Über eine
Erinnerungspolitik, die den Unterschied zwischen Hitler und Churchill
verschwimmen lässt
Was ist schlecht daran, wenn
die deutsche Nation ihre Opfer (unbewaffnete und unschuldige Zivilisten)
ehrt, die im Zweiten Weltkrieg fielen? Warum sollte es eine Sünde sein,
ein Dokumentationszentrum und ein historisches Museum zu gründen, um an
die Einzelheiten dieser schrecklichen Ereignisse zu erinnern und sie in
das kollektive Gedächtnis einzuschreiben? Zählt ein solches Projekt denn
nicht zum Kern der nationalen Rechte eines jeden Volkes – ja, gehört es
nicht sogar zu den unbedingten Pflichten aller Völker gegenüber ihrer
Geschichte?
[Betrachtet man ihre]
skandalösen Einwände, sehen die weltweiten zionistischen Kreise das
offenbar anders. Zur Zeit greifen sie das Projekt jedenfalls scharf an.
Insbesondere zielen sie dabei auf Erika Steinbach, jene herausragende
deutsche Politikerin und Präsidentin des 'Bundes der Vertriebenen', der
sich um die Angelegenheiten von Millionen aus ihrer Heimat Vertriebener
kümmert – nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Man
kann sich leicht vorstellen, dass der Grund für den zionistischen Zorn
nicht nur in der alten Geschichte, also dem alleinigen Monopolanspruch
auf weltweite Opferfragen und dem Zerkauen und Herunterspielen jeglicher
anderer Opfer liegt, sondern auch – wenn möglich - in der Abwertung
ihres Leidens.
Betrachten wir zum Beispiel,
was der israelische Historiker Gilad Margalit in der gestrigen Ausgabe
der Zeitung Ha'aretz schrieb: 'Es ist das Ziel konservativer deutscher
Kreise, einen Gedenktag einzurichten, um die Nazizeit in Erinnerung zu
rufen – eine Erinnerung jedoch, die befreit ist von den Perspektiven der
anklagenden jüdischen Opfer und der Siegermächte. Und auch wenn dies
nicht den Grad einer Holocaust-Leugnung erreicht, so stellt es doch
zweifellos den Holocaust auf eine Stufe mit den Verfolgungen, denen die
Deutschen ausgesetzt waren'! Margalit (der noch zu den liberalen
Historikern [Israels] zählt!) wählte eine erstaunliche Überschrift für
seinen Artikel: "Die Zunahme der Leiden der Deutschen". Dabei setzte er
das Wort 'Leiden’ in Anführungszeichen, um die Angemessenheit dieses
Begriffs oder gar die Existenz deutscher Leiden überhaupt in Zweifel zu
stellen!
Historische Tatsache ist aber,
dass die Bürger deutscher Abstammung nach dem Zweiten Weltkrieg in
folgender Anzahl aus den Ländern, in denen sie lebten und deren
Staatsangehörigkeit sie besaßen, vertrieben wurden: 2-3,5 Millionen aus
Polen, 2,3 Millionen aus der Tschechoslowakei, eine knappe Million aus
der Sowjetunion, 400.000 aus Ungarn, 300.000 aus Rumänien und fast eine
Million aus verschiedenen [weiteren] Regionen Osteuropas. Und das ist
noch niedrig geschätzt – der 'Bund der Vertriebenen' spricht von 15
Millionen Deutschen!
Haben diese denn etwa kein
Recht auf Erinnerung, nur weil [es die Befürchtung gibt, dass] man dann
auch wie im Fall der Juden über Entschädigungen und Rehabilitierung
sprechen muss? Es sieht nicht so aus, als würde Margalit dieser
einfachen Folgerung zustimmen, denn er […] unterstellt Erika Steinbach,
dass diese eher die Erinnerung an den Holocaust schwächen als das
Gedenken an die deutschen Opfer stärken wolle. Dabei stellt doch das
Projekt für ein 'Zentrum gegen Vertreibung' die Juden an die Spitze der
Opfer von Unmenschlichkeiten.
