Darfur:
Blinde Solidarität
Die Reaktion der Arabische Liga auf die
Massenmorde sudanesischer Milizen in Darfur ist von ideologischer
Starrheit geprägt. Nur vereinzelt regt sich Widerstand gegen die
vorherrschende Suche nach den Ursachen.
Von Thomas von der Osten-Sacken
Jede Krise in einem arabischen Land, die dann
in der Regel, wenn nicht in Krieg, so doch in Bürgerkrieg oder
Massakern größeren Ausmaßes zu eskalieren pflegt, lässt den Ruf nach
stärkerem Engagement der Arabischen Liga laut werden. Ob im
libanesischen oder jemenitischen Bürgerkrieg, nach dem Einfall
Saddam Husseins in Kuwait, immer dann, wenn so genannte
"innerarabische Probleme" eskalieren, bringen Medien und Politiker
die Liga ins Gespräch, ganz so als hätte diese Einrichtung seit
ihrer Gründung auch nur einen Konflikt lösen können.
Als die Massenmorde sudanesischer Milizen in
Darfur mit reichlich Verspätung in den USA und Europa thematisiert
wurden und einige halbherzige Interventionsdrohungen gegen das
Regime in Khartoum zur Folge hatten, reagierte, was hierzulande
gerne "arabische Öffentlichkeit" genannt wird, also die größtenteils
aus staatlichen oder halbstaatlichen Medien bestehende
veröffentlichte Meinung, wie sie dies seit Jahrzehnten tut: Nicht
der Westen, dessen Motivation bekanntermaßen eine imperialistische
sei, sondern die arabischen Staaten müssten sich der Krise, so eine
überhaupt bestehe, annehmen und sie lösen. Dafür schließlich gäbe es
auch die Arabische Liga.
Bis allerdings der US-Kongress von "Genozid"
sprach und Maßnamen anmahnte, um ein "zweites Ruanda" zu verhindern,
wurde der Darfur-Konflikt, der immerhin im Frühjahr 2003 begonnen
hatte, in der arabischen Welt mehr oder weniger totgeschwiegen. Noch
beim Treffen der islamischen Staaten in Kairo im April diesen Jahres
hatte man stattdessen in bekannter Diktion dem "sudanesischen Volk"
seine Solidarität gegen fremde Aggressoren versichert und war dann
zur Tagesordnung, die seit je her Palästina und neuerdings Irak
heißt, übergegangen.
Ganz unbemerkt allerdings waren die "Regime
Changes" in Afghanistan und Irak an der Arabischen Liga, anders als
an der Konferenz islamischer Staaten, nicht vorbei gegangen. Seit
letztem Jahr bemüht die Liga sich um einige, wenn auch kosmetische
Veränderungen; verstärkt sprachen ihre Funktionäre nun von der
Notwendigkeit "demokratischer Reformen" und – Novum in der
Geschichte der Organisation –, eine "Menschenrechtsdelegation" wurde
im Frühjahr 2004 nach Darfur entsandt, die dort immerhin
"gravierende Menschenrechtsverletzungen" feststellen musste. Der
Bericht wurde, auf Druck des Mitgliedslandes Sudan, allerdings nie
publiziert. Stattdessen bemühten sich die arabischen Staaten
angesichts US-amerikanischer Forderungen nach Sanktionen, wie der
algerische UN-Botschafter erklärte, "einen weiteren Versuch
westlicher Obstruktion in einem arabischen Land zu verhindern."(1)
Dies waren die seit langem bekannten Töne. Kaum
werden, meist halbherzig, Massaker und Menschenrechtsverletzungen,
die von arabischen oder islamischen Staaten an ihren eigenen
Bevölkerungen begangen oder geduldet werden, innerhalb von
UN-Institutionen zur Sprache gebracht, heißt es, es ginge dem
"Westen", gemeint sind dabei vor allem die USA und natürlich Israel,
um eine Schwächung oder Unterwanderung der arabischen Welt. Dass
beinahe jede zweite Resolution des UN-Menschenrechtsauschusses
Israel verurteilt und der Sudan im Mai frisch in das Gremium gewählt
wurde, spielt keine Rolle. Im Gegenteil: Als sich die
UN-Vollversammlung auf Druck der arabischen Staaten für eine
zahnlose Resolution entschied, die keinerlei Druck auf das Regime in
Khartum ausübte, fanden sich umgehend jene arabischen Medienstimmen,
die die UN als Werkzeug der kriegslüsternen USA diffamierten. Die in
London erscheinende Zeitung Al Quds al Arabi konnte in der
Resolution beispielsweise "nur eine weiteres Glied in der Kette von
Bemühungen der USA und des Westens sehen, die arabischen und
muslimischen Länder anzugreifen". Die USA nutzten, hieß es weiter,
die UN einmal mehr als Werkzeug für ihre bevorstehende
Aggression.(2) Andere Zeitungen empörten sich stereotyp über
"zionistische Pläne, die arabische Welt zu destabilisieren" oder
