Vor der Bastille:
Demokratisierung im Nahen Osten
Von Thomas v. d. Osten-Sacken
Jungle World 51/
2002 v. 11. 12. 2002
Man muss nicht die Euphorie einiger US-amerikanischer
Kommentatoren teilen, um festzustellen, dass in den letzten Wochen bedeutende
Veränderungen im Nahen Osten stattfanden. Sicher ist es fraglich, ob die
Studentendemonstrationen im Iran auf einen revolutionären Sturz des
Mullah-Regimes hinauslaufen, wie es Michael Ledeen in der letzten Ausgabe der
National Review erhoffte. Richtig aber ist, dass man die Lage im Iran und im
Irak durchaus mit den letzten Tagen des Ancién Regime vergleichen kann.
"Wir sind Zeugen erstaunlicher Ereignisse", schrieb kürzlich Jeff
Jacoby im Boston Globe. "Die Menschen, die am längsten vom radikalen Islam
regiert wurden, wollen dringend seinen Sturz." Tausende folgten am vergangenen
Wochenende der Parole, mit der iranische Studenten zu Massenprotesten in den
Großstädten des Landes aufgerufen hatten: "Nieder mit den Taliban, in Kabul und
Teheran." Während Sicherheitskräfte und regimetreue Milizen mit äußerster Härte
gegen die Demonstranten vorgingen, radikalisierten diese ihre Forderungen und
verlangten den Rücktritt der Regierung und ein laizistisches System.
Obwohl in der vergangenen Woche die einflussreiche
radikalislamistische Gruppe Ansare-Hizbullah zum "revolutionären Jihad" gegen
die Reformkräfte und Studenten aufrief, ist es völlig unklar, ob es dem Regime
noch einmal gelingen wird, die Studentenunruhen gewaltsam zu ersticken. Hunderte
sollen inzwischen in die berüchtigten Internierungslager gebracht worden sein,
in den vergangenen Monaten wurden zudem zahlreiche Journalisten und
Intellektuelle inhaftiert.
Die lauter werdenden Forderungen nach einer Trennung von Religion
und Staat und der Schaffung einer bürgerlich verfassten Gesellschaft wird das
Regime mit diesen Mitteln wohl kaum mehr aus der Welt schaffen können. Denn in
die ganze Region ist Bewegung gekommen. Langsam zeichnen sich auch konkrete
Pläne für eine Nachkriegsordnung im Irak ab, die ebenfalls demokratisch, säkular
und föderal sein soll.
In der vergangenen Woche stellte der aus irakischen
Exilintellektuellen zusammengesetzte Democratic Principles Workshop, in dem
unter anderem der Autor von "Republic of Fear", Kanan Makiya, mitarbeitet, einen
100seitigen Bericht mit dem Titel "The Transition to Democracy in Iraq" vor.
Dieses Papier wird einer Konferenz der irakischen Oppositionsgruppen und
-parteien, die Mitte Dezember in London stattfinden soll, als Grundlage ihrer
Diskussionen dienen.
Die unter anderem vom US-Außenministerium geförderte Gruppe
entwickelte detaillierte Vorschläge, wie das Land nach einem Sturz Saddam
Husseins in eine Demokratie umgewandelt werden kann, ohne dabei in ethnisch
dominierte Enklaven zu zerfallen. Eine neue Art des Föderalismus wird
vorgeschlagen, die sich am Beispiel des seit 1991 befreiten kurdischen Nordiraks
orientieren soll und neben einer Entmilitarisierung des Irak die strikte
Trennung von Staat und Religion vorsieht.
Sowohl "Freiheit und Säkularismus", das einfache Programm der
iranischen Studenten, als auch die komplizierten Überlegungen zu einer
Transformation des Irak sind insofern revolutionär, als sie sich an den
Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren, anders als alle bisherigen Putsche und
Pseudorevolutionen in der Region. Diese verstanden sich vor allem als
Abwehrmaßnahmen gegen "den Zionismus" und als nationale Rettung vor
imperialistischer Fremdherrschaft. So endeten sie zwangsläufig in Diktaturen,
deren Abschaffung nun endlich bevorzustehen scheint.
hagalil.com
12-12-2002 |