Zudem besteht [Margalit]
insbesondere darauf, dass Steinbachs Haltung insofern 'extrem' sei, als
ihr zufolge die Vertreibung der Deutschen [schon] vor dem Krieg geplant
worden sei und man sie daher nicht als ein Verbrechen betrachten könne,
das [direkt] aus dem Krieg gegen die Nazis resultierte, sondern als
Verbrechen an sich. Mehr noch: Steinbach gibt an, klare Beweise dafür zu
haben, dass 2,5 Millionen vertriebener Deutscher Folter, Zwangsarbeit
und Vergewaltigung erlitten hätten.
Ein weiteres "Kapitel" dieser
Tragödie stellt die barbarische Bombardierung von deutschen Städten,
Dörfern und Einrichtungen durch die Alliierten dar - als ob diese nach
dem Zusammenbruch des Dritten Reiches das deutsche Volk selbst bestrafen
wollten.
In diesem Kampf stehen der
'Bund der Vertriebenen' oder die konservativen deutschen Kreise nicht
allein, wie Margalit behauptet. Der Kernaussage ihrer Kampagnen
schließen sich auch Linke wie der Nobelpreisträger Günther Grass oder
Liberale wie Hans-Dietrich Genscher und Jörg Friedrich an, der einen
illustrierten Band über die Bombardierung Deutschlands verfasste, in dem
er die Ansicht vertritt, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen
Winston Churchill und Adolf Hitler gebe!
Ist das nun eine extreme
Position, die zu weit geht? Vielleicht. Allerdings geben die Bilder von
den Bombardierungen nicht [gerade] Anlass zur Mäßigkeit. Und auch die
folgende Erklärung von Churchill 1944 vor dem britischen Unterhaus lässt
nicht viel übrig vom Vorwurf, [Friedrich] würde den moralischen
Unterschied zwischen Hitler und Churchill verwischen: "Die Vertreibung
ist der einzige befriedigende und dauerhafte Weg. Es wird dort dann
keine Vermischung von Bevölkerungen [mehr] geben, die [doch nur] zu
endlosen Schwierigkeiten führt. Wir werden gründlich ausfegen und
Transfairschübe stören mich dabei ganz und gar nicht!"
Margalits Position erinnert uns
an eine andere, wesentlich berühmtere Meinung – nicht wegen der Sache,
sondern weil ihr Vertreter eine Institution, Träger des
Friedensnobelpreises und quasi alleiniger Beauftragter in Sachen
Holocaust-Gedenken ist: Elie Wiesel. Wiesel ist - für die, die ihn nicht
kennen - Journalist, Schriftsteller und Universitätsprofessor. Doch
keinen Titel schätzt er mehr […] als den des Bevollmächtigten [orig.:
'amid] der jüdischen Opfer des Holocaust, Verwalter ihrer weltlichen und
geistlichen Angelegenheiten und derjenige, der das entscheidende Wort in
allem hat, was mit der Geschichte des Holocaust zusammenhängt. Geboren
1928 in Rumänien, wurde Wiesel zusammen mit anderen jüdischen Familien
1944 nach Auschwitz deportiert und ist einer der wenigen Überlebenden.
Er lebte in Paris und New York und arbeitete als Korrespondent für die
israelische Zeitung 'Yedioth Ahronoth'. 1963 erhielt er die
amerikanische Staatsbürgerschaft und lehrte an der Universität. 1986
erhielt er schließlich den Friedensnobelpreis. In seinen Erzählungen und
Artikeln trug Wiesel immer wieder seine Erinnerungen an die Jahre der
Konzentrationslager zusammen und schrieb seine Autobiographie …
tatsächlich mehr als einmal.
