In einem Artikel, der Ende März auf der liberalen Website Elaph (1)
erschien, analysierte und kritisierte der tunesische Intellektuelle
Al-Afif Al-Akdar in der arabischen Welt weit verbreitete und tief
verwurzelte Denkformen und Werte. Insbesondere klagt er die Eliten und
Staatsführungen an, mit ihrer rückwärts gewandten Rachsucht politische
Reformen zu blockieren. Al-Akdar, der gegenwärtig in Paris lebt, war
Kolumnist der in London erscheinenden Tageszeitung Al-Hayyat bis er auf
Anweisung von deren Besitzer, dem saudischen Prinz Khaled ibn Sultan,
entlassen wurde, weil er in einer Al-Jazeera-Talkshow die in
Saudi-Arabien als Strafmaßnahme praktizierte Amputationen von Gliedmaßen
als "barbarisch" bezeichnet hatte.
"Es gibt dunkle und helle Tage in der Geschichte der Nationen. Zu den
hellen Tagen zählen solche, die den Nationen Gründungsmythen liefern:
historische und symbolträchtige Ereignisse, wie etwa die Französische
Revolution oder die Internationale Erklärung der Menschenrechte. Solche
Ereignisse prägen allgemeine menschliche Visionen und sind als
Gründungsmythen notwendig, um Imagination und schöpferische Kräfte
freizusetzen.
In ihren dunklen Tagen erlitten die Nationen hingegen Niederlagen -
Niederlagen, die sie psychologisch und intellektuell nicht zu bewältigen
vermochten und aus denen sie nicht in der Lage waren, sinnvolle Lehren
zu ziehen. Wie eine ängstliche Schnecke ziehen sie sich vielmehr in sich
selbst zurück und brüten über ihren schwarzen Gedanken, den Schlägen,
die ihnen das Schicksal zugefügt hat und [entwickeln] ihre kollektive
Manie, Rache für diese nehmen zu wollen. Und all das wandeln sie in
selbstmörderische politische und militärische Entscheidungen um, statt
sich über die Situation hinauszuschwingen, sie für schöpferische
kollektive Handlungen zu nutzen und auf diese Weise ihr
Selbstbewusstsein wiederherzustellen. [.]
In ihrer modernen Geschichte hätte das arabische Kollektivbewusstsein
eines gesunden und inspirierenden Gründungsmythos bedurft. Stattdessen
litt es unter Niederlagen - vor allem erwies sich das Selbstbild der
Araber als ´beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist´
[Koran 3: 110] als Täuschung. Und so wurden [die Araber] beherrscht von
der aussichtslosen Gier nach Rache für diese Niederlagen - von der
mamlukischen Niederlage gegen Napoleon Ende des 18. Jahrhunderts bis zur
Niederlage Arafats und der Hamas gegen Scharon zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Ganz abgesehen von den zwei Jahrhunderten der
kolonialistischen Unterwerfung, die bis heute eiternde Wunden
hinterlassen haben.
Diese für die Stammesgesellschaft charakteristische Kultur der Rache
ist tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt und stellt eine
fundamental wirksame Kraft dar. Sie bewirkt, dass die Schicksalsschläge
voller Rachsucht wieder und wieder durchgekaut werden - anstatt zum
Ausgangspunkt für weitsichtige Reflexion und Selbstkritik zu werden. Nur
Letzteres könnte indes deutlich machen wie notwendig es ist, dem Feind
nachzueifern, ihn in seiner wissenschaftlichen, intellektuellen,
rechtlichen und politischen Modernität nachzuahmen, um zu einer
Neugestaltung der Tradition zu gelangen und sie den Erfordernissen der
Zeit anzupassen. So wie Japan es nach der Katastrophe von 1945 tat -
eine Katastrophe, wie sie die Menschheitsgeschichte noch nicht gesehen
hatte.
Die tribale Rachekultur verfolgt uns nicht nur wie ein Fluch des
Pharaos in unserem Verhältnis zu anderen, sondern [prägt] auch die
Beziehungen unter den arabischen Staaten und innerhalb jedes einzelnen
Landes. Dazu gehören die Ehrenverbrechen wie Stammes- und
Konfessionskriege. Zu recht bezeichnete Muhammad Hussain Haikal (1) den
zwanzig Jahre langen Krieg zwischen der ´Al-Jama´a Al-Islamiyya´ und
´Al-Jihad Al-Islami´ auf der einen und dem ägyptischen Staat auf der
anderen Seite als einen ´oberägyptischen Blutrache-Krieg zwischen dem
Stamm der Polizei und dem Stamm der Islamisten´.
