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Nachtrag zum Artikel "Arabischer Antisemitismus":
Kaputt gespielt

Als in der Brunowstraße in Berlin-Reinickendorf plötzlich keiner mehr beim Juden kaufte...

Von Axel Vornbäumen (Berlin) / Frankfurter Rundschau

Es gibt nur einen einzigen Grund, warum im Folgenden die Geschichte des Lebensmittelhändlers Dieter T. erzählt wird, ohne dessen vollständigen Namen zu erwähnen: Dieter T. ist Jude.

Diese Geschichte hat sich in Berlin ereignet. Sie zog sich ein deprimierendes Jahr lang hin, bis sie schließlich im Sommer 2003 ihr Ende fand. Sie soll, wenn das denn gelingt, möglichst nüchtern erzählt werden, unaufgeregt, in etwa so, wie Dieter T. sie auf seinem Ledersofa schildert in seinem kleinen Wohnzimmer irgendwo in der Anonymität Berlins. Er sagt: "Ick bin einfach kaputt jespielt worden."

Kaputt gespielt. Berlin-Reinickendorf, Brunowstraße, ein eher kleinbürgerlicher Kiez im Norden der Hauptstadt. Etwa sechs Jahre lang hat T. hier sein Einzelhandelsgeschäft. "Ein typischer Tante-Emma-Laden halt", wie er sagt, mit einem kleinen Frühstücksservice dabei, die Tasse Kaffee für 80 Cent, die zweite, manchmal sogar noch die dritte umsonst nachgeschenkt, der familiären Atmosphäre wegen. Sechs Jahre. Die Geschäfte laufen passabel. T. ist akzeptiert. Er hat sein Auskommen. Der Laden - es ist ein Treffpunkt in der Gegend, von morgens um 6 Uhr bis abends um 19, manchmal 20 Uhr. Man kennt sich. Man achtet sich. "Es war", sagt Dieter T., "mein Leben."

Es war sein Leben. Und vielleicht war es nie so stimmig wie gerade in jenen Tagen im Mai vergangenen Jahres: Da rüstet der gläubige Jude Dieter T. seinen Tante-Emma-Laden in ein koscheres Lebensmittelgeschäft um, nach zuvor intensiven Gesprächen mit seinem Rabbiner. Schweinefleisch ist tabu, T. verkauft nichts mehr, was er nicht auch selber essen würde. Er nennt den Laden "Israel-Deli", hat israelische Produkte im Angebot, ein Delikatessengeschäft, die Schaufensterscheibe beklebt er mit Davidsternen.

"Ich dachte", sagt T., "dass es eine Bereicherung wäre, ein Stück Kultur." Vor dem Laden hängt fortan die Flagge Israels, an den Wänden hängen Ausdrucke aus dem Internet, in denen die Bedeutung des Wortes "koscher" erklärt wird. Die Geschäfte laufen - normal.

Knapp vier Wochen lang. Dann tauchen eines morgens zum ersten Mal zwei Autos vor seinem Laden auf. Junge Leute, Neonazis. Sie kommen nicht regelmäßig, aber sie kommen oft. Und sie pöbeln, mal halb-laut, mal laut: "Juden-Laden". "Judensau". Es sind die Anfänge - und Dieter T. kann sich nicht wehren. Nicht direkt. Er fühlt sich nicht bedroht, eher belästigt. "Sie haben diese Sprüche losgelassen, bei offenem Fenster. Als ob sie sich mit sich selbst unterhalten würden. Ich konnte nichts gegen sie tun."

Einen Monat geht das so, anderthalb. Nicht regelmäßig, aber oft. Es geht an die Nerven. Dieter T. öffnet seinen Laden für gewöhnlich um 6 Uhr, doch bereits ab 5 Uhr steht die Ladentür offen. T. ist im hinteren Teil des Geschäfts, bereitet Kaffee vor, schmiert Schrippen. Jahrelang hat er das so gemacht. Die Stammkunden wissen das. Sie stehen vor verschlossener Tür, weil T. aus Sicherheitsgründen den vorderen Teil des Ladens nicht unbeaufsichtigt lassen will. Die ersten Kunden bleiben weg, gehen eine Ecke weiter. Das Frühstücksgeschäft bricht ein. Dieter T. entschließt sich, seinen Laden erst später auf- zumachen - um 9 Uhr, da ist es hell.

