Was Orient und Okzident gemeinsam haben:
Die Ignoranz und das Mittelmeer
Von MOHAMMED ARKOUN
Autor u. a. von "Que s'est-il passé le 11
septembre?", Malakoff, desclée de Brouwer 2002
Islam und Moderne: Es ist dringend notwendig, diese gegenwärtig so wichtigen
Schlüsselbegriffe neu zu überdenken, um die vorhandenen Missverständnisse zu
überwinden. Der polemische und ideologisch aufgeladene Gebrauch, der von
diese Begriffen laufend gemacht wird, hat dazu geführt, dass sie als
Gegensatz, als antagonistische Kräfte erscheinen. Diese Vorstellung entbehrt
jeder historischen Grundlage und setzt sich über sämtliche soziologischen,
anthropologischen, theologischen und philosophischen Analysen hinweg.
Doch all diese Disziplinen müssen befragt werden, um zu begreifen, was sich mit
dem Denken, der Kultur und der Zivilisation der islamischen Welt verbindet,
und um genau zu formulieren, was gewöhnlich nicht wahrgenommen wird - auch
von den selbst ernannten Experten und Vertretern der beiden Antipoden
dessen, was ich als "Geschichte der Gegenwart" bezeichnen würde.
Obwohl die Auseinandersetzung zwischen "dem Islam" und "dem Westen" bereits in
den Zeilen des Koran zu finden ist, darf die Wirkung der wiederholten
folgenschweren Kriege nach 1945 nicht unterschätzt werden: Erst sie haben
die Leidenschaften entfacht und den unüberwindlichen Hass, den gegenseitigen
Ausschluss betrieben - auf der Basis alter islamischer, jüdischer oder
christlicher Theologeme, die seit dem Mittelalter als intellektuelle,
"spirituelle", moralische und juristische Exklusionssysteme funktionieren.
Diese Systeme, von den jeweiligen Gemeinschaften erdacht, um sich als
Auserwählte Gottes und alleinige Inhaber der geoffenbarten Wahrheit zu
präsentieren, liefern bis heute die Legitimation für die zahlreichen
"gerechten Kriege": für den algerischen Befreiungskrieg (1954-1962) wie für
den Suezkrieg (1956), für den Sechstagekrieg (1967), den Jom-Kippur-Krieg
(1973), den Golfkrieg (1990) und neuerdings eben den Krieg gegen den
Terrorismus. Es fällt auf, dass es etwas gibt, was die Protagonisten all
dieser Kriege gemeinsam haben: nämlich das kollektive religiöse, kulturelle
und symbolische Erbe des Mittelmeerraums, das erst aufhörte, ein gemeinsames
zu sein, als dieser Kulturraum mit dem Aufkommen des Islam in
"jüdisch-christliche" (später dann modern-laizistische) Küsten auf der
einen, und muslimische arabisch-türkisch-iranische Küsten auf der anderen
Seite zerfiel. Die verschiedenen Historiografien spiegeln die Ausbildung
unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisse in abgeschotteten
"mythohistorischen" Zitadellen, immer von demselben dichotomischen
Grundmuster geprägt: Es gelte, das Gute und Wahre gegen das Böse und die
Verirrung zu verteidigen.
Das zu diesem Zwecke im "modernen" europäischen Westen verwendete Vokabular
beschwört mittelalterliche Vorstellungen und Konnotationen, während es sich
aus der orthodoxen westlichen Wertevulgata bedient: Demokratie, Laizismus,
Humanismus … Wie kann es gelingen, mit dem Islam in Eintracht zu leben? Um
diese Frage zu beantworten, muss man zwischen dem geopolitischen,
geoökonomischen und monetären Konzept "Westen" und dem geohistorischen und
geokulturellen Konzept "Europa" unterscheiden: Der "Westen" hat sich ab 1945
unter der immer deutlicher hervortretenden Führung der Vereinigten Staaten
herausgebildet, besonders in Abgrenzung gegen das, was die
anglo-amerikanische Terminologie als "Middle East" bezeichnet; "Europa" ist
eng mit Ersterem verbunden, teilt aber mit dem Islam bis ins frühe
Mittelalter zurückgehende historische, intellektuelle und kulturelle Bezüge.
