MEMRI Special Dispatch – 20. Oktober
2003
Liberaler arabischer Diplomat:
"Sind wir eine Nation, die zu Moral und Toleranz aufruft?"
Ein reformorientierter arabischer
Diplomat kritisiert unter dem Pseudonym Abu Ahmad Mustafa [1] erneut die
muslimischen Gesellschaften, insbesondere die in ihr verwurzelte
Überzeugung, dass das irdische Leben nur eine Übergangsform zum Jenseits
sei. Der Artikel wurde von der in London erscheinenden saudischen,
arabisch-sprachigen Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat [2] am 13. September
veröffentlicht. Der folgende Text gibt den Artikel in gekürzter Fassung
wieder:
Der religiöse Diskurs der öffentlichen,
privaten und der Partei unterstehenden Satellitensender, mit dem die
Masse tagtäglich voll gestopft wird, ist ein eklatanter Ausdruck für die
zurückgebliebene Geisteshaltung, die dem Fremden [Anderen] nicht
vertraut und ein Zusammenleben mit ihm ablehnt.
Der Aufruf, die Anderen zu hassen und
ihnen am Ende jeden Gebetes den Untergang zu wünschen, wird während
anderer Gelegenheiten von der Behauptung überdeckt, wir seien eine
tolerante Nation, die das Gute propagiert und das Schlechte verhindert.
Warum aber sind unsere Taten so weit von unseren Worten entfernt? Der
verstorbene saudische Philosoph Abdallah Al-Qassimi sagte wiederholt,
dass 'nichts in der Welt weiter voneinander entfernt sei, als die Worte
und die Taten eines Arabers'.
Wir haben uns daran gewöhnt, keine Fragen
zu stellen und nicht nach der Wahrheit zu suchen - es sei denn, es
stünde im Einklang mit unseren eigenen Wünschen und Motivationen. Wir
fordern von den Anderen, die vom Islam vorgeschriebenen moralischen
Regeln zu befolgen, während wir sie selber keineswegs praktizieren. Wir
rufen zur Liebe auf und lesen [gleichzeitig] von einer Partei, die den
Namen Gottes trägt und gegen ihre religiösen Schwesterparteien kämpfen.
Sie ringen um ihren Einfluss in der Region [...]
Die Reformer intervenieren und nennen die
Getöteten "Shuhada'" [Plural von Schahid, Märtyrer]. Kann es eine
größere Erniedrigung geben?
Wenn ein Mörder, der [...] die Bäuche
palästinensischer Kinder, Frauen und Greise aufschlitzt, schließlich
selbst ermordet wird, beklagen alle seinen Tod und verleihen ihm
Auszeichnungen und Ehrentitel für seinen patriotischen und nationalen
Verdienst. Wollen Sie noch weitere Beispiele? [...]
Wir müssen unsere Geschichtsschreibung,
unsere Bücher und Überlieferungen befragen, vorurteilsfrei, ohne Hass
gegenüber den Anderen und ohne ihnen jegliche gute Eigenschaft
abzusprechen. Wenn wir eine Gesellschaft schaffen wollen, die sich eines
seelischen und sozialen Friedens erfreut, ist dies unvermeidlich.
Wer sich mit ungetrübtem Blick unsere
Internetseiten - die wir missbraucht und auf so schlecht benutzt haben -
anguckt, dem wird von den [dort geäußerten] Hassgefühlen gegen Manche
von uns übel werden. Diese Seiten sind voll von Beschimpfungen und
Verunglimpfungen, die nicht einmal die rechtschaffenen Kalifen
verschonen, welche auf schlimmste und schmutzigste Weise dargestellt
werden. Unsere Internetseiten sind voll von Wehklagen und Trauer über
einen Mann, der in einer Schlacht getötet wurde, die in keinerlei
Verbindung zur Religion steht und die nichts mit dem Islam zu tun hatte.
Das ganze geschah [dennoch] unter der Parole: "Der Islam ist die
Lösung!".
Die Lösung liegt nicht im Islam. Sie ist
vielmehr in den[-jenigen] kranken Seelen verborgen, die von Hass gegen
ihre Brüder aus der eigenen Mitte und gegen Völker, die tausende
Kilometer entfernt leben, erfüllt sind.
Was veranlasste einen Geisteskranken,
Hochhäuser zu zerstören, in denen Menschen unterschiedlichen Glaubens –
unter ihnen Muslime - arbeiteten, die in keinem Zusammenhang zu seinen
kranken Vorstellungen und Anschichten stehen; eine Tat, die knapp 3000
unschuldigen Menschen das Leben kostete?
[Betrachtet man zum Beispiel] ein Land,
das sich selbst als islamisch bezeichnet, während es die Grundrechte
seiner [eigenen] Bürger verletzt und sich gleichzeitig damit rühmt, die
Rechte der Muslime in Palästina, Afghanistan und Tschetschenien zu
verteidigen!? Was hat es schließlich mit Tschetschenien auf sich? Haben
wir unsere Blamage in Afghanistan [denn] nicht begriffen, sodass wir sie
dort [in Tschetschenien] wiederholen?
Wie kann ein intelligenter Mensch meinen
oder behaupten, dass wir eine Nation sind, die zur Liebe unter den
Menschen auffordert, wenn wir in unseren eigenen Heimatländern
grässliche Dinge tun und diese Schande hinnehmen müssen?
Nicht der Imperialismus ist verantwortlich
für die Vergeudung und den Verschleiß unserer Ressourcen für
Scheinprojekte und für die Wiedergutmachung dummer Taten. Verantwortlich
ist die Kultur der Unterwürfigkeit, die uns in der Vergangenheit von
[islamischen] Gelehrten und gegenwärtig von Götzen[-bildern] eingeflößt
wird. Wir können uns von dieser Kultur nicht freimachen, da die
[einstigen] Revolutionäre selbst an der Macht sind und diese die
Gelehrten weiter in Dienst nehmen und deren Fatwas für ihre eigenen
Interessen missbrauchen.
Überall auf der Welt wird um die
Verbesserung von Bildung, um mehr Ausgaben für wissenschaftliche
Forschung und die Verbesserung der Infrastruktur gekämpft, während
unsere Bemühungen an die Vergangenheit gefesselt sind. Es wird weder von
Gesundheit und Bildung noch von Abwasser und Wasserqualität, nicht von
Menschenrechten und allgemeinen Freiheiten und auch nicht von der
Reformierung des politischen Systems geredet. [...]
Die tatsächliche Lage ist die, dass wir in
einem Trancezustand leben, in dem sich unser Denken hauptsächlich auf
das richtet, was nach dem Leben kommt, da wir das Leben [lediglich] als
eine Übergangsform betrachten. Das Leben ist nicht im Geringsten
gleichwertig mit dem, was nach dem Tode geschieht. Wenn dies [wirklich]
der Fall ist, dann möge Gott der Welt und ihren Bewohner in beistehen."
[1] Vergleiche hierzu MEMRI Special
Dispatch vom 03. August 2003 "An Arab Diplomat on the Leadership Crisis
in the Arab World"
www.memri.de/uebersetzungen_analysen/themen/liberal_voices/
ges_diplomat_03_08_03.htlm
und MEMRI Special Dispatch No. 377 "An Arab Diplomat on the
Need to Replace Jihad With Social Development"
www.memri.org/bin/articles.cgi?Page=archives&Area=sd&ID=SP37702
[2] Al-Sharq Al-Awsat (London), 13.
September 2003.
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