RENAISSANCE UND VERPASSTE MODERNE
IN DER ARABISCHEN WELT:
Monarchen, Militärs und Mullahs
TAKADDOM - so heißt das arabische Zauberwort für Fortschritt.
Und Fortschritt ist für die arabische Welt immer gleichbedeutend gewesen mit
dem Anschluss an die Modernisierung und mit der Hoffnung auf Integration in
die westliche Welt. Nachdem die Bemühungen um Anerkennung durch den Westen
immer wieder vergeblich waren, nachdem die Ende des 19. Jahrhunderts durch
arabische Intellektuelle initiierte Erneuerungsbewegung zunächst
nationalistisch und später fundamentalistisch gewendet wurde, nachdem sich
in den arabischen Ländern seit Jahren hartnäckig monarchistische und
militärische Regime halten, fühlen sich die Araber mehr denn je wie aus der
Welt verstoßen. Dabei hatte in den 1920er-Jahren ein ägyptischer
Schriftsteller gemeint, Orient und Okzident seien doch Zweige desselben
Stammes, nämlich der griechischen Hochkultur.
Von SELIM NASSIB *
* Journalist, Autor von "Stern des Orients", Zürich
(Unionsverlag) 1999.
Welche Vorwände Amerika auch immer für seinen Angriff gegen
den Irak bemühen mag - um gleich danach "die Demokratie in der Region" zu
installieren -, es ist der erbärmliche Zustand der arabischen Welt, der
diesen Krieg überhaupt möglich macht. Die Berliner Mauer ist gefallen, die
Sowjetunion zur Erinnerung geworden, die ganze Welt in eine neue Ära
eingetreten - und in der gesamten arabischen Welt bleibt alles hoffnungslos
beim Alten.
Dass despotische Regime zu dominierenden Kräften werden, ist
historisch nichts Außergewöhnliches. Auch andere Regionen dieser Erde haben
längere oder kürzere Phasen der Tyrannei erlebt. Aber hier vergehen Jahre
und Jahrzehnte, ohne dass die arabischen Gesellschaften aus sich selbst eine
kraftvolle Bewegung in Richtung Freiheit, Demokratie, Modernisierung
hervorbrächten.
Bis heute sind in den arabischen Ländern anachronistische Monarchien und mehr
oder weniger in Zivil verkleidete Militärregime an der Macht. Ihre einzige
Opposition sind die islamistisch inspirierten Bewegungen. Die Araber
scheinen nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Varianten der Unterdrückung
zu haben. Manch einer im Westen zieht daraus die Schlussfolgerung, der Islam
als solcher trage einen antidemokratischen Kern in sich. Als Beleg werden
dann die entsprechenden Zitate aus dem Koran angeführt.
Wo so eine Einstellung herrscht - und das ist nicht nur in rassistischen
Kreisen der Fall - wird den Arabern ihre "Rückständigkeit" selbst
zugeschrieben, ihrer Mentalität, der Religion, die sie erfunden und
verbreitet haben, ihrem Mangel an politischer Kultur. Die Araber halten dem
entgegen, sie könnten nichts, aber rein gar nichts dafür, es sei der Westen
- der Kolonialismus, der Imperialismus, Israel -, der sie bewusst von
modernen Entwicklungen ausgeschlossen habe. Auch sie zitieren Sätze, die der
Freiheit ins Gesicht schlagen, aber aus dem Alten Testament oder aus den
Evangelien, und machen geltend, dass die Kreuzzüge oder die Inquisition im
Vergleich mit dem aktuellen Islamismus auch kein Pappenstiel waren. Vor
allem aber rufen sie das goldene Zeitalter des arabischen Reiches in
Andalusien in Erinnerung - ein unübertroffenes Vorbild an Toleranz,
Wissenschaft und Kultur. Ende der Mitteilung.
Doch ob eigenes oder fremdes Verschulden oder eine Verbindung aus beidem, die
Frage verlangt nach einer Antwort: Warum vermitteln die Araber seit so
langer Zeit den Eindruck, in ihrer glorreichen Vergangenheit gefangen zu
sein und keinen Zugang zur Gegenwart zu finden? Es geht hier nicht um
Rhetorik, sondern um eine Gefahr für den Weltfrieden. Vor einigen Monaten
hat ein Militärexperte in einer französischen Tageszeitung behauptet, die
Welt könne nicht auf Dauer damit leben, dass ihre wichtigste Erdölregion vor
sich hin dämmert. Er sagte voraus, dass diese ungleichgewichtige Situation
zwangsläufig explosiv würde, und verlangte deshalb von Europa eine
veränderte Militärstrategie. Europa müsse nach geeigneten Mitteln suchen, um
in der arabischen Welt zu intervenieren. Das macht nun George W. Bush wahr,
mit konfusen Argumenten und im Namen des "präventiven Erstschlags".
