Die Deutschen und das Unrechtsbewußtsein:
Wir sind die Guten
Und für wen wir sind, der kann
nicht schlecht sein. Achtzig Jahre deutscher Kriegs- und
Friedenspropaganda von Löwen bis Halabscha
Von Thomas von der Osten-Sacken und Thomas Uwer
Erschienen in konkret 3/03
Knappe vier Jahre ist es her, daß Rudolf
Scharping dem deutschen Bundestag den Hufeisenplan enthüllte und mit
tränenerstickter Stimme erklärte, serbische Soldaten grillten die
Föten kosovarischer Frauen. Der offensichtliche Unfug reichte aus,
einen deutschen Kriegseintritt zu rechtfertigen und knüpfte
vermutlich ganz unwissentlich an eine lange Tradition der
Tatsachenverweigerung an, die im August 1914 begründet wurde.
Bereits als deutsche Truppen Belgien verwüsteten, die Stadt Löwen
zerstörten, die dortige Bibliothek nieder brannten und mit größter
Grausamkeit völlig unbeteiligte Zivilisten exekutierten, zeigten die
Deutschen jene vollständige Resistenz gegen Tatsachen, die nicht in
ihr Weltbild passen.
"Die deutschen Zeitungen waren von der ersten
Woche an voll von Geschichten über die 'abscheulichen Grausamkeiten'
der Belgier, von 'Geistlichen, die bewaffnet an der Spitze der
Freischärler kämpften ... von heimtückischen Überfällen auf
Patrouillen und Posten, die man später mit ausgestochenen Augen und
abgeschnittenen Zungen gefunden' habe", schreibt Barbara Tuchmann
über die den Einmarsch in Belgien flankierende deutsche Propaganda.
Voller Unverständnis und moralischer Empörung sah man, daß sich
Belgien, ein neutrales Land, gegen die deutsche Invasion wehrte.
Nicht der eigene Überfall, sondern die Gegenwehr der Überfallenen
erschien den Deutschen als Ungeheuerlichkeit und Verletzung des
internationalen Kriegsrechts. Tuchmann: "Verletzung des Völkerrechts
– das war bei den Deutschen zur fixen Idee geworden. Sie brachten es
fertig, den Verstoß, den ihre eigene Anwesenheit in Belgien
darstellte, zu verdrängen und den Blick nur auf das Unrecht zu
richten, das die Belgier ihrer Ansicht nach begingen, wenn sie sich
gegen diese Anwesenheit wehrten."
Als ein deutscher Offizier nach der Besetzung
Löwens erschossen wurde, brannten deutsche Truppen die Stadt zur
Strafe nieder, nachdem sie zuvor schon Hunderte von Geiseln
erschossen und Dörfer zerstört hatten. In zivilisierten Ländern
erregte diese Form der Kriegsführung Entsetzen. "Stammt ihr von
Goethe ab oder vom Hunnenkönig Attila?" fragte etwa der Humanist
Romain Rolland. In Deutschland aber fanden sich 93 hochrangige
Petitionäre, vor allem Professoren, Schriftsteller und Künstler, die
einer ungläubig staunenden Welt erklärten: "Es ist nicht wahr, daß
wir die Neutralität Belgiens verbrecherisch verletzt haben ... Es
ist nicht wahr, daß unsere Truppen Löwen brutal zerstört haben." Die
Vorwürfe gegen die Deutschen seien haltlos und eine infame
Beleidigung des Volkes, das Goethe hervorgebracht habe.
Der Überfall auf Belgien und seine nationale
Verarbeitung führten ein auch heute virulentes Syndrom vor, dem Karl
Kraus damals den Titel "Deutschland, die verfolgende Unschuld"
gegeben hat. Es besteht im völligen Fehlen jedes
Unrechtsbewußtseins, in der Verkehrung der eigenen Taten in die
Greuel des Gegners und einer tiefen emotionalen Übereinstimmung mit
den eigenen Lügen. Die Empörung über belgische Frauen, die angeblich
deutschen Offizieren die Augen ausstachen, war genauso authentisch,
wie der Glaube, eine Nation, die Goethe hervorgebracht habe, könne
nicht Bibliotheken niederbrennen.
80 Jahre später empörte sich die deutsche
Friedensbewegung über den "us-amerikanischen Vernichtungskrieg"
gegen den Irak. Als Eliteeinheiten des Irak, auf dessen Seite die
Deutschen sich nicht nur emotional gestellt hatten, im Norden und
Süden des Landes die eigene Bevölkerung niedermachten, blieb jeder
Protest aus. Als 1,5 Millionen kurdische Flüchtlinge aus Angst vor
einem erneuten Angriff mit Giftgas frierend und hungernd an der
türkischen und iranischen Grenze auf Einlaß ins sichere Hinterland
hofften, waren die weißen Laken aus den Fenstern verschwunden, das
letzte Friedensgebet längst verstummt. Auch in den Jahren 1987/88,
als der Irak mindestens 41 Giftgasangriffe gegen die eigene
Zivilbevölkerung flog, während gleichzeitig deutsche Ingenieure in
den Produktionsstätten von Samarra und Faluja Kammern zur Erprobung
der Wirksamkeit des von ihnen gelieferten "Pflanzenschutzmittels" an
Eseln und Hunden errichteten und sich liebevoll um die Camouflage
der Anlagen kümmerten, empörte sich in Deutschland niemand. "Dabei
sollte man erwarten" schrieb 1989 der Kolumnist William Safire, "daß
die gegenwärtige Generation von Deutschen, der Schuld ihrer Väter am
Vergasen von Millionen Menschen vor gar nicht so langer Zeit bewußt,
besonders empfindlich auf die Möglichkeit reagieren würde, Deutsche
könnten einem terroristischen Diktator bei Gasmord in irgend einer
Weise helfen."