Vor einigen Jahren, während
seiner Karriere als einziger Siegelbewahrer der Tragödie des Holocaust,
wandte sich Elie Wiesel gegen jeglichen Vergleich zwischen den Körpern,
die in Sarajevo zusammenbrachen und verbrannten und jenen, die in
Auschwitz zusammenbrachen und verbrannten. Ja, er lehnte sogar den
Gebrauch der (eigentlich blassen!) Metapher vom "neuen Holocaust" oder
"neuen Auschwitz" für die Ruhmestaten der Serben in Bosnien und
Herzegowina ab. Und um auch jeden Zweifel auszuräumen, reiste er nach
Sarajevo und beschwor die Journalisten, sich dieser […] schleichenden
'Verwischung' der heiligen Termini zu enthalten.
Es geht dabei nicht darum, dass
er die ganze Tragödie dessen, was dort geschah und geschieht nicht
erkennen würde. Aber die Logik ist seiner Überzeugung nach ganz einfach:
'Auschwitz bleibt einzigartig in der Geschichte, weil es um die völlige
Vernichtung eines Volkes bis zum letzten Kind, zur letzten Familie, zum
letzten Individuum ging. Niemand aber wird überzeugend darlegen können,
dass Radovan Karadzic und Ratko Mladic – bei all ihrer Härte – darauf
aus waren, die Muslime restlos zu vernichten.' Wiesel unterlief hier
jedoch ein bezeichnender Lapsus, als er die jüdischen Opfer als 'Volk'
und die bosnischen als 'Muslime' bezeichnete. […]
In seinem Buch 'Alle Flüsse
fliessen ins Meer - Autobiographie' greift Wiesel mit neuen Anklagen
auch eine lange Liste von Juden an, die Mitgefühl mit den kaum
vorstellbaren Leiden der Palästinenser unter der Besatzung und nach Oslo
I und II haben. Eines seiner Opfer ist Jean Daniel, der bekannte
französisch-jüdische Journalist und Herausgeber der Wochenzeitung "Le
Nouvel Oberservateur", weil dieser [so Wiesel] 'fortwährend und sogar in
diesen schwierigen Tagen den hebräischen Staat kritisiert' (!). Das ist
für Wiesel die größte Sünde.
[…] Daniels Zorn [über die
Anschuldigungen Wiesels] erreichte seinen Höhepunkt, als er den Vorwurf
von sich wies, er würde das jüdische Opfergefühl, das jüdische
Brandopfer und die jüdische Tragödie als eine unvergleichliche Tragödie
gering schätzen: 'Wiesel möchte uns glauben machen, er sei immer noch in
einem Konzentrationslager, immer noch Opfer von Unterdrückung und
Verfolgung und dass das Leben seine Schmerzen niemals gelindert und sein
Schmerz niemals irgendeine Anerkennung oder Würdigung erfahren habe. Er
möchte uns glauben machen, dass der Lehrstuhl in Harvard, die Verleihung
des höchsten amerikanischen Literaturpreises […], der Friedensnobelpreis
und die engen Freundschaften mit den Präsidenten Frankreichs und der
USA, sein weltweiter Ruhm und sein großer Einfluss […] - dass all dies
nur [… unwesentlich und zufällig ist]!"
Schlussendlich und unabhängig
von Einzelmeinungen wie der von Gilad Margalit und Elie Wiesel folgt die
Haltung der zionistischen Kreise gegenüber der deutschen Nation doch dem
immer gleichen klassischen Muster und bleibt getrübt von vielen Fragen.
Und die große Frage ist immer noch: 'Wie konnte es einer so großartigen
Nation, die Goethe und Schiller hervorgebracht hatte, beschieden sein,
solche Massaker zu verüben?'