sahen im Sudan das nächste Opfer des unstillbaren amerikanischen
Öldurstes.(3)
Schlafwandlerisch griffen JournalistInnen und
PolitikerInnen dabei auf die seit Jahren erprobte ideologische
Matrix zurück, mit der arabische Medien politische Ereignisse
deuten, die vermeintlich den Interessen der arabischen Welt
zuwiderlaufen. Nicht das Leiden der PalästinenserInnen oder
IrakerInnen unter den israelischen und amerikanischen
Okkupationsregimes, jenen unterdrückten Brüdern und Schwestern also,
deren Befreiung an oberster Stelle stehen müsste, schenke die
Weltöffentlichkeit Aufmerksamkeit, sondern lediglich sekundären
Konflikten innerhalb der arabischen Welt, die lediglich
instrumentalisiert würden, um die Araber weiter zu schwächen und zu
demütigen. Im Kern gehe es um die Zerstörung arabischer (oder
islamischer) Identität und Eigenart, um einen Kreuzzug, der die
Rekolonisierung des Nahen Osten im Dienste des Zionismus verfolge.
Zwar wird die Hermetik, mit der sich die
herrschende arabische Ideologie gegen jede Kritik abdichtet und für
hausgemachtes Elend generell externe AkteurInnen verantwortlich
macht, von einigen wenigen Stimmen schärfer als zuvor in Frage
gestellt. Trotzdem bleiben diese ideologischen Konstruktionen
hegemonial. Wer widerspricht, muss meist, will er nicht selbst in
den Verdacht geraten, es mit dem Feind zu halten, ihnen Tribut
zollen, anstatt sie als irrsinnig bloßzustellen. Umso
bemerkenswerter ist die Courage jener, die die arabische Haltung in
der Sudan-Krise offen kritisieren.
So erklärte etwa Baheieddin Hassan vom Cairo
Centre for Human Rights der ägyptischen Zeitung Al-Ahram: "Das
sprechende Schweigen in der arabischen Welt über Darfur gleicht
jenem als Saddam Hussein 185 000 Kurden im Irak abschlachten ließ.
(...) Die arabische Öffentlichkeit fühlt sich offenbar weit mehr zu
pathetischen Liedern, Flaggengeschenken und patriotischer Rhetorik
hingezogen."(4) Der ehemalige Herausgeber der panarabischen Zeitung
Al Aharq al-Awsat fragte, angesichts dieses Schweigens einerseits
und der Empörung angesichts der Bilder von US-Soldaten misshandelter
Irakis andererseits, ob das Leben von 1000 SudanesInnen weniger wert
sei als das eines Palästinensers oder Irakers, nur weil letztere die
USA und Israel als Feinde hätten.(5) Bigotterie und Komplizenschaft
zeichneten die Arabische Liga aus, die bislang zu allen Gräueltaten
ihrer Mitgliedsstaaten geschwiegen habe, meint auch der irakische
Schriftsteller Hussein al-Mozany: "Die arabischen Potentaten haben
niemals die Stimme gegen die Schandtaten erhoben, die unter Saddam
jahrzehntelang im Irak verübt wurden. Öffentliche Hinrichtungen,
Massenexekutionen, Fleischwölfe, in denen Oppositionelle zu
Hackfleisch gemacht wurden (...) – all dieses und noch viel mehr
wurde weder von der arabischen Liga noch von anderen arabischen
Staaten angeprangert."(6)
Diese Liste von Grausamkeiten ließe sich, wie
al-Mozany richtig bemerkt, beliebig fortführen. Die im Irak im Namen
des Panarabismus begangenen Verbrechen stellten lediglich die
zugespitzte Form von Herrschaftspraxis dar, die im gesamten Nahen
Osten seit über fünfzig Jahren praktiziert wird und Millionen von
Menschen das Leben gekostet hat. Denn in keiner anderen Region der
Welt gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viele
Kriege, Bürgerkriege, Massaker, politische Gefangene, Aufrufe zur
Gewalt und terroristische Anschläge.(7) Gewalt, Folter und
Unterdrückung stellen dabei keineswegs nur ein letztes Mittel zur
Lösung staatlicher Konflikte dar, oder werden eingesetzt um eine
unliebsame Opposition zu unterdrücken und den Sturz von Regierungen
zu verhindern, sie sind längst Teil jener herrschenden Ideologie
geworden, die mit Abstrichen von allen Regierenden und sogar von
großen Teilen der Opposition geteilt wird. Der Aufruf, Gegner,
eingebildete oder reale, zu eliminieren, "zur Hölle zu schicken"
oder "wie Insekten zu vernichten", gehört zur politischen
Alltagssprache des Panarabismus ebenso wie des Islamismus. Es ist
dabei durchaus üblich, nicht nur gegen ZionistInnen und
ImperialistInnen schlimmste Drohungen auszusprechen, auch unliebsame
KritikerInnen oder DissidentInnen wünscht man sich tot bzw.
