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Das Tabu bricht:
Fördert die FDP den Antisemitismus in Deutschland?
Sicher ist: Es gibt einen Paradigmenwechsel
Richard Chaim Schneider
Die Diskussion um die Historisierung des Holocaust hatte vor einigen
Wochen einen Höhepunkt erreicht, als das Jüdische Museum in New York
einen Eklat hervorrief mit einer Ausstellung, in der sich jüdische
Künstler mit zeitgenössischen Mitteln dem Holocaust zu nähern versuchen.
Man konnte ein KZ aus Legosteinen begutachten oder das Bild von
KZ-Überlebenden mit dem Künstler, der sich mitten unter die
authentischen Opfer hineinprojiziert hatte, eine Diet-Coke-Dose in der
Hand. Organisationen jüdischer Überlebender hatten lauthals gegen diese
Darstellung ihres Leids protestiert, das Museum argumentierte, man müsse
sich dem Thema unkonventionell mit heutigen Mitteln nähern, um den
Holocaust für eine neue Generation erfahrbar zu machen.
Ein Tabubruch, den junge Juden da in New York vollzogen, ein Tabubruch,
den wir in diesen Tagen - nur anders - auch in Deutschland erleben, wie
Thomas Schmid dies im Leitartikel der "FAZ" vom 23. Mai 2002
konstatiert. Die FDP, so Schmid, wolle als erste die Partei "derer sein,
die nur noch aus der deutschen Nachkriegsgeschichte heraus fühlen,
denken und leben. So gesehen, wäre es konsequent, wenn sie sich auch
bemühten, gewissermaßen die Partei der Historisierung des
Nationalsozialismus zu werden." Und, schwupps, gelangt Schmid in einem
gedanklichen Rösselsprung zur Schlussfolgerung, dass die FDP eine
heroische Tat begangen habe, in dem sie die Kritik an Israel vom Ruch
befreite, "stets und unausweichlich Ausdruck von Antisemitismus zu sein.
Das ist ein Fortschritt".
Ein Fortschritt? Das Tabu, man dürfe als Deutscher Israel nicht
kritisieren, wurde in den letzten 15 Jahren von niemanden mehr aufrecht
erhalten. Schon gar nicht von Israelis oder Juden. In Israel hält man
deutsche Kritik schon lange locker aus - das gilt selbst für Ariel
Scharon. Schließlich weiß man genau, dass Deutschland bis jetzt der
verlässlichste Partner in der EU war, dass die Bundesrepublik nach den
USA der zweitwichtigste Handelspartner ist und die deutsche Staatsräson
sich stets für das Existenz- und Sicherheitsrecht des jüdischen Staates
einsetzte. Und auch Juden in Deutschland haben nichts gegen deutsche
Kritik an Israel, sie sind als deutsche Staatsbürger nicht die
Sachwalter Jerusalems, und sie wissen als Demokraten nur zu gut, dass
die Meinungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit ist und nicht vor
Israel halt machen kann und darf. Das Tabu ist also ein deutsches, ein
selbst produziertes, sein Hintergrund ist die deutsche Schuldfrage, mit
der auch ein Teil der jüngeren Generation offensichtlich nicht zurecht
kommt und der in der FDP ein Sprachrohr für die Entsorgung der eigenen
Geschichte gefunden zu haben scheint.
Auch wenn Guido Westerwelle mit noch so treuem Augenaufschlag darauf
beharrt, dass es "doch möglich sein müsse, als Deutsche Israel zu
kritisieren", es geht im Streit zwischen dem Zentralrat und der FDP nur
um eins: um Formulierungen, die aus der Mottenkiste antisemitischer
Klischees stammen (Karsli und Möllemann) sowie um die Rechtfertigung von
Terror im Kernland Israels, wie Möllemann sie ebenfalls versucht. Mit
einer verschobenen Debatte, in der sich die politisch Verantwortlichen
in der FDP nicht mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen
auseinandersetzen wollen, um nur ja nicht ihr "Projekt 18" zu gefährden,
beginnt sich in Deutschland ein Paradigmenwechsel vorzubereiten, der die
jüdische Gemeinschaft in große Nöte bringen wird.
Es dauerte fast 50 Jahre, bis Juden sich in diesem Land innerlich
niederlassen konnten. Die Metapher von den "gepackten Koffern", auf
denen man saß, war in den 90er Jahren endlich verschwunden, der Komplex,
als Jude im Land der Täter zu leben, hatte sich beim Kollektiv (nicht
unbedingt bei jedem Individuum) aufgelöst. Mehr und mehr bekannte man
sich zur Bundesrepublik, wenngleich diverse Wellen antisemitischer
Straftaten oder Skandale stets aufs Neue Verunsicherung auslösten. Doch
die Frage der Auswanderung stellte sich nicht mehr. Im Gegenteil,
Deutschland wurde von bislang rund 80 000 Juden aus den ehemaligen
GUS-Staaten als Ziel auserkoren.
