Eine Wende?
Jetzt darf man sich auch gegen Juden äußern
Elijahu Salpeter
Während sich die Parteien, die um die Stimme der
radikalen Rechten konkurrieren, in anderen Staaten durch Fremdenhass
auszeichnen, der vor allem gegen die moslemischen Immigranten gerichtet
ist, zeichnet sich in der liberalen Partei Deutschlands eine andere
Tendenz ab: Die Jagd auf moslemische Wähler.
Stellen in der FDP, die seit Jahrzehnten als
„anständige“ Partei gilt, wollen sich jetzt den dritten Platz bei den
Bundestagswahlen im kommenden September sichern, und zwar durch die
Stimmen der türkischen Wähler, die vor kurzem das Wahlrecht erhalten
haben. Auch für den Preis, dass das „Tabu“ im Zusammenhang mit
antisemitischen Äußerungen gebrochen wird.
In der letzten Zeit setzten einige Entwicklungen ein,
die den rechten Teufel in der FDP aus seinem Tiefschlaf geweckt haben.
Die alten und erfahrenen Führungspersönlichkeiten in der Partei, wie der
ehemalige Außenminister Genscher oder der ehemalige Finanzminister Graf
von Lambsdorff, oder auch die einstige Kandidatin für das Amt des
Bundespräsidenten, Hildegard Hamm-Brücher, haben ihren politischen
Einfluss verloren, während die junge Generation nun die Führung
übernommen hat. Die Stärke der Partei in der Öffentlichkeit hat lange
Zeit immer mehr abgenommen, und die neuen Aktivisten, angeführt vom
Vize-Vorsitzenden Jürgen Möllemann, wollen diese Tendenz ändern, indem
sie die Partei einerseits zu einer populistischen rechten Bewegung, und
andererseits zu einem Heim für die Kinder der türkischen Immigranten
machen.
Man schätzt, dass es in Deutschland heute ca. 800.000
neue moslemische Wähler gibt, der Großteil davon junge Türken. Mehr als
in jedem anderen europäischen Land ist man sich in Deutschland der
schweren demographischen Krise bewusst, in der man sich als Folge des
Geburtenrückgangs befindet. Es geht dabei nicht nur um Mangel an
Personen, die schwere, körperliche Arbeit verrichten, sondern um
Personalmangel auf fast allen Sektoren des Marktes.
Die „jüdischen Seiten“ der letzten politischen Aufregung
beinhalten in erster Linie den Wunsch der Deutschen, sich von der
moralischen Belastung ihrer Nazivergangenheit zu befreien.
Bis zur Auflösung der UdSSR gab es in Deutschland kein
akutes „jüdisches Problem“. Am Ende der 80-er Jahre gab es in der
Bundesrepublik nur ca. 27.000 Juden, und viele in der jüdischen Führung
waren der Meinung, es müssten mehr sein, als Beweis für die
Normalisierung nach der Nazivergangenheit. Nach dem Fall der Berliner
Mauer und der Öffnung der Tore Osteuropas wurde beschlossen, den
jüdischen Flüchtlingen das Recht auf freie Einwanderung nach Deutschland
zu erteilen. Heute, nach ungefähr 10 Jahren, leben in Deutschland über
100.000 Juden, d.h. ca. 75% der Juden Deutschlands sind Neueinwanderer.
Die Juden, die sich in Deutschland niedergelassen haben, sind
Flüchtlinge, die nicht nach Israel wollten, oder denen es nicht gelungen
ist, in die USA oder nach Kanada auszuwandern.
Jude und Deutscher
Deutschland stellt den legalen Immigranten großzügige
Wirtschaftshilfe zur Verfügung, bis sie sich in den Arbeitsmarkt
eingliedern. Jedes Paar mit Kind hat Recht auf eine kostenlose Wohnung,
Krankenversicherung, Studiengebühren und dazu noch ca. 600 Dollar
monatlich Lebensunterhalt. „Der niedrigste Lebensstandard in der
deutschen Gesellschaft ist noch immer höher als der, den die Juden in
Russland gewohnt waren“, erklärte Stefan Kramer vom Vorstand des
Zentralrats der Juden in Deutschland vor kurzem amerikanischen
Journalisten. Die Regierung habe ein Vermögen ausgegeben, um die
jüdischen Gemeinden zu finanzieren, „hier glaubt man jedoch nicht, dass
jemand gleichzeitig Jude und Deutscher sein kann. Sehr viele Leute sind
nicht bereit, die Juden als Deutsche zu akzeptieren.“
Von politischen Aktivisten sind andeutungsweise
Vergleiche zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu hören: Wie es
früher die Antisemiten getan haben, gibt Möllemann heute den Juden
selbst die Schuld am Antisemitismus. Wie in der Weimarer Republik setzt
sich heute die sogenannte „echte“ deutsche Kultur (die von dem
Schriftsteller Martin Walser repräsentiert wird) mit der „jüdischen
Kultur“ auseinander (in Gestalt des jüdischen Literaturkritiker Marcel
Reich-Ranicki, der im neuen Roman Walsers, „Tod eines Kritikers“ von
einem durch seine Kritik beleidigten Schriftsteller ermordet wird). Und
es ist wieder erlaubt, wenn auch nur in einem Roman, sich über die
Ermordung eines Juden lustig zu machen.
In vielen Zeitungen Deutschlands wird davor gewarnt,
dass die Affären Möllemann und Walser einen „Wendepunkt“ in den
deutsch-jüdischen Beziehungen darstellen, obwohl man es vermeidet,
ausdrücklich zu sagen, was diese „Wende“ ist. Ohne Zweifel verändert
sich etwas. „In der Vergangenheit habe ich viele anonyme, antisemitische
Briefe erhalten. Jetzt unterzeichnen die Verfasser mit vollem Namen und
genauer Anschrift“, sagt Kramer. Die neuen Mitglieder aus Russland fügen
sich nur langsam in das Leben der jüdischen Gemeinden ein. Sie lesen,
meist noch in russisch, über die antisemitischen Vorfälle, sind jedoch
zu sehr mit finanziellen und persönlichen Problemen beschäftigt. Viele
haben in Russland Schlimmeres gesehen als das, was sich derzeit in
Deutschland zuträgt.
Für Deutsche, die nach dem Holocaust geboren sind,
klingen die Vergleiche zwischen IDF-Soldaten und den Taten der Wehrmacht
weitaus weniger schockierend als für die Generation ihrer Eltern. Die
Pflicht, Israel gegenüber den Berichten über die Besatzung und die
Vorfälle in den Gebieten zu verteidigen, fällt fast ausschließlich auf
die „alten“ Mitglieder der jüdischen Gemeinden. Das macht es ihnen
sicherlich nicht leichter, sich auch mit den Erscheinungen des neuen
Antisemitismus auseinander zusetzen.
haGalil onLine 13-06-2002 |