Eine tiefe Kluft teilt
derzeit die arabischen Intellektuellen. Auf der einen Seite kritisieren
viele die Regime in der Region und verlangen - vor allem in den in
London herausgegebenen aber auch in den arabischen Ländern erscheinenden
Blättern - grundlegende Reformen der politischen Systeme und der
Denkformen. Auf der anderen Seite stehen Intellektuelle und
Kommentatoren, die an der Ideologie des Arabischen Nationalismus
festhalten und sich dabei vor allem auf die Lage in Palästina und dem
Irak berufen.
So erschien in Al-Wafd, der
Zeitung der (wirtschafts)liberalen und sich in der Tradition der
anti-kolonialen Bewegung sehenden ägyptischen Wafdpartei am 8. August
ein Kommentar von Sayyid Amin, der die arabischen Regierungen
beschuldigt, sich vom Nationalismus abgewendet zu haben. Nach dem
gleichen Schema kommentierte am 12. August Arafat Hijazi, langjähriger
Vertrauter des Königs Hussein von Jordanien und einer der
renommiertesten jordanischen Journalisten, in der halböffentlichen
jordanischen Tageszeitung Al-Dustour den Palästina-Konflikt. In ihren
Beiträgen, die wir im Folgenden in Auszügen übersetzen, greifen die
Autoren auch die USA und Israel an:
'Wen von uns quält nicht der
Schmerz'
"Ist das nationalistische
Konzept für die arabische Gemeinschaft [Umma] gescheitert? Dies ist eine
Frage, die sich angesichts der [jüngsten] Ereignisse in der arabischen
Welt mit Nachdruck stellt. Vor allem stellt sich diese Frage, weil
mittlerweile deutlich geworden ist, wie alle sich dem Weißen Haus in die
Arme werfen, selbst wenn dies mit kostbarem arabischen Blut bezahlt
werden muss: wie im Irak, in Palästina, dem Sudan und vielen anderen
Orte in unserer arabischen Welt, die so reich an Ölvorkommen ist - Öl,
mit dem in unseren Ländern Brände entfacht werden und das in ihren
Ländern das Leben pulsieren lässt.
In Wirklichkeit ist der [arabische] Nationalismus als Konzept für die
arabische Gemeinschaft nicht fehlgeschlagen - vielmehr spielt er auf der
Agenda all der zahm gewordenen arabischen Kräfte einfach keine Rolle
mehr. Die Araber verstehen es nämlich sehr gut, sich von ihren
ureigenen, natürlichen Konzepten abzuwenden. Nicht nur, dass sie es
nicht geschafft haben, sich auf einen bestimmten Weg zu einigen und dann
auf diesem voranzugehen - sie fielen sogar noch dahinter zurück:
So gründeten die Araber Mitte der 1940er Jahre die Arabische Liga in der
Hoffnung, die Staaten zusammenzuführen und die arabische Gemeinschaft
auf einen [gemeinsamen] Weg in die Zukunft festzulegen. Und nun sind wir
überrascht davon, dass sie zu einer Reihe immer unscheinbarer und sich
mehr und mehr abkapselnder Staaten und Kleinstaaten geworden sind.
So erklärten die Araber, dass sie sich der Welt öffnen und den
Erfordernissen der Zeit anpassen müssten. Und nun stehen wir auf einmal
[vor der Tatsache], dass die arabische Gemeinschaft, gehorsam wieder der
Kolonisation [des Irak] unterworfen werden soll und der Imperialismus
sogar noch gerechtfertigt wird, obwohl sie es doch noch gar nicht
[geschafft hat], sich durch den bewaffneten Kampf von der Kolonisierung
zu befreien.
Dabei ist aber nicht das Konzept des arabischen Nationalismus gescheitert
- versagt haben vielmehr diejenigen, die ihn zeitweilig angeführt haben.
Sie scheiterten wegen der unlauteren Ziele, die sie verfolgten.
Ein Beweis für die ungebrochene Authentizität des arabischen Nationalismus
ist, dass er bis heute nicht aus dem Bewusstsein der arabischen Völker
vertrieben werden konnte - selbst wenn er für die Regierungen schon seit
langem verschwunden ist. Die Völker verbinden sich und die Politiker
trennen sie... Die Bevölkerungen beklagen sich über die Zersplitterung
und die Politiker betrachten sie als Erfolg! Die Völker widersetzen sich
der Auflösung, die Regierungen zwingen sie ihnen auf.
In Wirklichkeit scheiterte also nicht der arabische Nationalismus;
gescheitert ist vielmehr [das Bestreben] der Regierungen den Völkern
ihren Willen aufzudrängen. Es sind die Regierungen, die den arabischen
Nationalismus aufgeben wollen, wie sie sich zuvor vom [Pan-] Islamismus
und der afrikanischen Perspektive verabschiedet haben.