Als der ehemalige CIA-Agenten Stephen C.
Pelletiere jetzt in der "New York Times" seine zehn Jahre alte
Behauptung wiederholen durfte, der Giftgasangriff auf Halabja im
März 1988 sei aller Wahrscheinlichkeit vom Iran ausgegangen, erntete
er einen Sturm der Entrüstung vor allem in linken Medien der USA wie
der "New Republic". Dafür griffen deutsche Friedensfreunde um so
begieriger zu. Rainer Rupp entlarvte in der "jungen Welt" die
"Halabja-Lüge": "Pelletiere hat, aufgrund seiner Biographie und
seines Wissens als führender Mitarbeiter der CIA und der US-Army,
eine der hinterhältigsten Lügengeschichten zur Rechtfertigung des
nächsten US-Krieges gegen Irak nicht nur entkräftet, sondern sie wie
eine Seifenblase zum Platzen gebracht. Es geht um die Behauptung,
daß Saddam Hussein chemische Waffen gegen die Bürger seines eigenen
Landes eingesetzt habe."
Daß an der Täterschaft wie auch an der Herkunft
des Giftgases, das in Halabja eingesetzt wurde, keine ernsthaften
Zweifel bestehen, scheint irrelevant. Augenzeugen haben die
irakischen Hoheitszeichen der tieffliegenden Angreifer
identifiziert, iranische Truppen hielten sich zum Zeitpunkt des
Angriffs in unmittelbarer Nähe der Stadt auf, das eingesetzte Gift
wurde vom Iran nicht verwendet, Dokumente der irakischen Regierung,
die 1991 in den Besitz der Aufständischen und von dort zur Uno
gelangten, dokumentieren die Planung und Durchführung der
Giftgaseinsätze. Alles gefälscht, alles erfunden?
In Halabja wurde, wie in anderen kurdischen
Städten auch, Giftgas aus deutscher Produktion eingesetzt. Im
Bereich der Massenvernichtungswaffen, der Belieferung mit
Komponenten, Fertigungsstätten und dem Know How zur Produktion
chemischer und biologischer Kampfstoffe, hat die deutsche Wirtschaft
siebzig Prozent des Gesamtvolumens für sich eingeheimst. Die
restlichen 30 Prozent verteilen sich auf Frankreich, die
Sowjetunion, die USA und andere Staaten. Diese prozentuale
Verteilung gibt selbst lediglich einen Teil der deutschen
Verantwortung wieder. Im Gegensatz beispielsweise zur amerikanischen
Konkurrenz hat die deutsche Wirtschaft nicht nur Produkte, sondern
den gesamten Produktionsapparat gleich mitgeliefert.
Die angebliche Wahrheit über die "Halabja-Lüge"
fand sich bereits einen Tag nach der Veröffentlichung in der "jungen
Welt" auf unzähligen deutschen Internetseiten, bei
attac-Regionalgruppen, Ortsvereinen der PDS und in den einschlägigen
Portalen der Friedensbewegung. Im Leugnen realer Massaker sind die
Deutschen so einfallsreich wie im Erfinden. Vergangenes Jahr hatte
die "junge Welt" noch erklärt: "Die humanitäre Katastrophe, die im
Kosovo behauptet wurde, ist in Palästina eine unleugbare Tatsache."
Gemeint war das "Massaker von Jenin", von dem die
"Palästina-Expertin" Viktoria Waltz behauptete, die Israelis hätten
800 Leichen in Abfallgruben und auf Friedhöfen verscharrt und "die
Bewohner gezwungen, der Exekution ihrer Kinder, Freunde, Brüder und
Nachbarn zuzusehen". Scharpings gegrillte Föten, das Massaker von
Jenin, die Wahrheit über Halabja sind nur drei Beispiele, wie recht
Bernhard Shaw 1914 hatte, als er resigniert bemerkte, die Deutschen
brächten der menschlichen Vernunft wie auch dem menschlichen Glück
nichts als Verachtung entgegen.
Zur Ehre nicht der "jungen Welt", aber der
jüngst dort gelandeten ehemaligen PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke, muß
gesagt werden, daß sie drei Tage nach ihrem Kollegen Rupp Peletieres
Erzählungen ausführlich widerlegt hat
hagalil.com
03-03-2003 |