Landfriedensbruch mit Todesfolge
von PHILIPP GESSLER
Die Mutter wusch die Blutreste weg. Vom Hinterkopf
Sema Alps, in den eine Kugel eingedrungen war. Vom Rücken der Tochter,
wo bei der Obduktion ein weiterer Schusskanal entdeckt wurde. Von der
Hand, zerfetzt von einer weiteren Kugel. Emine durfte nicht dabei sein,
durfte ihre tote Schwester nicht mehr sehen. Das verbot ihr die Mutter,
erzählt Emine.
Ihre Augen sind groß, braun und schön. Sie bleiben
trocken, wenn die 18-Jährige berichtet, wie das war, als ihr während der
Haft ein Kripobeamter ein Foto von Sema zeigte: "Ob ich sie kenne." Da
erfuhr sie, dass ihre ältere Schwester erschossen worden war. An einem
verschneiten Tag vor drei Jahren. An einem Aschermittwoch.
Morgen jährt sich zum dritten Mal ein in der
bundesdeutschen Geschichte beispielloses Geschehen, das je nach
Interesse und Sensibilität "Blutbad", "Schießerei" oder - möglichst
neutral - "Ereignisse am israelischen Generalkonsulat in Berlin" genannt
wird.
Am 17. Februar 1999 belagerte eine aufgebrachte Menge
von ungefähr 50 Kurden und Kurdinnen das israelische Generalkonsulat in
Berlin-Schmargendorf. Sie hatten das Gerücht gehört, bei der Verhaftung
des PKK-Führers Abdullah Öcalan durch den türkischen Geheimdienstes am
Tag zuvor habe der Mossad geholfen.
Mit Knüppeln, Stangen und Baseballschlägern bewaffnet,
versuchte die randalierende Menge nun, die diplomatische Vertretung zu
stürmen. Zugleich prügelten die Kurden sich mit der Polizei, die sie
daran hindern wollte. Einige Kurden gelangten gleichwohl in die
vierstöckige Villa. Daraufhin knallten die Schüsse: Zwei israelische
Sicherheitsbeamte erschossen drei Kurden, eine Frau und zwei Männer. Ein
vierter Kurde erlag zehn Tage später seinen Schussverletzungen.
Ein Schock. Er beherrschte die Stadt und die deutsche
Politik. Für ein paar Wochen. Größeres Interesse erfuhren die Ereignisse
noch einmal, als die ersten Prozesse gegen Kurden anliefen, die am
Konsulat randaliert hatten. Dann wurde es still. Doch noch immer stehen
einige von ihnen wegen schweren Landfriedensbruchs vor Berliner
Gerichten. Erst vergangene Woche begann vor dem Landgericht erneut ein
solcher Prozess. Die israelischen Sicherheitsmänner dagegen wurden
schnell ausgeflogen. Sie standen, geschützt durch ihren diplomatischen
Status, nie vor einem Richter, weder als Angeklagte noch als Zeugen.
Emine ist ins kurdische Kulturzentrum in Kreuzberg
gekommen. Hier startete am Morgen des 17. 2. 1999 die Demonstration zum
Generalkonsulat. Emine kann sich gut daran erinnern. Sie trägt ein
dunkelblaues Kopftuch, dazu einen hellblauen Pullover und eine enge
schwarze Hose. Es ist der Schick vieler Töchter hiesiger
Emigrantenfamilien. In ihr Handy, das beim Interview klingelt, spricht
sie akzentfreies, etwas schnoddriges Deutsch Kreuzberger Art.
Ihre Schwester ist auch hier, als Foto eines traurig
blickenden Mädchens - etwa in dem Alter, in dem sie starb. Mit 18. An
einer Wand ein schachbrettgroßes Bild Semas neben den Fotos anderer
Toter, die für die kurdische Sache ihr Leben ließen, wie die Kurden hier
sagen. Abdullah Öcalan hängt hier gleich mehrmals, die Toten nur einmal.
Weiße Pappmachétauben flattern um sie herum. "Die Toten von Berlin sind
unter uns", übersetzt ein Kurde ein Spruchband über den gerahmten
Märtyrern.
"Ich möchte gar nicht mehr daran denken", sagte Emine,
"aber ich träume häufig von meiner Schwester." Ruhig wirkt sie, nur ab
und zu verkrampfen sich ihre Finger ineinander. Emine gehörte zu den
wenigen, die ins Konsulat eindringen konnten. Sie stand - bis zum
vergangenen Dezember - über ein Jahr lang vor Gericht. Sie sei bestraft
genug, begründete ihr Richter ihren Freispruch. Seitdem haben die
Albträume abgenommen.
Nach dem Tod ihrer Schwester, erzählt Emine, habe sie
wochenlang nur geweint. Ihre Mutter habe sie ermahnt, "stark" zu
bleiben, nicht zu weinen. Mit dem Weinen kriege sie ihre Schwester nicht
zurück. Zudem seien auch drei andere Kurden gestorben, einer von ihnen
ein Freund der Familie, Sinan Karakus, damals 26 Jahre alt. In der
Schule rutschten Emines einst gute Noten in den Keller - dennoch
versetzten die Lehrer sie. Für die empfohlene psychologische Hilfe
fehlte die Zeit, sagt Emine. Zu Hause wurde das Thema Sema tabu.
Und irgendwie ging das Leben weiter: Emine macht eine
Ausbildung zur Hotelfachfrau, bald auch eine zweite zur Arzthelferin,
heiß ersehnt. Eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis sei nun in
Aussicht, erzählt sie an dem Tag, da die PKK verkündet, Namen und
Politik ändern zu wollen: wegen der Anschläge vom 11. September. Öcalan
ist in Haft, Sema tot. "Es hat gar nichts gebracht", sagt Emine.