Stattdessen wollen sie, dass eine Pseudo-Perspektive kreiert wird - eine
Art "Mittlerer Östlichkeit"; oder ein Konzept, unter dem alle
Mittelmeerstaaten gefasst werden sollen. Aber das sind nichts als Namen
und Tinte auf geduldigem Papier. Denn der Ägypter zum Beispiel fühlt
sich nicht als Anwohner des Mittelmeeres, er sieht sich nicht als
"anderes Gesicht" der europäischen Mittelmeeranrainer. Vielmehr weiß er,
dass sein Verhältnis zu ihnen sich auf das eines Polizisten zum Räuber
beschränkt. Der Ägypter fühlt sich nicht als Bürger eines Mittleren
Ostens und er kann gegenüber einem kolonialistischen israelischen Bürger
[...] keine Brüderlichkeit empfinden.
Ja, der arabische Nationalismus ist ein reales Gefühl, das die Seelen
erfüllt und das Blut in den Adern der Menschen in Wallung bringt. Ihr
Eifer mag hier und da nachgelassen haben, doch er glüht überall
weiter... Und diejenigen, die uns davon überzeugen wollen, dass der
arabische Nationalismus am Ende ist, irren sich. Der arabische
Nationalismus kann nicht zugrunde gehen, denn er verbindet Blut,
Geschichte, Sprache, Tradition und Religion.
Wen von uns quälte denn nicht der Schmerz über die Besetzung des Irak? Wen
von uns belastet nicht, dass die Stadt Abu-l-Ja´far al-Mansurs [das
Bagdad des Abbasidenkalifen Al-Mansur 754-775] von den Marines besetzt
und beschmutzt wird? Wer von uns weint nicht bittere Tränen [...], wenn
im Irak hunderte Mädchen der Vergewaltigung durch die Barbaren unseres
Zeitalters zum Opfer fallen; und schreien und Schutz suchen. aber kein
Beschützer kommt.
Wie könnten wir betrübt sein über [die Situation im] Irak und in
Palästina, wenn der arabische Nationalismus nur eine Illusion wäre?! Der
arabische Nationalismus wird nicht zugrunde gehen, denn er ist Ausdruck
eines besonderen Merkmals des Islam... Und geht denn etwa der Islam
zugrunde?!"
(Al Wafd, 8.8.2003;
www.alwafd.org)
'Widerstand ist notwendig'
"Als US-Präsident Bush nach dem
11.9. zum ersten Mal zum Ausdruck brachte, dass er an der Errichtung
eines "lebensfähigen" palästinensischen Staat interessiert sei, wussten
wir, dass er [...] damit nur den Weg zur Zerstörung eines islamischen
Landes, nämlich Afghanistan, ebnen wollte. Letzteres geschah grundlos,
aus bloßem Hass und in dem Bestreben, den Amerikanern die ihnen zuvor
zugestoßene Katastrophe irgendwie erträglicher zu machen - dabei gab es
keinerlei Verbindung zwischen jenen, die den Anschlag verübten und dem
[in seinem Elend] bemitleidenswerten afghanischen Volk [...].
Als Bush dann zum zweiten Mal die Frage eines lebensfähigen
palästinensischen Staates erwähnte, plante er die Zerstörung eines
weiteren arabischen Landes. Dabei war der Irak bis dahin nicht
beschuldigt worden, Beziehungen mit Bin Laden zu haben oder mit den
Anschlägen vom 11.9. zu tun gehabt zu haben [...]. [Vielmehr] litten die
Iraker unter der Last der ungerechten und von Hass geleiteten Blockade
und wollten - wie all die [anderen] Völker dieser Welt - nur in den
Genuss der Freiheit kommen. Allerdings wurden sie daran gehindert, weil
der grundlose Hass von Bush-Senior gegen den Irak und die Iraker nicht
kleiner war als der von Bush-Junior. Dieser zerstörte das Fundament
eines traditionsreichen Landes und seines ruhmvollen Volkes. Dabei
bestand das Verbrechen der Iraker nur darin, ihr Vaterland und die
Demokratie zu lieben [...]. Ohne den Hass der Amerikaner wäre der Irak
eine Fackel des Lichts, des Wissens und der Zivilisation geblieben, wie
es das Land in seiner Geschichte immer gewesen ist!
Außerdem hat Bush den palästinensischen Staat nie genauer bestimmt. Er hat
nicht gesagt, dass dieser unabhängig sein soll, mit Grenzen und mit
Jerusalem als Hauptstadt sowie eine Armee, die den Staat schützt, wie es
in jedem anderen Staat der Welt üblich ist. Kein Wunder, ist Bush doch
eine Beute der zionistischen Bewegung, die ihm weis macht, dass seine
Wiederwahl von der Vernichtung des palästinensischen Volkes abhängt.