Doch der Niedergang des Geschäfts geht unaufhaltsam weiter. Wenn T. morgens zu seinem Laden kommt, ist die Scheibe bespuckt, besonders das Wort "kosher", das er in englischer Schreibweise angeklebt hatte - "das musste offenkundig immer doppelt bespuckt werden". Dieter T. putzt seine Scheibe, putzt auch den Urin weg, mit dem sein Laden regelmäßig besudelt wird. Der Kampf um seine Existenz hat begonnen, der eklige Kampf. T. kämpft ihn tapfer, verbissen.

Er ist auf verlorenem Posten. T.s "Israel-Deli" wird plötzlich zum bevorzugten Ziel für Pöbeleien arabischer Jugendlicher. Sie spucken bei helllichtem Tag an die Schaufensterscheibe, schmeißen mit Sand auf die vor dem Laden aufgestellten Stehtische, reißen die Fahne herunter. Die Kunden fühlen sich belästigt, vor allem: Sie fühlen sich bedroht. In der Brunowstraße kippt die Stimmung. "Wie schnell das geht", sagt Dieter T., und: "Ich kann das ja verstehen." Im Mietshaus, in dem er sein Geschäft hat, haben sie Angst vor Anschlägen, Angst, dass mal ein Molotow-Cocktail in den Laden fliegt. Eines Tages steht ein Karton vor seiner Tür. T. öffnet ihn vorsichtig, mit einem an einem langen Stock befestigten Messer. Es ist nur Sand drin. Nur Sand.

T. macht weiter. Macht weiter, obwohl die Umsätze sinken. Macht weiter, obwohl er registriert, dass ein Teil seiner Stammkunden begonnen hat, die Straßenseite zu wechseln. Er macht weiter, obwohl ihm im Dezember die Scheibe eingeworfen wird. Er macht weiter, obwohl die Stimmung sich gegen ihn gewandt hat, gegen ihn, den Juden. Im Laden wird der Hitlergruß gezeigt, knallen Hacken zusammen. Die Kneipe in der Nachbarschaft, die T. gelegentlich beliefert, stört sich plötzlich am Belag der Schrippen - dabei, sagt T., "waren es immer zwei Scheiben auf jeder Hälfte". Dieter T. wird angezeigt. Mehrfach kommt die Lebensmittelaufsichtsbehörde in seinen Laden, weil seine Waren angeblich nicht ordnungsgemäß ausgezeichnet seien.

Dieter T. ist dort angelangt, wo er sich nicht hätte vorstellen können, jemals zu sein: In der Brunowstraße in Berlin-Reinickendorf ist er nun der Jude, bei dem man nicht mehr kauft. Es ist Frühsommer in Berlin, 2003.
Das "Israel-Deli" wird zum Zuschussgeschäft. Es gibt Tage, an denen der Laden, der früher bis zu 400 Euro Umsatz verzeichnete, keine zehn Euro mehr abwirft. Es ist eine ökonomische Entscheidung. Dieter T. kann die Miete nicht mehr bezahlen, nicht mehr die Schulden. Er steigt aus, bevor er sich völlig ruiniert. Gerade noch rechtzeitig. Er sagt: "Ick bin kaputt jespielt worden."

Es ist ein stiller Abgang in die Anonymität der Großstadt. Ein unheimlich stiller Abgang. Die Lokalpresse berichtet nicht. Die umliegenden Einzelhändler schweigen. Niemand meldet sich, nicht das Bezirksamt, nicht die Parteien. Einzig im Internet sorgt das Verschwinden des Dieter T. nachhaltig für Wallung. Die Rechtsextremen frohlocken.

In seiner kleinen Wohnung, irgendwo in Berlin, ist Dieter T. am Ende seiner Geschichte angekommen. Er ist nun 60, und will noch einmal neu anfangen. In Israel. Bei der Botschaft hat er die Einreisepapiere beantragt. Seine Frau soll dann später nachkommen, wenn die Schulden abbezahlt sind. Dieter T. wäre ohnehin gegangen - nur eben jetzt noch nicht, noch nicht so früh.

An einer Wohnzimmerwand, über dem Regal, in dem der Talmud steht, hängen die Fotos von seiner Familie - "eigentlich fast alle ins KZ abgewandert". Dieter T. sagt, er habe eigentlich sein Leben lang das Gefühl gehabt, "dass das in Deutschland gar nicht so schlimm ist".

Schon gar nicht an dem Tag, im Frühsommer 2002, als plötzlich eine Kundin in seinem Laden stand und sagte: "Wissen Se, ick bin ooch Jude." T. flüstert, als er die Frau nachmacht.

Arabischer Antisemitismus in Berlin
Israel Deli mußte schließen

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DG / hagalil.com / 2003-08-22

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