Auf einer seiner Videokassetten hat Ussama Bin Laden beiläufig darauf
hingewiesen, dass der Niedergang der arabischen Welt "vor achtzig Jahren"
begonnen habe. Warum vor achtzig Jahren? Wenn wir zurückrechnen, kommen wir
auf den Anfang der Zwanzigerjahre, das Ende des Ersten Weltkriegs, den
Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, die Übernahme der Region durch Briten
und Franzosen: Nach vier Jahrhunderten unter türkischer Vorherrschaft
sollten die Araber nun von den Ungläubigen beherrscht werden. Jetzt wissen
wir, was Bin Laden gemeint hat: kein Heil, außerhalb einer muslimischen
Regierung - dem Kalifat.
Ganz unabhängig von der Meinung eines Bin Laden haben die Araber diesen
Übergang schwer verkraftet. Sie lebten, dachten und bewegten sich in einem
arabischen Raum ohne Grenzen, der zum Osmanischen Reich gehörte. Ihr
Herrscher mochte wohl Muslim sein, aber er war ein Fremder, ein Türke, eher
demütigend also für eine Gemeinschaft mit einer so erhabenen Vorstellung von
ihrer Vergangenheit und ihrer Identität. Dennoch fanden sie sich mit dieser
Herrschaft ab.
Die Hohe Pforte - welch schöner Name, auf halber Strecke zwischen dem
Weltlichen und dem Transzendentalen - konnte zwar grausam sein, aber sie
hatte den Vorteil, dass sie ihre Untertanen in Frieden ließ und sich nicht
um ihre Geschäfte scherte, solange sie ihren Tribut an Geld und Mannen
bekam. Wenn die Steuern bezahlt und die Söhne zur Armee geschickt waren,
hatten die gewöhnlichen Araber aus Beirut, Damaskus oder Jerusalem ihr Soll
erfüllt, jedenfalls weitgehend. Die politische Macht war anderswo und nicht
ihre Sorge. Eingebunden in Familien, Clans, Gemeinschaften, Regionen oder
lokalen Herren ergeben, waren sie Araber aus Palästina, dem Libanon oder aus
Syrien, ohne von ihrem "Heimatland" eine Nationalität abzuleiten.
Die arabischen Intellektuellen dagegen hatten erkannt, dass der Zerfall des
Osmanischen Reichs dem deutlich überlegenen, machthungrigen Westen in die
Hände spielte. Um der Herausforderung zu begegnen, hatten sie schon am Ende
des 19. Jahrhunderts eine große kulturelle und politische
Erneuerungsbewegung initiiert, die "Nahda" (Wiedergeburt), beflügelt von dem
Willen, nicht nur den Islam zu reformieren, sondern auch in den arabischen
Gesellschaften einen Wandel einzuleiten und die geistigen Kräfte wieder zu
beleben, die die Araber endlich zur Teilnahme am Weltgeschehen befähigen
würden. Politisch war damit die Notwendigkeit verbunden, sich von der
osmanischen Herrschaft zu befreien. Da diese Emanzipation nicht unter dem
Banner des Islam erfolgen konnte - das Türkenreich war selbst muslimisch -,
wurde sie notgedrungen im Namen eines noch unreifen arabischen Nationalismus
mit einer Gefolgschaft von Muslimen, Christen und Laizisten geführt.
Geschickt gesteuert von Franzosen und von Briten - die sich des legendären
Lawrence von Arabien als Mittelsmann bedienten -, erwies sich der
Freiheitsdrang der Araber als so stark, dass sie im richtigen Moment den
Aufstand gegen die Türken wagten und zum Sturz des Osmanischen Reichs
beitrugen. Aber der große unabhängige arabische Staat, den man ihnen
verheißen hatte, war natürlich nicht in Sicht. Noch schlimmer kam es, als
Großbritannien versprach, die Gründung einer "nationalen jüdischen
Heimstätte" auf dem Boden Palästinas zu unterstützen. Betrogen, besiegt und
tief gekränkt gingen die Araber mit einem Gefühl der Bitterkeit der
ersehnten Modernisierung entgegen. Im Nu waren ihre Gebiete mit Grenzen
durchzogen, in Staaten eingeteilt. Sie mussten ihr Selbstbild als Untertanen
eines souveränen Herrschers aufgeben und das als Bürger eines Nationalstaats
unter britischem oder französischem Mandat annehmen. Warum das Mandat?