Durch diese Einwanderung hat sich das sozio-psychologische Gefüge
innerhalb der Gemeinden dramatisch verändert. Nach wie vor nennt sich
der Zentralrat offiziell "Zentralrat der Juden in Deutschland". Bislang
konnte er sich nicht zur Umbenennung in "Zentralrat der deutschen Juden"
entschließen, weil die russische Zuwanderung eine solche Bezeichnung
fragwürdig macht. Es steckt also nicht mehr eine Abwehrhaltung gegenüber
Deutschland hinter dieser Bezeichnung, sondern die neue Realität in den
Gemeinden. Immerhin, jüdische Intellektuelle der so genannten Zweiten
Generation, also die Kinder der Holocaust-Überlebenden, legten in den
vergangenen Jahren immer häufiger ihr "Bekenntnis" zu diesem Staat ab,
bezeichneten sich als deutsche Juden oder zumindest als deutsche
Staatsbürger. Dieses Wurzelschlagen war psychisch weitaus komplizierter
als bei Immigranten anderer Herkunft. Umso schneller kann die sich
herausschälende neue Identität als "deutscher Jude" durch Vorgänge wie
in der FDP erschüttert werden.
Nach dem Tod seines langjährigen Vorsitzenden Heinz Galinski, entwickelte
der Zentralrat als Vertretung aller Jüdischen Gemeinden in Deutschland
ein neues Selbstverständnis. Es ging nicht mehr nur darum, als ewiger
Mahner zu fungieren, sondern als zahlenmäßig zwar schwache, historisch
aber gewichtige Minorität einen Platz in der Gesellschaft zu finden:
Voraussetzung für ein stabiles Gefühl der Zugehörigkeit, das umso
wichtiger wurde, als es inzwischen auch darum ging, den neuen
Einwanderern die Integration zu erleichtern. Integration ins Judentum,
in die jüdischen Gemeinden und zugleich in die deutsche Gesellschaft,
die von diesen ehemaligen Sowjetjuden aber nicht als "Kinder von Tätern"
erlebt wird. Denn sie selbst sind keine HolocaustOpfer.
Es war diese Einwanderungswelle, die aus den "Juden in Deutschland"
schlagartig, zumindest im innerjüdischen Dialog, "deutsche Juden"
machte. Auf einmal standen die "Alteingesessenen" den "Neueinwanderern"
gegenüber. In dieser Abgrenzung zueinander wurde Deutschland fast
zwangsläufig die "Heimat", die sie für die meisten Juden, die schon vor
1989 hier lebten, de facto längst war, da sie hier geboren sind.
Der Tabubruch, der sich nun in der deutschen Politik zu vollziehen
scheint, ist das Ergebnis eines Generationenwechsels. Die Überlebenden
des Holocaust sterben aus, und es geht der Zweiten Generation darum,
deren Erbe und Erinnerung zu bewahren, gleichzeitig auf diesem Fundament
etwas Neues zu schaffen. Denn die Erinnerung allein ist der Garant für
die eigene Sicherheit - so zumindest wird es in der jüdischen
Gemeinschaft erlebt. Und damit ist nicht nur die eigene Erinnerung
gemeint, sondern in erster Linie die Erinnerung der Deutschen an die
NS-Zeit und der sich daraus ergebenden Verantwortung.
Das aber scheint nun in Frage gestellt, und da der Fall Möllemann / Karsli
noch längst nicht ausgestanden ist, wird die Verunsicherung eher noch
zunehmen. Insofern sieht sich der Zentralrat nicht nur gezwungen zu
agieren, sondern diese Auseinandersetzung auch zu gewinnen. Das letzte
Mal, als in Deutschland ein vergleichbarer Streit stattfand, die so
genannte "Walser-Bubis-Debatte" 1998, hatte Ignatz Bubis am Ende den
Konsens gesucht. Walser hat in jener denkwürdigen Gesprächsrunde, die im
Fernsehen ausgestrahlt wurde, die Friedenspfeife von Bubis mit gnädiger
Geste akzeptiert, in Haltung und Sprache aber deutlich gemacht, dass
Bubis für ihn eigentlich kein gleichwertiger Partner sei. Diesmal kann
sich der Zentralrat so viel Konzilianz nicht mehr leisten. Die
Auseinandersetzung wird nicht mehr mit einem Schriftsteller, sondern mit
Politikern geführt, die Dreistigkeit heute übertrifft die Anmaßung von
damals bei weitem.
Für die FDP geht es um ihren Wahlerfolg, für Deutschland geht es um seine
Demokratie, für die Juden aber geht es um ihre Zukunft in diesem Land.
Und das sollte heißen: Für Jürgen W. Möllemann darf es keine politische
Zukunft geben.
Der Autor lebt als Publizist in München. Nächsten Dienstag diskutiert
er in der Reihe "Politik und Verbrechen" der Berliner Volksbühne mit dem
israelischen Journalisten Gideon Levi und dem palästinensischen
Historiker Beshara Doumani. Es moderiert der iranisch-deutsche
Islamwissenschaftler Navid Kermani.
haGalil onLine 26-05-2002 |