Auf diese Bezüge wird immer wieder verwiesen, sowohl auf der Ebene bilateraler,
zwischenstaatlicher Beziehungen als auch auf der Ebene der Europäischen
Union, insbesondere im 1995 in Barcelona begonnenen europäisch-mediterranen
Dialog. Denn es gibt sie ja, die alten, geografisch bedingten,
nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen dem mediterranen Europa und der
arabisch-türkischen Welt des früheren Mare Nostrum. Angesichts der
Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum wird deutlich, weshalb die EU
dringend politisch aktiv werden muss: Es gilt, das Stadium der ungleichen,
nur sporadisch gepflegten Beziehungen zu überwinden und diese immer wieder
neu auszuhandeln - und zwar mit Staaten, die sich um ihre demokratische
Legitimität nicht kümmern.
Nur so kann eine gemeinschaftliche Geschichte aller Völker des Mittelmeerraumes
geschrieben werden. Grundlage einer solchen Gemeinschaft wäre, dass alle
Parteien ausnahmslos die jeweiligen Werte der anderen respektieren, obwohl
sie diese in den Kriegen der vergangenen 50 Jahre bekämpft haben. Diese von
den Staaten und den Völkern sorgfältig zu entwickelnde und zu schützende
Gemeinschaft setzt die Inauguration einer Präventivdiplomatie voraus, die
sich außerhalb von Krisenzeiten dafür einsetzt, dass sich im Bereich der
Human- und Gesellschaftswissenschaften eine gemeinsame Forschungspolitik
entwickeln kann. Wenn die Ergebnisse dieser Forschung sowohl durch die
Medien als auch als gemeinsame Bildungsgrundlage weite Verbreitung finden,
ist diese Gemeinschaft auch überlebensfähig. Im Vordergrund sollten dabei
jene Disziplinen stehen, die in der Lage sind, unvoreingenommene
wissenschaftlich begründete Lösungen für jene Streitfragen zu erarbeiten, an
denen sich in den vergangenen Jahrhunderten die staatlichen, nationalen und
religiösen Geister geschieden haben.
Viel zu lange war dieses Feld beherrscht von einer mythoideologischen
Geschichtsschreibung die dem Konflikt ständig neuen Stoff geliefert hat und
jederzeit bereit war, die alten Waffen gegen den Erbfeind zu erheben. Das
geschieht nach wie vor - nicht zuletzt in diversen interreligiösen und
interkulturellen Dialogen, in denen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
und der so genannten Entkolonisierung nichts als moralisierende Appelle zur
Toleranz sowie wohlfeile Respektbekundungen gegenüber den fremden Werten
wiedergekäut werden. Die Reden, die auf den unzähligen Veranstaltungen
dieser Art, an denen ich teilgenommen habe, geschwungen wurden, waren
allenfalls aufschlussreich im Hinblick auf die Ignoranz der religiösen
Tradition des anderen, und erst recht im Hinblick auf die Bedeutung der
Religion als anthropologische Dimension der Conditio humana.
Nur vor dem Hintergrund einer in diesem Sinne gemeinschaftlichen Geschichte der
Mittelmeervölker könnten der Islam und die Muslime sich erstmals in ihrer
Geschichte den großen Herausforderungen der Moderne stellen und von dem
universalistischen Ansatz wissenschaftlichen Denkens und der philosophischer
Fragestellungen profitieren.
