In den vergangenen Monaten haben sich vermehrt arabische
Intellektuelle zu Wort gemeldet, die die politischen Systeme und
gesellschaftliche Entwicklungen der Länder im Mittleren Osten
kritisierten. Mitte Mai erschien nun in der ägyptischen Wochenzeitung
Al-Ahram-Weekly ein Beitrag, der sich gegen diese Intellektuellen
richtet. Vor allem stand dabei die Rolle der Palästinafrage in der
arabischen Welt im Mittelpunkt. Der Autor, Joseph Massad, ist Dozent für
Moderne Arabische Politik und Geistesgeschichte an der New Yorker
Columbia Universität.
"Die Untergrabung der 'Arabischen Straße'"
"Immer wenn ich zuletzt eine arabische Zeitung aufgeschlagen habe,
sprangen mir Kolumnen von Neoliberalen ins Auge, die sich besorgt über
den ,Vorrang' äußern, den die Palästinafrage in der arabischen Politik
genieße. Die Kolumnisten insistieren darauf, dass sich dies nachteilig
auf den arabischen Nationalismus, die Regime und die ,Arabische Straße'
auswirke. Dabei existiert doch der arabische Nationalismus als
organisierte politische Kraft und politisches Projekt höchstens noch in
der Hoffnung seiner gläubigen Anhänger. Und [zu Palästina] geben die
Arabischen Regime heute nicht einmal mehr ihre früher gängigen
Lippenbekenntnisse ab [...].
Seit Israels Einmarsch in den Libanon und der militärischen Niederlage
der PLO, glaubt selbst die Palästinensische Autonomiebehörde - oder was
von ihr übrig ist - nicht länger, dass die ,Palästinensische Sache'
Vorrang genießt. Für die PA sind zwei von drei [zentralen] Elementen
[der Palästinafrage] kein Thema mehr: die Millionen Palästinenser, die
im erzwungenen Exil leben und die über eine Million palästinensischer
Israelis, die unter dem institutionalisierten israelischen Rassismus
leben. Wenn es also auf Seiten der arabischen Regime heute absolut
vorrangig ist, mit Israel Frieden zu schließen und sich dem
amerikanischen Willen unterzuordnen, dann stehen bei der PA das Streben
nach politischer Macht für die Oslo-Eliten sowie die Verwirklichung
lediglich scheinbarer Rechte für die Palästinenser aus Westbank und
Gaza-Streifen im Vordergrund. Abgesehen von den Palästinensern selbst
wird also in der heutigen arabischen Welt nur auf der ,arabischen
Straße' für die palästinensische Sache gekämpft.
Aber wenn sich die Kommentatoren über die ,arabische Straße' auslassen,
machen sich nur wenige überhaupt die Mühe, sie zu definieren. Nicht von
Arbeitern und professionellen Gewerkschaftern, von Frauen- und
Unternehmerorganisationen, Mitgliedern von Oppositionsparteien (legale
und illegale), Schriftgelehrten, Künstlern, Studenten und Fachbereichen,
Angestellten und von ländlichen und städtischen Bevölkerungsgruppen ist
die Rede, sondern von einer amorphen Einheit - der 'arabischen Straße'
eben.
Und als letzte und einzige Bastion für die Sache eines unterdrückten
Volkes, wurde die 'arabische Straße' zur hauptsächlichen Zielscheibe der
Unterwanderung: Gegen sie richten sich nicht nur die USA und ihre
Propagandaorgane (zu welchen seit letztem Jahr Radio Sawa zählt und zu
denen in den nächsten Jahren noch ein neuer arabisch-sprachige
Fernsehsender hinzukommen wird), sondern auch neo-liberale arabische
Intellektuelle. Sie wollen die Palästinensische Sache, das Hauptanliegen
der 'arabischen Straße' , in den Mülleimer der Geschichte kehren, um
sich Amerika und Israel zu unterwerfen - genau wie es schon die
arabischen Regime taten.
Die neo-liberale Abneigung gegenüber dem palästinensischen Volk und
gegenüber dem Vorrang der Palästinensischen Frage auf der ,arabische
Straße' ist nicht neu. Schon seit den 60er Jahren zeigte sie sich bei
einer ganzen Reihe von arabischen Regime und politischen Strömungen. Und
alles, was die neo-liberalen arabischen Intellektuellen derzeit treiben,
zielt nun darauf, diese Abneigung überall in der arabischen Welt zu
mobilisieren und die 'Palästinensische Sache' ein für alle Mal zu
verdrängen. Wenn also auf der einen Seite einige arabische Nationalisten
und Islamisten meinen, dass Amerika für alle Schlechtigkeiten der
arabischen Welt verantwortlich sei, so glauben die neoliberalen
arabischen Intellektuellen auf der anderen, dass es die Priorität der
,Palästinensischen Sache' ist, die den Hauptgrund für alle Übel
darstelle. Daher wollen sie die Abneigung gegen das palästinensische
Volk mobilisieren, damit die arabische Welt die Palästinenser los wird
und sich auf die langersehnte Vereinnahmung [Umarmung] durch Amerika und
Israel vorbereiten kann - benannt auch als 'Politik und Modernek'. Als
Ko-Autor eines Artikel in Al-Hayat bezeichnete kürzlich etwa bekannteste
Neoliberale, Hazem Saghiyyah, den von ihm als 'arabistische Ideologie'
bezeichneten arabischen Nationalismus als 'prä-politisch'. Oft
lamentiert Saghiyyah darüber, dass die arabische Welt noch nicht in die
Moderne eingetreten sei!