Deshalb verlässt er sich auf die zionistischen Kreuzritter mit ihrem
Terror, der [Strategie] der Verbannung und den schmachvollen
Bedingungen, die vor der Errichtung des Staates zu erfüllen sind: die
Beendigung der Intifada durch die vollständige Entwaffnung des
palästinensischen Volkes, den Stopp der Selbstmord-Operationen und das
Ausschalten des bewaffneten Widerstands. Auf diese Weise soll das
palästinensische Volk unmündig und vollständig abhängig davon gemacht
werden, was Israel mit ihm vorhat - nämlich die Umsiedlung des
palästinensischen Volkes. Das hat vor kurzem Israels Gesundheitsminister
Benny Alon enthüllt, als er [...] einen Knessetbeschluss forderte, um
200000 Palästinenser aus Alt-Jerusalem zu vertreiben. Außerdem wollte er
eine Volksabstimmung herbeiführen, in der die Israelis über die
Vertreibung aller Palästinenser aus Jerusalem abstimmen sollten, damit
die Stadt "wieder rein ist" - das heißt ohne nicht-jüdische Bewohner!
[...]
Zwar hat der amerikanische Präsident Bush [mit Abbas] jetzt zum ersten Mal
eine palästinensische Persönlichkeit vor der israelischen [Scharon]
empfangen. Aber das war ein sorgfältig überlegter Schritt [...]. Bush
wollte Scharon die Gelegenheit geben, zentrale Fragen wie die
Vernichtung der Hamas und der anderen Organisationen sowie die
vollständige Entwaffnung des palästinensischen Volkes [unwidersprochen]
vorzubringen. [...]
Bush hat dann nicht nur den Drohungen Scharons nachgegeben, sondern man
konnte ihn sogar so verstehen, dass er auch noch die Kosten für den Bau
der Trennungsmauer übernehmen wolle - wie sein Vater [...], der zur
Deckung der Kosten für die Umsiedlung von drei Millionen Juden aus der
Sowjetunion und deren Ansiedlung in Israel zehn Milliarden Dollar
gezahlt hat!!
[...] Und weil es der Traum jedes Israeli ist, nicht nur die Hamas,
sondern das ganze palästinensische Volk zu vernichten, zielen alle ihre
Pläne darauf , einen Bürgerkrieg zwischen den Palästinensern und den
bewaffneten Organisationen zu entfachen. Schließlich sind nur sie in der
Lage, das palästinensische Volk vor der Vernichtung zu schützen. Das
haben die Palästinenser jedenfalls in den Jahren der Intifada gemerkt,
als sie von der mit Israel zusammenarbeitenden PA nicht in geringster
Weise militärisch geschützt wurden. Wären nicht die
Fedayyin-Organisationen und ihre Märtyreroperationen gewesen, dann hätte
sich das palästinensische Volk erneut in einen Haufen von Flüchtlingen
verwandelt.
[...]Der palästinensische Widerstand ist notwendig, um das Vaterland zu
schützen. [Die Israelis aber] brauchen [zur Verwirklichung ihrer Ziele]
das Oslo-Abkommen, das die Entwaffnung des palästinensischen Volkes
vorsieht, weil es der einzige Weg ist, eine Spaltung zwischen der Fatah
und Hamas entstehen zu lassen. Dann würde die Hamas von der PA bekämpft
werden - wie schon am Ende der ersten Intifada, als Israel nicht in der
Lage dazu war und daher dem palästinensischen Herrschaftsapparat die
Aufgabe übertrug, das Problem zu beseitigen.[...]
[Nach dem Treffen mit Scharon] hatte Bush dann tatsächlich alles
vergessen, was er mit Mahmud Abbas über den Staat, seine Grenzen und
seine Befugnisse [...] besprochen hatte. Er beschränkte sich nun auf
sein Versprechen, dass es einen Staat geben werde, wenn der Terrorismus
ausgeschaltet ist - und meinte damit das palästinensische Volk. Er hat
deshalb nicht mehr über die Grenzen [...] des Staates gesprochen, weil
ihm [nach dem Treffen mit Scharon] klar war, dass dieser die Roadmap
ebenso wenig akzeptiert wie zuvor das Oslo-Abkommen. Vielmehr hat
Scharon nur eins im Sinn: Es soll ein Bürgerkrieg unter den
Palästinensern entbrennen - ist dies doch der einzige Weg zur
Verwirklichung des zionistischen Projekts, das jetzt zwischen Euphrat
und Nil errichtet werden soll. Denn von nun an werden alle Führer des
Irak Zionisten sein, die versuchen werden, das Zweistromland und das
Erbe der abbasidischen Hochkultur mit dem Reich von Harun Al Rashid
[Abbasidenkalif von 786-809] in Stücke zu reißen und damit eine der
wichtigsten Säulen der Araber und Muslime zu zerstören!
(Al-Dustour, 12.8.2003;
www.addustour.com)
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH
INSTITUTE (MEMRI)
eMail:
memri@memri.de,
URL:
www.memri.de
© Copyright 2002. Alle Rechte
vorbehalten.