öffentlich exekutiert.(8) Ausgerechnet der ehemalige kuwaitische
Informationsminister kritisierte kürzlich, dass sich in Arabien
längst eine Kultur der Gewalt, des Blutvergießens und der
Todesverherrlichung entwickelt habe, deren Ursachen keineswegs in
"Imperialismus und Zionismus" lägen, sondern die in der arabischen
Geschichte selbst lägen.(9)
Aufrufe an die Arabische Liga, die ja Ausdruck
panarabischer Ideologie ist und keineswegs ein neutraler,
vermittelnder Dritter, machen bestenfalls also den Bock zum Gärtner.
Das Gründungsmanifest der Liga war 1948 der Aufruf, die Juden und
Jüdinnen Palästinas zu vernichten und unter ihnen ein Blutbad
anzurichten, wie es einst die Mongolen in Bagdad taten. Seitdem
duldet oder unterstützt der arabische Staatenverbund die paranoide
Ideologie seiner Mitglieder und verteidigt sie standhaft gegen
Kritik und andere westliche Zumutungen.
Die Massaker in Darfur und die Reaktionen der
arabischen Welt sind nur ein weiteres blutiges Beispiel für die
Verfasstheit der arabischen Welt, der keineswegs mit Ermahnungen und
"kritischen Dialogen" beizukommen ist, sondern die einer radikalen
und grundsätzlichen Veränderung bedarf. Solange diese nicht
stattfindet, werden mit trauriger Monotonie die Massaker, Suicide
Bombings und Aufrufe zur Gewalt weitergehen.
Erschienen in Context XII, Herbst-Winter 2004
Anmerkungen:
(1) Zit. nach BBC News v. 27.7.2004.
(2) Zit. nach BBC Übersetzungsdienst v. 1.8.2004.
(3) Vgl. etwa Al-Ahram Weekly v. 31. 7. 2004: An American Conspiracy
to Control the Sudanese Oil.
(4) Gamal Nkrumah: Dragging feet over Darfur; Egyptian NGOs have
sent a fact-finding mission to Darfur. Al-Ahram v.
(5) Former Editor of Major Arab Daily on Arab Indifference to the
Violence in Sudan. MEMRI Special Dispatch Series – No. 736,
30.6.2004.
(6) Hussein al-Mozany in Frankfurter Allgemeine Zeitung v.
18.5.2005.
(7) Vgl. Barry Rubin: The Tragedy of the Middle East. New York 2002,
S. 138.
(8) Im Juni 2000 etwa wurde das kritische Ibn Khaldun Center in
Kairo von der Regierung mit dem Argument geschlossen, es ließe sich
aus dem Ausland finanzieren, sein Leiter Saad ed-Din wurde
festgenommen und zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Während
Menschenrechtsorganisationen den Vorfall scharf kritisierten, fanden
sich in Ägypten nur wenige, die sich mit Saad solidarisierten. Der
Herausgeber der ägyptischen Zeitung al-Usbaa forderte dagegen, dass
jene, die sich mit Fremden gegen Ägyptens nationale Interessen
zusammenschlössen, öffentlich exekutiert werden müssten.
(9) Former Kuwaiti Communications Minister: Zionism and Imperialism
have Nothing to do with Our Culture of Violence, in: MEMRI Special
Dispatch Series – No. 770 v. 24.8.2004.
hagalil.com
27-10-2004 |