Die Rache-Hysterie gegen den Westen und seinen "Protegé Israel" hatte
katastrophale Folgen. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt die Angst der
traditionellen Elite vor der westlichen Moderne, die der Kolonialismus
mit sich brachte - eine Angst, die sie [die Elite] unfähig für eine
vernünftige politische Praxis machte, die darin besteht, konstruktive
Vorschläge zu machen, auf realistische und wohl überlegte Ziele zu
setzen, das politische Spiel nach rationalen Regeln zu spielen, das
Kräftegleichgewicht realistisch einzuschätzen und Entscheidungen
dementsprechend zu fällen, in Krisen klug zu handeln, um die Bedingungen
für deren friedliche Lösung reifen zu lassen und schließlich
Entscheidungsprozesse zu entwickeln.
Die heute vor allem bei den einflussreichen Eliten in Palästina, Syrien
und dem Irak dominierende Rachekultur verhindert hingegen jeden
vernünftigen innenpolitischen Entscheidungsprozess. In der Innenpolitik
lehnen sie den Dialog ab, in der Außenpolitik Verhandlungen. Dies erhöht
die Wahrscheinlichkeit für Explosionen im Innern und für Kriege und
erklärt auch, dass sie [nahtlos] von einer innenpolitischen Explosion
zur nächsten und von einem Krieg zum nächsten, noch grausameren,
übergehen.
Diesen traditionellen, in kollektivem Narzissmus erstickten politischen
Führungen geschah, was gewöhnlich nur schwer depressiven Menschen
passiert: Sie werden von vernichtenden Schuldgefühlen zu
Selbstbestrafungen getrieben, die bis zum Selbstmord reichen können.
Diese kollektive Selbstbestrafung tritt in vielerlei Formen in
Erscheinung. Ich beschränke mich hier auf zwei von ihnen: die Politik
des "Alles oder Nichts" und die Verherrlichung von Bewaffnung und
Gewalt, mit dem Ziel, den verletzten kollektiven Narzissmus mit einem
militärischen Sieg zu rehabilitieren und auf diese Weise die Schande
ihrer Niederlagen wegzuwischen.
Es war die Politik des "Alles oder Nichts", die sowohl hinter Haj
al-Hussainis [Großmufti von Jerusalem] Ablehnung des
Peel-Kommissionsplans stand, welcher 1937 den Palästinensern 80%
Palästinas überlassen wollte, als auch hinter der Ablehnung der
UN-Resolution von 1947, die ihnen 45% zusprach. [Diese Politik] bewegte
auch Hafiz al-Assad bei seinem letzten Gipfel mit Bill Clinton im Jahr
2000 dazu, [Israels] Rückgabe der Golanhöhen, von der lediglich 200
Meter am Ufer des Sees Genezareth ausgenommen blieben, abzulehnen. Er
rechtfertigte dies damit, dass er in seiner Armeezeit im See getaucht
sei und dessen Fische gegessen habe! Die Folge ist nun, dass sein
Nachfolger in nächster Zukunft wohl nicht einen einzigen Meter des Golan
zurückerhalten wird - es sei denn zum Preis von Zugeständnissen, von
denen die israelische Führung immer nur geträumt hatte.
Und es war die Verherrlichung der Aufrüstung mit
Massenvernichtungswaffen, die Saddam zu wahnwitzigen innen- und
außenpolitischen Entscheidungen
bewegte: vom Angriff auf die Kurden mit chemischen Waffen, über den
Einsatz von Tränengas gegen Demonstranten, das aus Aflatoxin hergestellt
wurde und das - wie der frühere Außenberater Saddams, Dr. Hussain
al-Shahrastani, einer französischen Wochenzeitung offenbarte - nach etwa
fünf Jahren zu Leberkrebs führt; bis hin zur Kriegsführung gegen den
Iran mit chemischen Waffen sowie zum Krieg gegen Kuwait. Und weil er
nicht zurücktrat, [trägt Saddam] zudem die Schuld am mörderischen Krieg
im Irak [.]. Ganz abgesehen davon, dass er 35 Jahre lang die materiellen
und menschlichen Ressourcen des Landes auf dem Schlachthof seiner
Rachsucht und seiner Gier nach militärischen Siegen vergeudet hat.
[Dabei] würden Iraks Ressourcen, welche die weltweit zweitgrößten
Erdölreserven umfassen, das Land befähigen, wirtschaftlich und
wissenschaftlich zum arabischen Japan zu werden. Stattdessen wurde es zu
einem der ärmsten und von blutiger Willkür geplagten Länder der Welt.