Olaf Hansen sitzt unter der liebevoll gezeichneten
Skizze eines gepanzerten Spezialeinsatzwagens der Polizei. Solch ein
grünes Gefährt steht seit den Anschlägen von New York und Washington vor
der Synagoge in der Oranienburger Straße. Auch nach der Verhaftung
Öcalans vor drei Jahren war das prächtige Gotteshaus mit der Goldkuppel
so geschützt - im Gegensatz zum Konsulat. Hansen, stämmig, sportlich,
Oberlippenbart, lichter werdendes blondes Haar, war damals
stellvertretender Leiter der 23. Einsatzhundertschaft. Er war als erster
herbeigerufener Polizist vor dem Konsulat.
Im fast idyllischen Kasernenkomplex der 2.
Bereitschaftspolizei in Schulzendorf am Stadtrand erinnert er sich an
den elenden Tag, als er mit seinen Kameradinnen und Kameraden - viel zu
spät - zum Generalkonsulat gerufen wurde. "Schüsse vor Objekt", war sein
erster Funkspruch damals. "Fürchterliche Bilder" habe er noch heute im
Kopf, sagt Hansen. Denn er sah alles ganz nah: Wie die beiden
Sicherheitsbeamten, einer knieend, einer stehend, mit ausgestreckten
Armen in "Combatstellung" in die Menge auf der Treppe zum Konsulat
feuerten. Ohne den Schussarm zu senken, habe der Stehende nachgeladen.
Das leer geschossene Magazin fiel zu Boden, das zweite schob er nach.
Die israelische Botschaft erklärte nach der Schießerei,
die Sicherheitsbeamten hätten "nur in Notwehr" gehandelt - was Hansen
davon hält, hat er schon des Öfteren vor Gericht angedeutet. Da das
Verfahren noch läuft, will er die Notwehrthese nicht weiter
kommentieren. Außerdem habe er schon genug "Schwierigkeiten" bekommen,
weil er der offiziellen Erklärung der Israelis widersprach, wonach nur
ein Schuss von innen nach außen gefeuert worden sei, und zwar "als
Warnschuss in die Luft". Die Sicherheitsmänner hätten einen "klaren
Auftrag" gehabt, sagt Hansen trocken, "für Sicherheit zu sorgen":
"Diesem Auftrag sind sie nachgekommen." Seine eigenen Leute seien durch
die Schüsse in Gefahr geraten, sagt der Polizist. Kurzzeitig habe er
überlegt, selber zu schießen. Auf wen? Wäre eigentlich klar gewesen, auf
wen, sagt er.
Hansen fand nach den Schüssen als Erster an der
Türschwelle zum Konsulat zwei reglose Körper: Sema Alp und Sinan
Karakus. Er drehte sie um, fühlte den Puls, um zu prüfen, ob sie noch
lebten. 36 Jahre alt war Hansen, 20 Jahre im Dienst. Viele "Großlagen"
hatte er erlebt, wie etwa die üblichen 1.-Mai-Krawalle in Berlin. Nach
dem Einsatz am Konsulat habe er von der Schießerei geträumt: "Was hätten
wir anders machen können, um vier Tote zu verhindern?"
Einem Kollege war beim Einsatz ein Arm böse ausgekugelt
worden. Fast ein Jahr war er nicht einsatzfähig. Seine Leute benötigten
viele Gespräche vor allem mit dem Polizeipfarrer, um die "seelische
Belastung" wieder abzubauen. Noch heute rede man "in ruhigen Minuten"
von diesem Tag vor drei Jahren.
Avi Primor war damals Botschafter Israels in Bonn. Er
verteidigte öffentlich seine Sicherheitsmänner, wich keinen Millimeter
von der offiziellen Version ab. Heute ist der charmante Mann
pensioniert, Vizepräsident der Universität Tel Aviv und
Vorstandsmitglied der deutschen Zwangsarbeiterstiftung. Die Erinnerung
an diesen Tag sei eine "des Schmerzes, der Frustration, der
Beklommenheit", sagt er in perfektem Deutsch: "Es war eine Tragödie von
Menschen, die alle unschuldig waren." Er habe den Protest und Schmerz
der Kurden gut verstehen können - aber bei den internen Verhören habe er
auch gemerkt, "wie sehr unsere Sicherheitsmänner gelitten haben".
"Ich war damals vollkommen überzeugt, dass es Notwehr
war, weil auch die Sicherheitsmänner davon überzeugt waren. Im
Nachhinein weiß ich, dass es keine Notwehr war", fügt der Botschafter
a. D. hinzu. Das Geschehen habe ihn "sehr nachdenklich gemacht, weil es
mir gezeigt hat, was die Situation, in der wir leben, mit uns tut". Das
zeige sich in Israels Politik gegenüber den Palästinensern: "Unter Druck
und aus Angst ist in Jahrzehnten bei uns eine Mentalität wie die der
Sicherheitsbeamten entstanden."
Die israelische Botschaft ist inzwischen vom Rhein an
die Spree gezogen - die "schönste Botschaft Israels in der Welt", nannte
Primor den eleganten Neubau schon im Voraus. Das frühere Konsulat steht
leer. Die nach dem 17. Februar 1999 erhöhten Zäune schützen niemanden
mehr. Im Wärterunterstand modert Laub, Winterwind schlägt die
Flaggenleine an den nackten Mast. Wo früher eine Gegensprechanlage war,
ragen heute Kabel aus einem backsteinernen Gitterpfosten. Ins Nichts.
taz Nr. 6678 vom 16.2.2002, Seite 3, 253
TAZ-Bericht PHILIPP GESSLER
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haGalil onLine 17-02-2002 |