All das begann als die PLO in den späten 60ern und frühen 70ern das
jordanische Regime bedrohte. Die Exzesse der PLO, deren Führung das
palästinensische Volk genauso wenig repräsentierte wie die restlichen
arabischen Regime die ihrigen, wurden den Palästinensern insgesamt
vorgeworfen. So entstand eine starke Abneigung gegen die Palästinenser
in der 'jordanischen Straße'... [Im folgenden beschreibt der Autor wie
sich die Geschichte eines arabischen Ressentiments gegen die
Palästinenser im libanesischen Bürgerkrieg, in Ägypten infolge der
arabischen Isolierung des Landes nach Sadats Israel- und US-Politik
sowie im Irak nach dem Kuwait-Krieg und dem Krieg der USA gegen den Irak
fortgesetzt habe.]
Die Palästinenser, besonders diejenigen aus den besetzten Gebieten, die
sehnsüchtig darauf warteten, dass sich irgendein arabisches Regime ihrer
Sache gegen eine korrupte Autonomiebehörde und eine brutale
Unterdrückung annimmt, jubelten Saddam immer dann zu, wenn er blumig
über ihre Befreiung sprach - eine Rhetorik, die ihn wenig, sie aber viel
kostete. Von der irakischen Opposition wurde dies als Beweis für eine
Kollaboration mit Saddam propagiert. [...] Tatsächlich als Kollaboration
zu betrachten ist es aber doch wohl, wenn in den vergangenen zehn Jahren
wichtige Mitglieder der irakischen Opposition wie Ahmed Chalabi und
unbedeutende wie Kanan Makiyya mit den Israelis bei Besuchen in Tel Aviv
und mit der zionistischen Lobby in den USA konspiriert haben. Auch haben
viele aus der irakischen Opposition in einem 'früheren Leben' für Saddam
gearbeitet und/oder mit ihm Geschäfte gemacht - ganz abgesehen einmal
von ihrer Kollaboration mit den USA und deren Einmarsch in ihr eigenes
Land. Dies stellt aber wohl eine akzeptable Form der Kollaboration dar.
[...]
Die Angriffe auf das palästinensische Volk von Teilen der arabischen
Straße seit 1960 waren [nie] spontane Unmutsäußerungen, sondern [immer]
das Ergebnis von organisierter Propaganda durch die herrschenden
politischen Strömungen, gefördert durch kapitale Fehler und Exzesse der
palästinensischen Führung. Es ist diese organisierte Propaganda, die
nun, wo die Zeit reif zu sein scheint, von den neoliberalen arabischen
Intellektuellen aufgegriffen und weiter verbreitet werden soll.
Die Diagnose der Neoliberalen ist dabei folgende: Das Engagement für
Palästina seitens der arabischen Regime und des arabischen Nationalismus
habe die arabische Welt unter diktatorischer Herrschaft gehalten, ihr
Streben nach Modernisierung und Entwicklung gehemmt sowie die Entstehung
extremistischer politischer Strömungen und ihre Dominanz verursacht.
[Wenn man das hört,] könnte man glatt annehmen, die arabische Welt hätte
sich ohne Palästina heute in punkto Entwicklung und liberaler Demokratie
zu einem Abbild Westeuropas entwickelt und würde von einem
künstlerisch-liberalen Pazifismus geprägt. Fragt sich nur, ob Palästina
vielleicht auch dafür verantwortlich sein soll, dass die meisten Länder
Lateinamerikas, Asiens und Afrikas den größten Teil des letzten halben
Jahrhunderts undemokratisch waren und viele von ihnen es wie die
arabischen Länder bis heute sind.
Nun würden ja nur wenige [der Analyse] widersprechen, dass die
arabischen Herrscher und die politischen Bewegungen die
'palästinensische Sache' dazu benutzt haben, Übergriffe zu
rechtfertigen, die von innerer Unterdrückung über diktatorische
Herrschaft bis hin zu dem Verbot von politischem Engagement für die
lokale Bevölkerung reichten. Die neoliberale Analyse verwechselt aber
das, was in der Rhetorik hochgehalten wird, mit dem, was in der Politik
[tatsächlich] Vorrang erhält. So liegt eine gewisse Ironie darin, dass
die Neoliberalen, die den arabischen Regimen und den arabischen
Politiker ja eigentlich kaum etwas glauben, dies ausgerechnet bei deren
angeblichem Engagement für die ,Palästinensischen Sache' tun.
