise als solches
bezeichnen), eine Rückkehr, von der jeder weiß, dass sie auf dem
Wege der Kompensation gelöst werden muss, und die ein pragmatisches
politisches Problem kurzer Dauer sein wird, wenn sie einmal
angegangen wird. Israel wird
nur dann ein Land mit sicheren Grenzen sein, wenn es der Staat
seiner Bürger sein wird und nicht das Projekt der Juden der Welt.
Denn nur dann werden seine Grenzen nicht von innen in Frage
gestellt, durch eine "Einwanderungspolitik", die keine Grenzen
kennt. Durch ein "Rückkehrgesetz", das die Souveränität in der
zentralsten Frage überhaupt, nämlich wer israelischer Staatsbürger
ist, aufgibt und außerhalb der Souveränität des israelischen Staates
religiösen Autoritäten überantwortet. Palästina wird nur dann ein
Staat mit sicheren Grenzen sein, wenn es ebenfalls der Staat seiner
Bürger werden wird, und nicht das Projekt einer palästinensischen
Diaspora, deren historische Ansprüche sich genauso auf Territorien
außerhalb Palästinas erstrecken. Auf dem Weg dorthin wird es
Entschädigungen geben müssen. Es wird ein Angebot an die Siedler
geben müssen, sich zu entscheiden, ob sie Israelis bleiben wollen
und in Israel leben oder ob sie in Palästina leben und Palästinenser
werden wollen. Es wird eine
Übergangsregelung geben müssen, die das israelische Rückkehrgesetz,
das auf der Erfahrung des Holocaust beruht, zeitlich befristet und
in ein modernes Einwanderungsrecht überführt, das den Interessen
Israels entspricht. All dies setzt vor allem eines voraus: dass
zivile Politik an die Stelle eines Krieges um Zugehörigkeit tritt,
der die Gesellschaften im Nahen Osten barbarisiert und vernichtet.
Vielleicht ist dazu der Krieg, der in den nächsten
Tagen beginnen soll, eine paradoxe Voraussetzung. Vielleicht aber
zerstört er genau jene Kräfte, die es in dieser Region noch gibt,
die für eine zivile Gesellschaft im Irak und im Iran, in der Türkei
und Israel, in Palästina und Ägypten, in Jordanien und im Libanon,
in Syrien oder in Saudi-Arabien eintreten.
Jeden Tag werden wir dümmer. Ich gehe mir jetzt die
Nachrichten anschauen. New
Brunswick, 15. März 2003
Aus: BUKO (Hg.): radikal global. Bausteine für eine
internationalistische Linke, ISBN 3-935936-18-4, Assoziation A,
Berlin/Hamburg/Göttingen 2003
Blutiger Stillstand
Kann es eine Solidarität mit Israel geben - ohne eine Solidarität
mit den Palästinensern?
hagalil.com
11-08-2003 |