Offiziell, um die jungen Länder auf die Selbstständigkeit vorzubereiten,
ihnen Beistand zu leisten, sie mit demokratischen Institutionen auszustatten
und sie langsam den modernen Zeiten zuzuführen.
Selbst unter diesen restriktiven, alles Gemeinsame sprengenden Bedingungen ist
der Sturm, den die Nahda entfacht hatte, nicht gänzlich abgeflaut. Der
liberale Modernisierer Saad Zaghlul, "Vater" der ägyptischen Unabhängigkeit,
knüpfte ausdrücklich an diese Bewegung an. In den 20er-Jahren schrieb der
große ägyptische Schriftsteller Taha Hussein, Orient und Okzident seien
Zweige desselben Stammes: der griechischen Hochkultur. Dank dem arabischen
Andalusien sei dieses Erbe dem Westen zugeflossen, der es im Lauf seiner
Entwicklung aufgesogen habe. Der östliche Zweig dagegen sei unter der
türkischen und britischen Fremdherrschaft verdorrt, und nun müsse die
arabische Welt ihren Rückstand aufholen und im Eiltempo eine orientalische,
der westlichen ebenbürtige Modernität entwickeln.
Das Scheitern der Westintegration
FREILICH dachten nicht alle wie Taha Hussein. Für manche
bedeutete die Nahda, die arabische Renaissance, sogar eine Rückkehr zur
strengsten Lesart des Islam. Aber die fortschrittliche Auslegung war
vorherrschend. Die arabische Welt präsentierte sich als begeisterter
Kandidat für die Eingliederung in die westliche Welt.
Es gibt viele verschiedene Gründe, warum die erwünschte Integration nicht
gelungen ist. Die Araber sehen vor allem einen: das britische Vorhaben, den
Juden eine "nationale Heimstätte" zu geben, die der Völkerbund durch das
britische Mandat über Palästina legitimiert hat. Israel war noch nicht
gegründet, da wurde es schon kraft seiner virtuellen Existenz zum
schicksalhaften Rivalen der arabischen Welt gegenüber dem geliebten Westen.
Man musste sich kleiden und gebildet sein wie die Europäer, tat das im
Übrigen auch bereitwillig, musste wählen gehen, sich gewählten Versammlungen
unterwerfen, das Gesetz achten wie in Europa und dabei ohne Murren (unter
der Führung eigener Leute, die sich mehr oder weniger an die Engländer
verkauft hatten) hinnehmen, was als skandalöse Rechtsverweigerung und
schleichender Raub an Palästina erschien.
Als dann 1948 der Staat Israel gegründet wurde, fühlten sich die Araber wieder
einmal aus der Welt verstoßen. Die schändliche Kollaboration des damaligen
Mufti von Jerusalem und Palästinenserchefs Hadschi Amin al-Husseini mit
Hitler hatte sie diskreditiert. Die internationalen Sympathien (und
Schuldgefühle) flossen selbstverständlich den Überlebenden des Holocaust zu
und nicht der palästinensischen Bevölkerung, von der drei Viertel durch die
Gründung Israels ins Exil getrieben wurden. Der alte arabische Groll
darüber, am Ende des Ersten Weltkrieges getäuscht worden zu sein, wurde
durch das Ressentiment gegen Israel neu entfacht. Ausgegangen von der Nahda,
der Renaissance, zerschellte der erste große arabische Integrationsversuch
an der "Nakba", der palästinensischen Katastrophe.
Es war keine Erschütterung, es war ein Erdbeben. Innerhalb von zehn Jahren riss
es fast alle Regime und Monarchien mit sich, denen eine Mitschuld an der
Niederlage Palästinas gegeben wurde. Die Umwälzung begann mit der Revolution
in Ägypten, die die Militärs unter der Führung von Gamal Abdel Nasser an die
Macht brachte. Im Namen der arabischen Einheit, der Befreiung Palästinas und
des Sozialismus entwarf Nasser eine neue, bipolare Landkarte der arabischen
Welt: auf der einen Seite das mit der Sowjetunion verbündete Ägypten, auf
der anderen Saudi-Arabien als Bündnispartner der USA.