Die Priorität, welche die 'Palästinensiche Sache' in der arabischen
Nachkriegspolitik genoss, entstand indes als Teil der grundlegenderen
Priorität für die Dekolonisierung. Und als Algerien befreit war, blieb
als einziges bedeutendes arabisches Land nur noch Palästina unter
kolonialer Herrschaft Die arabischen Regime mussten also auf eine
Situation antworten, die sie nicht selbst geschaffen hatten, aber
erfolgreich erledigten [?] - von Bourgiba bis Arafat..
Die Neoliberalen aber sind nicht überzeugt. Der arabische Nationalismus
[so sagen sie,] mag ja als organisierte politische Kraft gestorben sein,
seine Rhetorik jedoch dominiere weiterhin und stelle eben Palästina nach
wie vor in den Vordergrund. Wenn es sich aber wirklich so verhielte [wie
sie sagen], dann kann doch (weil ja die arabischen Regime sich dem
panarabischen Projekt in Wirklichkeit gar nicht mehr wirklich
verpflichtet fühlen) die ,Palästinensische Sache' nicht der Grund dafür
sein, dass die Regime undemokratisch und auf ihrem Weg Richtung
Modernität zurückgeblieben sind, egal wie sehr die Neoliberalen auch auf
dieser Kausalität beharren mögen.
Was die Islamisten angeht, so ist ihre zentrale Botschaft, einen
'islamischen Staat' errichten zu wollen und nicht Palästina zu befreien
- obwohl sie letzteres vielleicht wegen der damit verbundenen
zusätzlichen Zugkraft fordern mögen. Und die 'arabische Straße'
betreffend, so hat diese die 'Palästinensische Sache' noch nie über die
Fragen ihres alltäglichen Lebens gestellt: Sobald die Lebensmittelpreise
steigen, erhebt sich die 'arabische Straße' von Tunis bis Amman. Wenn
die USA im Irak einmarschiert, demonstriert die 'arabische Straße' von
Rabat nach Bahrain. Von Frauenrechten zu Gewerkschaftsaktivitäten
engagiert sie sich zu jedem möglichen Anlass wenn sie sich keiner
staatlichen Repression gegenübersieht. Wann also hätte die
'Palästinensische Sache' die 'arabische Straße' jemals davon abgehalten,
sich für ihre eigenen alltäglichen Belange einzusetzen? Auf welche Weise
sollte die Solidarität, welche die 'arabische Straße' in Demonstrationen
[für Palästina] an den Tag legt, sie von ihrem Marsch in eine
US-gesponsorten Modernität ablenken?
Während die Argumente der Neo-Liberalen also an sich selbst
scheiterten, ist deutlich geworden, dass es nicht die 'arabische Straße'
ist, die zum Opfer einer ausgeklügelten, prä-politischen' Rhetorik wird,
die ihr von einem 'antimodernen' arabischen Nationalismus oder dessen
manipulativen diktatorischen Regime verkauft würde. Es stehen vielmehr
die arabischen Neo-Liberalen als naive Konsumenten einer 'modernen und
politischen' Rhetorik da, die aus den USA und Israel kommt und die sie
nicht hinterfragen. Und weil sie ihre Strategie unvermindert fortführen,
braucht man kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, welchem arabischen
Volk bald mitgeteilt wird, dass die Palästinenser für seine Misere
verantwortlich seien!
'Die arabische Straße' war aber nie so leichtgläubig. So wurde etwa
Radio Sawa [...]gegen den eigenen Willen zur Triebfeder, sich auf eine
gemeinsame arabische Kultur zu beziehen: Mit seinem Geschwätz über die
politische Irrelevanz der Palästinenser [...]hat es die arabische Welt
nur an das Leid der Palästinenser im Schatten der Intifada erinnert.
Jordanier, Libanesen, Maroniten, Schiiten und Kuwaiter, die die
Palästinenser schon aufgegeben hatten, haben während deren letzter
Schicksalsschläge Solidarität demonstriert. Und angesichts derart
hasserfüllter Rhetorik werden auch die Iraker, ungeachtet der
Exil-Opposition und ihrer Speichellecker innerhalb des Landes, mehr
Durchhaltevermögen zeigen. Amerikanische Propaganda und neo-liberale
Kolumnen lassen sich vielleicht an einzelne verkaufen - es scheint
allerdings, dass die ,arabische Straße' gegenüber solch suspekten
Angeboten mehr oder weniger resistent bleibt."