Die Erklärungsansätze sind
vielfältig und gehen in verschiedene Richtungen. Der eigenartigste von
ihnen ist jene religiös-fundamentalistische jüdische Interpretation, die
den Holocaust auf die Idee von der Zerstörung des Tempels und den ewigen
Hass zwischen dem Juden[-tum] und dem verbreiteten Heiden[-tum]
zurückführt. Der britische Historiker A. B. Taylor sieht die Wurzeln des
Dritten Reiches bei Martin Luther (obgleich es doch Luther war, der das
Alte und das Neue Testament zusammenführte, um die westliche Theologie
in Gestalt eines gemeinsamen jüdisch-christlichen Erbes zu
vereinheitlichen). Der deutsche [Historiker] Hans-Ulrich Wehler ist der
Ansicht, dass sich Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts auf einen
Weg begeben hatte, der sich von dem der anderen europäischen Nationen
(Frankreich und Großbritannien) unterschied und infolgedessen eine Reihe
spezifischer Eigenschaften entwickelte, die den gesellschaftlichen,
philosophischen, politischen und ideologischen Rahmen für die Geburt des
Nazismus schufen. Die Marxisten betrachteten den Holocaust lediglich als
eine besondere Spielart des europäischen Faschismus, der seinerseits nur
ein Teil der inneren Struktur des kapitalistischen Systems selbst
darstelle. Und die jüdische Intellektuelle Hannah Arendt sah den
Holocaust als besonders schmerzlichen Teil eines breiten totalitären
Erbes an, das den Nazismus ebenso wie den stalinistischen Kommunismus
und den barbarischen Kapitalismus umfasst.
Alle diese Ansätze stimmen
jedoch in zwei Punkten überein: [Erstens], dass der Holocaust im
europäisch-christlichen Antisemitismus wurzelt, der in der […] Theologie
des Mittelalters seinen Anfang nahm und sich dann in soziale, kulturelle
und wirtschaftliche Ressentiments gegenüber der jüdischen Identität
insgesamt transformierte. [Zweitens] besteht [Übereinstimmung] darin,
dass Deutschland keine besondere Form dieses Erbes entwickelte, sondern
vielleicht sogar das Gegenteil der Fall ist - wenn man etwa die breite
Bewegung zur Befreiung der Juden im Preußen des 18. Jahrhunderts, die
große Anzahl der im engen Kreis um Bismarck aktiven jüdischen
Persönlichkeiten und die besondere Bedeutung berücksichtigt, die
jüdische Intellektuelle auf den verschiedenen Gebieten des geistigen,
kulturellen, wissenschaftlichen und finanziellen Lebens in ganz
Deutschland und besonders in Berlin gewannen.
Die weltweite zionistische
Haltung, die der deutschen Nation ihr Recht auf Ehrung ihrer Opfer
streitig machen will, führt lediglich dazu, mehr Öl auf dasselbe alte
Feuer zu gießen, das den Antisemitismus in Europa nährte und den
Holocaust ermöglichte. Das Feuer, das solange nicht zu erlischen
scheint, bis nur noch die Asche übrig ist!"
Anmerkungen:
[1] Subhi Hadidi ist ein syrischer Autor, der in Paris lebt. Mehr von ihm
bei MEMRI unter
http://www.memri.de/uebersetzungen_analysen/laender/
syrien_libanon_jordanien/syr_hadidi_13_01_04.html, wo er auf der
Website der oppositionellen Syrischen Kommunistischen Partei die
offizielle syrische Pressepolitik kritisierte. Außerdem rechtfertigte
Subhi (http://www.memri.de/uebersetzungen_analysen/themen/
islamistische_ideologie/isl_suicide_III_26_07_01.html ) in Al-Quds
Al-Arabi Selbstmordattentate in Israel.
[2] Der israelische Historiker Gilad Margalit beschäftigt sich mit
deutscher Erinnerungspolitik in Ost und West und hat auf Deutsch u.a.
veröffentlicht: Die Nachkriegsdeutschen und 'ihre Zigeuner' (Berlin
2001).
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