In Wirklichkeit bildete Nassers recht weltlich orientiertes Regime, das von
einigen anderen arabischen Ländern mehr oder weniger kopiert wurde, den
Ursprung einer zweiten großen Bemühung, zu den modernen Zeiten aufzuholen.
Als Ägypten sich den Namen "Vereinigte Arabische Republik" gab, verband es
damit die Hoffnung, sich nach und nach auf andere Länder auszudehnen, den
schwächenden Rahmen der Nationalstaaten aufzubrechen und früher oder später
zur "natürlichen" Form des unabhängigen Großstaats zurückzufinden, der -
"vom Golf bis zum Atlantik" - den Arabern erlauben würde, endlich ihren
Platz in der Welt einzunehmen. In der Zwischenzeit bemühte sich das von
Nasser angeführte "progressive Lager", den "Fortschritt" - takaddom, ein
Zauberwort - voranzutreiben, oder jedenfalls das, was man damals dafür
hielt: Verstaatlichung, Landwirtschaftsreform, Kontrolle der Reichtümer,
Modernisierung, Erziehung, Vergesellschaftung - nur die Demokratie war bei
vielen als "bürgerlich" verpönt.
Dennoch ließ die Anziehungskraft des Westens und seiner Lebensart, der Wunsch,
von ihm akzeptiert zu werden, nicht nach. Trotz der antiimperialistischen
Proklamationen dominierte auch in Ägypten weiterhin das Gefühl der
enttäuschten Liebe.
Paradoxerweise machte das für Freiheit und Demokratie werbende Amerika
ausgerechnet das saudische Königshaus zu seinem Hauptverbündeten in der
Region, eine despotische, Gesellschaft und Religion beherrschende Dynastie,
die vom Erdöl lebt und im Übrigen einen maßlosen islamistischen
Bekehrungseifer finanziert. Die USA, wie besessen vom Kampf gegen den
Kommunismus, den sie sich damals auf die Fahnen geschrieben hatten, spielten
fast überall den strengsten islamischen Fundamentalismus gegen die
"Progressiven" aus, die als Ungläubige, Kommunisten, Atheisten und
Gottesfeinde abgestempelt wurden.
Für das Scheitern der von Nasser angestoßenen Bewegung gibt es sicher vielerlei
Gründe, aber die arabische Öffentlichkeit nahm auch in diesem Fall nur einen
einzigen zur Kenntnis: die Naksa, die historische militärische Niederlage im
Sechstagekrieg im Juni 1967. Wieder einmal aus der Welt verstoßen, erlebten
die Araber Israel erneut als Quelle all ihrer Misserfolge und all ihrer
Übel, was ihnen übrigens ersparte, sich selbst in Frage zu stellen. Die
geschlagene arabische Nation sprach nur noch von "Komplott", verweigerte
jede Selbstkritik, brachte alle kritischen Stimmen zum Verstummen und setzte
ihre ganze Hoffnung in den keimenden palästinensischen Widerstand. Das
Nasser-Regime verschwand 1970 mit Nassers Tod, aber es hinterließ in Syrien
mit Hafis al-Assad und im Irak mit Saddam Hussein gleichartige Regime, die
sich zu erbarmungslosen Militärregimen entwickelten und bis heute
existieren.
Im anderen Lager blieb Saudi-Arabien der Liebling der Amerikaner. Aber der Sieg
über Nasser und die Vervierfachung des Erdölpreises 1973 ließen die
Möglichkeiten der Saudis, Einfluss zu nehmen und den Bekehrungseifer zu
befördern, beträchtlich steigen. Bald erschienen Irak und Syrien sowie das
ferne Algerien als Festungen des arabischen Nationalismus in einem mit
saudischen Dollars gekauften, islamisierten und neutralisierten Universum.
Als 1977 ein Separatfrieden zwischen Israel und Ägypten unter Präsident
Anwar as-Sadat zustande kam, durften sich die Amerikaner sagen, dass ihre
"durch und durch islamisch" angelegte Strategie von Erfolg gekrönt war.
Lange hielt der Eindruck nicht vor. 1979 führte die iranische Revolution den
USA plötzlich vor Augen, dass man durchaus Islamist und antiamerikanisch
sein konnte - eine Spielart, die ihnen bis dahin noch nicht begegnet war.