Bis heute hat der Islam die freiheitlichen Errungenschaften des modernen
kritischen Denkens regelmäßig zurückgewiesen. Er hat sich in dogmatischer
Klausur verschanzt, mit einer aggressiven Haltung gegen jenen
selbstsicheren, alles beherrschenden Westen, wie die Völker der muslimischen
Welt ihn ja auch tatsächlich erlebt, wahrgenommen und interpretiert haben.
Darin fand sich Nahrung genug für die blühenden Widerstandsfantasien in den
Zufluchtsnestern einer an den Rand gedrängten Identität.
Es ist falsch, die abstrakten Einheiten "Koran" oder "Islam" als Kampfideologie
zu inkriminieren. Kampfideologie ist vielmehr eine Reaktion auf den äußeren
Druck, der mindestens seit dem 19. Jahrhundert auf diese Gesellschaften
ausgeübt wurde und denen keine Chance blieb, ihre eigene Geschichte um ihrer
selbst willen und aus sich selbst heraus zu bearbeiten und zu gestalten.
Dieser Prozess war durch den Willen fremder Mächte mit offenen
Eroberungsabsichten stets unterbrochen, verfälscht und umgelenkt worden.
Kampfideologie ist das Produkt einer Dialektik der Herrschaft, der
politischen und kulturellen Aggression sowie der geopolitischen Kontrolle
auf der einen Seite und des verzweifelten Gefühls der Schwäche, der
Erniedrigung, der Rückständigkeit, der Unterdrückung und des Scheiterns auf
der anderen.
Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass diese doch sehr offenkundige Dialektik
von der westlichen Seite nie als solche verstanden wurde und dass regelmäßig
der umgekehrte Schluss aus der Existenz dieser Ideologie gezogen wird -
sogar von einflussreichen Historikern wie Bernard Lewis(1), der die
Attentate vom 11. September mit Triebkräften, Faktoren und "freien
Entscheidungen" erklärt, die allesamt den inneren Verhältnissen des "Islam"
und der arabischen Regime entspringen.
Auch wenn man das Zusammenspiel zwischen fernen Ursachen und unmittelbaren
Ereignissen, das die Strukturen der islamischen Gesellschaften geformt hat,
nie außer Acht lassen darf, stehen im Vordergrund doch die verstärkende
Wirkung und die erschwerten Bedingungen der offenen Intervention des Westens
seit dem symbolischen Datum 1492 - der Entdeckung Amerikas und der
Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien.
Es gäbe noch viel zu sagen über all die Missverständnisse und die Ignoranz, die
in den Traditionen der Geschichtsschreibung kultiviert wurden; über die
wiederholten Kriege, in denen sich das Verhältnis zwischen Täter und Opfer
immer wieder umkehrte; über die stets und ständig hochgehaltenen Werte, mit
deren Hilfe man irgendeine obsolete Legitimität wiederbeleben will und die
von den eigenen Leuten längst verraten und missachtet werden. Der maßlose
Eifer, die mörderische Wut, die gegenseitige Verurteilung, die radikale
Ablehnung, die wir seit dem 11. September allenthalben beobachten, lassen
kaum noch Raum für Stimmen und Zeugnisse, die der Wahrnehmung, dem Wissen
und dem historischen Handeln neue Horizonte öffnen könnten.
Das Wichtigste wäre ein kritisches Denken, das über das nötige begriffliche
Instrumentarium und über genügend Vernunft verfügt, um eine
gemeinschaftliche und sinnvolle Geschichte der vom manichäischen Dualismus
befreiten Völker zu schreiben. Eine Geschichte, die verzichten kann auf
Zuschreibungen wie gut und böse, wahr und falsch, auserwählt und verworfen,
zivilisiert und barbarisch, aufgeklärt und in Finsternis lebend.
deutsch von Grete Osterwald
Fußnote:
(1) Bernard Lewis: "Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt
die Vormacht verlor", München (Lübbe), 2002.
Le Monde diplomatique Nr. 7004 vom 14.3.2003, 262 Zeilen, MOHAMMED ARKOUN
hagalil.com
29-10-2003 |