Das fanatische Festhalten am "Alles oder Nichts" sowie am militärischen
Sieg steht zweifelsohne auch hinter dem Projekt der Hamas - nämlich der
´Befreiung Palästinas bis zum letzten Staubkorn und seine Rückgabe als
waqf [islamische Stiftung] an alle Muslime der Welt`. Auch die
wahnwitzige Ablehnung eines palästinensischen Staates im Westjordanland,
dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem [ist von dieser Haltung geprägt].
Und als die Selbstmordanschläge nicht zur Verwirklichung des
aussichtlosen Zieles führten - was war da die Folge [dieser Politik]?
Der geistige Führer der Hamas, Scheich Ahmad Yassin, rief im vergangenen
Monat Scharon flehentlich zu einem zehnjährigen Waffenstillstand auf
[.].
Eine selbstmörderische Politik stand auch hinter der überraschenden
Wende Arafats, als er nicht am versprochenen Verhandlungsweg festhielt,
sondern auf den unfruchtbaren bewaffneten Kampf und die Intifada setzte,
die ihm ebenso wenig einbrachte. Warum [tat er dies]? Weil er neidisch
auf den "Rauswurf" der israelischen Armee aus der [südlibanesischen]
Sicherheitszone durch die Hisbollah war. Er beschloss von einem Tag auf
den anderen einen
Richtungswechsel: von Verhandlungen zum Verjagen der Besatzungsarmee
und der einseitigen Proklamation eines absolut souveränen
palästinensischen Staates, ohne - wie Ägypten und Jordanien - den Preis
in Form der Anerkennung Israels zu zahlen.
Das Resultat dieser rachsüchtigen selbstmörderischen Entscheidung? Es
bestand in einer noch nie gesehenen Selbstbestrafung: dem Einmarsch der
Besatzungsarmee in 42% derjenigen palästinensischen Gebiete, die mittels
Verhandlungen [bereits] befreit worden waren. In derselben Logik lehnte
Arafat die Vorschläge Bill Clintons ab, der ihm - zusammen mit dem
Versprechen auf 40 Milliarden Dollar für die Ansiedlung von Flüchtlingen
in einem versprochenen Staat Palästina - 97% des besetzten Gebietes
anbot. Welche Konsequenz hatte diese Entscheidung, die das
palästinensische Interesse nach einer Heimat und einem lebensfähigen
Staat gänzlich ungeachtet ließ? Die Konsequenz war, dass Arafat und sein
Volk sich [nun völlig] in den Klauen des Teufels befinden.
[Ähnlich erging es] dem letzten Held der "arabischen und islamischen
Gemeinschaft" (umma), dem Wahhabiten Bin Laden, der mit seinem "Angriff"
auf New York und Washington Rache an den "Kreuzfahrern" nehmen wollte.
Die Araber und Muslime - Massen wie Eliten - glaubten ihm und klatschten
ihm Beifall. Aber was war hier das Ergebnis? Genau das Gegenteil:
Amerika griff Afghanistan an und verjagte Bin Laden und seine Gönner,
die Taliban, mit dem festen Willen, diese zu vernichten. Darüber hinaus
bot "unser Held" den Neokonservativen in der US-Administration jene
Gelegenheit, auf die sie gewartet hatten, um ihre geopolitischen
Visionen verwirklichen zu können - nämlich ihre Prioritäten unabhängig
von den europäischen Verbündeten neu definieren und ordnen zu können.
[Dass die USA] nun keine Rücksicht auf die Formalitäten des
internationalen Rechts nahmen, das lange eine Art Schutzschild der
"Schwachen und Unterdrückten" war, zu deren Sprecher sich Bin Laden
selbst ernannte, beendete die Option, dass ein politisch und militärisch
geeintes Europa als globaler Pol auftreten könnte - wovon die Araber
schon so lange tage- nächtelang träumen. Und letztlich verhalf Bin Laden
- ohne es zu wissen - den Neokonservativen zu einer Neugestaltung der
internationalen Beziehungen, die dem [neuen] globalen
Kräftegleichgewicht entsprach, das die USA als wirtschaftlich und
militärisch stärkste Macht sieht. In ihrem Versuch, die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen zu stoppen und den islamistischen Terrorismus
zu vernichten, sind die USA nun entschlossen, internationale
Entscheidungen alleine zu fällen. Sie verfolgen [den Terrorismus] und
kontrollieren die Aktivitäten in jenen Staaten, die diesen mittels der
religiösen Erziehung zum Jihad hervorbringen - das sind alle arabischen
Staaten außer Tunesien; und sie wechseln Regime aus, die den Terrorismus
bewaffnen oder beherbergen.
Dies sind die verhängnisvollsten Konsequenzen, die die Araber mit ihrer
Rachsucht selbst erzeugen [.] und mit denen die politischen Führungen
sich und ihren Völkern das Leben schwer machen [.]."