Nach der demütigenden Geiselnahme in der US-Botschaft von Teheran -
gewissermaßen der Gründungsakt der Islamischen Republik Iran - kam ihnen die
Blitzoffensive Saddam Husseins gegen das Mullah-Regime nicht ungelegen. Aber
die Iraner widerstanden, parierten und wurden gefährlich. Mit Ausnahme
Syriens setzte sich die arabische Welt über ihre Spaltungen hinweg und
stellte sich hinter Saddam Hussein, um die schiitischen Islamisten Persiens,
die die Ölquellen im Golf zu erobern drohten, in Schach zu halten. Auch
Amerika ermutigte Saddam, indem es den Feind von gestern in den Rang eines
Alliierten erhob.
Andernorts, namentlich in Afghanistan, blieb es bei der alten Strategie: Die
USA unterstützten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln
fundamentalistische Muslimgruppen in ihrem Kampf gegen die sowjetische
Besatzungsmacht und das Regime in Kabul. Schizophrener ging es nicht.
Während die meisten arabischen Regime im Krieg gegen den iranischen
Islamismus gemeinsame Sache mit den Amerikanern machten, standen tausende
arabische Freiwillige den afghanischen Islamisten bei, die von denselben
Amerikanern unterstützt wurden.
Im Jahr 1988 gewann der Irak offiziell den Krieg gegen den Iran. Aber das Land
war ausgeblutet, erschöpft von den acht Jahre dauernden Kämpfen, und es
musste wieder aufgebaut werden. Verärgert über die geringe Anerkennung, die
ihm die Golfstaaten bezeugten, und auf das Wohlwollen der Amerikaner
setzend, versuchte sich Saddam Hussein mit Kuwait zu entschädigen, ehe er
begriff, dass George Bush senior keineswegs bereit war, ihn gewähren zu
lassen. Der erste Golfkrieg zerschlug den Irak, ohne das Regime zu
beseitigen, und erlaubte Amerika, Truppen und Militärgerät in Saudi-Arabien
zu stationieren. Ebendiese Präsenz der "Ungläubigen" in unmittelbarer Nähe
der heiligen Stätten führte zur "Dissidenz" Bin Ladens, auch er ein Ziehkind
der Amerikaner, die ihn einst ausgebildet hatten.
Die Entwicklung Bin Ladens zu einer Oppositionsfigur stellt eine grundsätzliche
Wende dar. Mit ihm geht es nicht mehr darum, der "modernen Welt" vergeblich
hinterher zu laufen, um einen Zipfel von ihr zu erhaschen, mit ihm geht es
darum, sich durch Zerstörung an ihr zu rächen - um aus ihren Trümmern die
ideale muslimische Nation erstehen zu lassen. Der Mann, der apokalyptische
Reden hält (und sie triumphierend in die Tat umsetzt), ist nicht irgendwer,
sondern der schwerreiche Sohn einer hoch gestellten Familie, die dem Serail
der Saud angehört.
Jählings ist ein Verdacht auf die Heiligste aller Heiligen gefallen, die
saudische Monarchie, auf die Amerika alles gesetzt hat. Fassungslos
entdecken die US-Ermittler, dass fünfzehn der neunzehn Terroristen des 11.
September Saudis waren, dass zahllose Verantwortliche von der Spitze bis zur
Basis der saudischen Pyramide mit der rechten Hand den Amerikanern Treue
schwören, während sie mit der Linken den "Terrorismus" finanzieren. Das von
Saudi-Arabien über Jahrzehnte aufgebaute, riesige karitative Netzwerk dient
in dem von Bin Laden ausgelösten Dschihad als Grundstruktur für Terroristen,
wobei die alten Widerstandskämpfer aus Afghanistan die vorderste Front
bilden. So trübe die theologischen Grundlagen sind, so sehr gleichen die
Methoden, mit denen sie vernebelt werden, denen der Verwaltung des
saudischen Finanzimperiums - raffiniert, nirgendwo greifbar, global.
Letzten Endes wendet sich die "durch und durch islamische" Strategie der
Amerikaner gegen sie selbst. Da der Kommunismus als öffentlicher Feind Nr. 1
verschwunden ist, wird ein neuer inthronisiert: der islamistische
Frankenstein, den die USA mit eigenen Händen erschaffen haben und der sich
nun ihrer Kontrolle entzieht. Schließlich verkehren sie die alte Strategie
Punkt für Punkt in ihr genaues Gegenteil, rufen zu einem durch und durch
antiislamischen Kreuzzug auf und verlangen, dass die Weltgemeinschaft
mitmarschiert.
