
Das Leid des Volkes der Mörder:
Nicht nur die radikale Rechte
Auszug aus einem Artikel von
Elijahu Salpeter
Die Tatsache, dass sich deutsche
Intellektuelle kontinuierlich und fast obsessiv mit der Geschichte
befassen, ist verständlich und in großem Maße auch lobenswert. Eine
Nation, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verursacht hat, kann
auch in der dritten Generation einer Konfrontation mit ihrer
Vergangenheit nicht entfliehen.
Deutschland, und nicht nur die
radikale Recht dort, beginnt jetzt jedoch zwei Fragen zu stellen, die
sowohl für Israel als auch für das jüdische Volk von Bedeutung sind: Wie
lange müssen die Deutschen das Kainsmal tragen? Darf man damit beginnen,
auch über das Leid des Volkes der Mörder zu sprechen, und wenn ja, wann?
Die Antworten könnten die Beziehungen Deutschlands zu Israel und dem
Nahostkonflikt beeinflussen.
Diese Fragen stehen derzeit, nach dem
Erscheinen des neuen Buchs von Günther Grass, „Im Krebsgang“, im
Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Der Roman
beschreibt die Versenkung eines deutschen Schiffs im Jahre 1945 im
baltischen Meer durch ein russisches U-Boot. An Bord des Schiffs
befanden sich 7000 deutsche Flüchtlinge, und diese Affäre ist eine der
größten Tragödien des Krieges, über die jedoch 55 Jahre lang fast nicht
gesprochen wurde, die jedoch jetzt zu einem der Symbole des
post-nationalen Deutschlands werden könnte. Besondere Bedeutung kommt
der Tatsache zu, dass das Leid der deutschen Opfer des zweiten
Weltkriegs von einem Mann der Linken angesprochen wird, dies im Hinblick
auf das Argument, das in Deutschland zu hören ist, nämlich dass dieses
Thema nicht länger ausschließlich der Rechten überlassen werden sollte.
Dem Buch von Grass war der Bestseller
Bernhard Schlinks, „Der Vorleser“, vorausgegangen. Seine Heldin ist eine
ehemalige SS-Soldatin, die an der Verbrennung weiblicher Häftlinge in
Konzentrationslagern beteiligt war. Die Art, in der sie dargestellt
wurde, hat bei vielen Verständnis, wenn nicht sogar gewisse Sympathie
erzeugt. Auch andere Erscheinungen weisen auf den Wunsch hin, die
Vergangenheit ruhen zu lassen und ein neues Blatt aufzuschlagen. Zum
Beispiel hat ein hoher Vertreter des Bundeslands Brandenburg vor kurzem
vorgeschlagen, nach der geplanten Vereinigung Brandenburgs und Berlins
die Region wieder „Preußen“ zu nennen, ein Name, der auch heute noch
gesetzlich verboten ist.
Den meisten Bundesregierungen muss
zugute gehalten werden, dass sie politische und pädagogische Bemühungen
unternommen haben, um die Naziverbrechen im Bewußtsein ihrer
Öffentlichkeit einzuprägen. Willy Brandt, und in großem Maße auch Helmut
Schmidt und Helmut Kohl, wußten, dass diese Bemühungen für die Bewahrung
der Moralität Deutschlands und seines neuen, positiven Images
lebenswichtig sind. Die deutschen Politiker und Intellektuellen sind
sich auch der Gefahren einer erneuten Darstellung Deutschlands als
„ewiges Opfer Europas“ bewußt. Deshalb gibt es gewisse Befürchtungen
bezüglich der Bücher Grass´ und Schlinks. Es sollte nicht angenommen
werden, dass die beiden die Absicht verfolgten, zwischen den
Holocaustopfern und den deutschen Kriegsopfern „auszugleichen“, aber im
21. Jahrhundert könnte der Holocaust sowohl in Deutschland als auch im
Rest der Welt anders aufgefaßt werden. Schon in einer Spiegel-Umfrage
vom letzten Jahr sagten sechs von zehn Deutschen, sie fühlten sich nicht
mehr für die Nazizeit verantwortlich.
Der Normalisierungsprozess hat noch
eine andere Seite: In Deutschland entwickelt sich wieder eine große
jüdische Gemeinde, die heute bereits ca. 100.000 Mitglieder zählt, davon
ca. die Hälfte aus der ehemaligen UdSSR. Obwohl viele von ihnen nur
oberflächliche Bindungen zum Judentum haben, scheint es, als könnten sie
zu einem Faktor werden, der die Beziehungen Deutschlands zu Israel und
dem Judentum beeinflußt. Ein Zeichen dafür war der erste
Aufklärungskongress jüdischer Jugendlicher am vergangenen Wochenende in
Frankfurt, der von dem Verband jüdischer Studenten und dem Jüdischen
Weltkongress organisiert wurde.
Mit oder ohne dem Einfluss der
jüdischen Gemeinde ist es unwahrscheinlich, dass die neuen Einstellungen
zu der deutschen Vergangenheit dazu beitragen werden, dass die
Bundesregierung die Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen
Volk vergessen wird. Aber mit der Zeit wird die Entfernung zwischen
dieser Verantwortung und der absoluten Verpflichtung gegenüber dem Staat
Israel zunehmen, und die Schuldgefühle wegen der Vergangenheit werden
der deutschen Kritik an der israelischen Politik in der Region nicht im
Wege stehen.
haGalil onLine 14-03-2002 |