Vier Jahre Botschafter in Israel:
Für einen Deutschen prägende Jahre
Die gesicherte Existenz Israels
– Teil der deutschen Staatsraison
Von Rudolf Dressler
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel
Haaretz, 5. Dezember 2004
Vier Jahre in Israel leben und arbeiten
bedeutet, sich einem permanenten Zielkonflikt ausgesetzt zu sehen.
Einerseits hat man das Empfinden, bereits 15 Jahre im Land zu sein.
Andererseits frage ich mich: Wo sind diese vier Jahre geblieben?
Meinem ersten Arbeitstag am 01. September 2000 folgte vier Wochen
später, am 28. September, der Beginn der sogenannten zweiten
Intifada. Der Ablauf schrecklicher Ereignisse mit traumatischen
Folgen hat das Land Israel in Atem gehalten.
Die israelische Wirklichkeit erlebte vier Jahre
lang durchschnittlich an jedem 10. Tag ein Selbstmordattentat und
täglich 10 Schussanschläge. Dass dieser Schrecken nicht spurlos an
einer Gesellschaft vorbeizieht, ist zwingend.
Aus vier Flugstunden Entfernung die
veröffentlichte Meinung in Deutschland zum Nahen Osten, besonders zu
Israel, in diesen Jahren zu lesen, zu hören und zu sehen, provoziert
eine Frage: Was und wie würde in Deutschland kommentiert und
berichtet, wenn das tragische Ereignis von Erfurt im Jahre 2002 –
der Amoklauf, der 16 Menschen das Leben kostete – sich alle 10 Tage
wiederholen würde? Wenn in Deutschland durchschnittlich 10 Mal
täglich Schussanschläge gezählt werden müssten, bliebe die
Bevölkerung weitgehend gelassen? In welcher Verfassung wäre mein
Land, wenn im Rahmen unserer Bevölkerungsrelation in vier Jahren
über 12.000 Tote und annähernd 70.000 Verletzte zu beklagen wären?
Terror aus weiter Entfernung zu kommentieren ist etwas grundlegend
anderes als Terror zu erleben.
Wo immer man sich in Israel bewegt, jeder Tritt
ist Geschichte. Ob religiös oder nicht, nur der Ignorant kann sich
der Aura dieser Region entziehen. Das Leben innerhalb der
israelischen Gesellschaft erinnert mich immer wieder an jene
zentrale deutsche Frage, mit der meine Erziehung zu politischer
Aktivität begonnen hat und auf die ich bis heute keine Antwort weiß:
Wie konnte die verbrecherische Zwangsvorstellung Hitlers, sein
Antisemitismus, der zum Völkermord antrieb, sich in Deutschland
durchsetzen? Warum hat die Mehrheit sich daran beteiligt, hat
zugeschaut, hat weggesehen? Die Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus, mit der Einmaligkeit der Verbrechen, lässt mich
gerade in Israel die immer wieder von Einzelnen provokativ
initiierte sogenannte "Schlußstrich-Debatte" als gegen deutsches
Interesse gerichtetes Engagement empfinden. Es ist ein gutes Gefühl,
dass solche Versuche immer gescheitert sind, egal, ob sie aus
Dummheit oder Berechnung gestartet wurden.
Knapp 60 Jahre nach dem Ende von Nazi-Deutschland,
knapp 40 Jahre nach dem Beginn diplomatischer Beziehungen zwischen
Israel und der Zweiten Deutschen Republik, operiert die Deutsche
Botschaft in Tel Aviv in einem für die deutsche Diplomatie
einzigartigen Umfeld. Deutschland gilt heute für viele israelische
Führungskräfte politisch und wirtschaftlich, wissenschaftlich und
technologisch als zweitwichtigster Partner nach den USA. Deutschland
gilt darüber hinaus als einer der wichtigsten Partner in der
kulturellen und zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit. Die
israelische Führungsschicht schätzt uns als wichtigen Partner
innerhalb Europas und den Vereinten Nationen. Wir sind der
zweitwichtigste Außenhandelspartner. Außergewöhnlich eng ist die
wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit.