Diese dramatische Umkehr vermittelt den Arabern erneut das Gefühl, dass sie als
Araber die Zielscheibe sind. Das lässt ihr Zugehörigkeitsgefühl gerinnen und
blockiert jedes unabhängige individuelle Denken. Dennoch gibt es sehr wohl
Demokraten in dieser Region der Welt. Missachtet, oft brutal unterdrückt,
führen sie fast ohne äußere Unterstützung einen besonders schwierigen Kampf.
Aber ihre Botschaft kommt nicht an, fasst nirgends Fuß. Sie bleiben mutige
und isolierte Einzelpersonen, denen es nicht gelingt, die Gesellschaften,
deren Teil sie sind, mitzuziehen.(1)
Das gemeinsame Gefühl Araber zu sein
DABEI wissen die arabischen Völker genau - besonders im Irak und
in Syrien -, dass Saddam Husseins Regime eine blutige, skrupellose Tyrannei
ist und dass das syrische Regime der Assad unter dem Vater wie unter dem
Sohn kaum ein milderes Urteil verdient. Sicher würden sie sich freuen, sie
verschwinden zu sehen - vorausgesetzt, sie verschwänden ohne apokalyptische
Begleiterscheinungen. Aber im Augenblick, angesichts der Kriegsdrohung, sagt
der Diktator das Gleiche wie sie. Wenn er die falschen Versprechungen, die
Doppelzüngigkeit und die Straflosigkeit anprangert, die der Westen Israel
gestattet, stimmen sie zu. Wenn er die arabische Einheit und die gerechte
Sache der Palästinenser verteidigt, stimmen sie ebenfalls zu. Am Ende setzt
sich das Gefühl, Araber zu sein und irgendwie der arabischen Gemeinschaft
anzugehören, gegen das demokratische Streben durch, das als unerreichbarer
Traum empfunden wird.
Heute merken die Amerikaner, dass die arabische Welt mit ihren
fundamentalistischen Monarchen, Militärs und Islamisten, die über den
Ölquellen tanzen, unkontrollierbar und unentwirrbar geworden ist. Ein Sumpf,
aus dem nichts Gutes kommen kann. Um die Verstrickungen in der Region zu
lösen, hätte man damit beginnen müssen, ihr zentrales, symbolisch
aufgeladenes Problem mit einem Minimum an Gerechtigkeit und Menschlichkeit
zu lösen: Palästina. Ausreichend wäre das noch lange nicht - denn Israel ist
nicht das einzige Problem -, aber es hätte vielen Missständen ihre
Rechtfertigung genommen, den Diktaturen ebenso wie der Fixierung auf das
eigene kleine Umfeld, dem Rückzug auf sich selbst, dem Gefühl des
Ausgeschlossenseins und jener reflexartigen Erklärung, die die Quelle allen
Übels ist: "Die anderen sind schuld."
Die zweite Lösung wäre ein "chirurgischer Eingriff", ein großes Blutvergießen,
das ein für allemal Schluss macht mit den herrschenden Verhältnissen. Wenn
Amerika den Irak angreift, führt es nicht nur Krieg gegen den Irak, sondern
gegen die arabische Welt, wie sie ist, mit ihrer bunten Mischung aus
weltlichen und islamistischen Regimen. Ein Tritt in den Ameisenhaufen -
danach wird man schon sehen, wie es weitergeht. Berauscht von seiner
Allmacht an einsamer Spitze, malt George W. Bush sich aus, dass er sich
durch die Unterwerfung des Irak, der bekanntlich über die zweitgrößten
Erdölreserven der Welt verfügt, und die Einrichtung einer "befreundeten"
Regierung in Bagdad frei macht vom wenig vertrauenswürdigen Saudi-Arabien,
das die allergrößten Erdölreserven besitzt. Und wenn die Diktaturen
abgeschafft und die Ölquellen unter Kontrolle seien, werde sich der gesamten
Region auf wunderbare Weise eine strahlende, demokratische Zukunft eröffnen.
Fraglich bleibt nur, ob der Rest der Welt (außer Großbritannien und Israel)
genug in die Waagschale werfen kann, um ein Gegengewicht zu bilden zu den
Plänen dieses neuen Doktor Seltsam - der die Bombe so liebt.
deutsch von Grete Osterwald
Le Monde diplomatique Nr. 7004 vom 14.3.2003, 573 Zeilen, SELIM NASSIB
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09-05-2004 |