Das Netz von Austauschbeziehungen hat hohes
politisches Profil. Es ist nur vergleichbar mit unserer
Zusammenarbeit mit Frankreich, Polen oder den USA. Und wir zählen
über einhundert Städte- und Kreispartnerschaften. Auch auf der Ebene
der Zivilgesellschaft sind die Beziehungen ungewöhnlich dicht.
Selbst im militärischen Bereich haben wir außerhalb der NATO kein
Land mit vergleichbar engen Beziehungen. Gleiches gilt für das Netz
deutscher Präsenz in Israel. Zusammengefasst: Die Beziehungen waren
nie enger, waren nie besser. Gleichwohl gilt das Sprichwort: "Das
Bessere ist der Feind des Guten!" Aber wir, die Deutschen, müssen
wissen, wo es geboten erscheint, müssen wir es lernen: "Das Eis ist
nach wie vor dünn!" Knapp 60 Jahre sind in einem Leben sehr viel,
manchmal mehr als ein ganzes Leben. In der Geschichte sind 60 Jahre
ein Windhauch, fast nichts. Auch diese Wahrheit ist kein
israelisches Problem, sondern vielmehr ein deutsches.
Die Erweiterung der Europäischen Union auf 25
Staaten ist historisch zu nennen. Die einheitliche Währung grenzt an
ein Wunder. Die damit verbundene Wirtschaftskraft ist vorläufig
unvorstellbar. Die darin liegenden Chancen sind nur gering
beschrieben. Mehr Menschen als in den Vereinigten Staaten. Mehr
Kaufkraft als in den USA; mehr Wirtschaftskraft. Diese Tatsache und
diese Aussichten vor den Toren des Staates Israel. Die europäische
Entwicklung schreitet voran, nicht nur ökonomisch, auch politisch.
Ob es gefällt oder nicht: Europa wird eine größere Rolle spielen,
auch im Nahen Osten. Daraus folgt: Israel muss sich entscheiden. Nur
der Versuch eines ökonomischen Anschlusses oder auch eine politische
Neujustierung? Abwarten – das Günstigkeitsprinzip suchen – wird
keine Lösung sein. Die Debatte um eine teilweise Emanzipation von
den Vereinigten Staaten wird Israel nicht erspart bleiben.
In meinen 40 Jahren Politik – Regierung,
Parlament, Partei und Gewerkschaften – habe ich u.a. einen Satz von
John F. Kennedy verinnerlicht: "Wer Realitäten verändern will, muss
zunächst bereit sein, diese zur Kenntnis zu nehmen." Ich habe mir in
meinem Leben nie Gedanken machen müssen über die
Existenzberechtigung meines Landes, obwohl Deutschland im vorigen
Jahrhundert die Welt zweimal an den Abgrund brachte. Meine
Sozialisation unterscheidet sich grundlegend von derjenigen eines
Israelis. Keine tägliche Bedrohung! Keine Aberkennung der
Existenzberechtigung! Kein Kampf um den eigenen Staat! Deshalb
gebrauche ich das Wort "Sicherheit" als Schlüsselbegriff für einen
Wiedereinstieg in einen konstruktiven Nahostprozess. Die
Staatengemeinschaft muss für Israel Sicherheit erarbeiten. Auf der
Grundlage von Sicherheit ist es leichter, das zu präzisieren und zu
vereinbaren, was Premierminister Ariel Sharon mit dem Begriff
"schmerzhafte Kompromisse" umschrieben hat.
Mein Land will Israel dabei helfen. Unsere Hilfe
steht unter der Maxime, die der letzte Besuch des israelischen
Staatspräsidenten im Frühjahr in Berlin deutlich gemacht hat: Die
gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse
Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsraison.
hagalil.com
06-01-2005 |