DER RELIGIÖSE FAKTOR IN DER US-POLITIK
Die Faust des Gerechten
Ein amerikanischer Intellektueller reflektiert
das heutige Image der USA in der Welt und erklärt, warum es unabdingbar ist,
das Verhältnis ihrer politischen Klasse zur Religion zu verstehen.
Von LEWIS H. LAPHAM
Chefredakteur von Harpers; vom Autor zuletzt erschienen: "Theater of War", New
York (The New Press) 2003.
VERGANGENEN Winter, in den Wochen bevor die Dritte
US-Infanteriedivision am 21. März im Euphrattal vorrückte, hatte ich
mehrfach Gelegenheit, nach Europa zu reisen. Dabei sah ich mich in vier
Ländern und fünf Sprachen mit antiamerikanischen Gefühlen konfrontiert, die
mit der Zeit immer heftiger und erbitterter wurden.
Zeitungen und Fernsehen berichteten tagtäglich über die
gescheiterten diplomatischen Bemühungen in den Vereinten Nationen. Und wo
immer ich ins Gespräch kam, in einem Restaurant in Paris oder in einem
Londoner Park, im Zug von Genf nach Zürich oder in einer Hotelbar in Rom,
kaum waren die üblichen Floskeln über Verkehr und Wetter ausgetauscht,
wurden die Fragen immer feindseliger: Haben wir es auf die irakischen
Ölfelder abgesehen? Will das Pentagon neue Waffensysteme ausprobieren? Haben
die USA ernsthaft die Absicht, inmitten der mesopotamischen Wüste eine
potemkinsche Demokratie zu errichten? Wird die Politik des Weißen Hauses von
Anhängern der Großisrael-Idee gesteuert? Hat Colin Powell eigene Gedanken
und Überzeugungen, oder ist er eine Art aufziehbare Marionette, die bei
Pressekonferenzen vorgefertigte humanitäre Betroffenheitsbotschaften
ableiert? Und Präsident Bush - ist er ein tolldreister Dieb oder ein
gottesfürchtiger Rüpel?
Solche Sarkasmen entsprechen der Karikatur, die von führenden Köpfen der
gehobenen europäischen Bewusstseinsindustrie schon immer verbreitet wurde
und die Amerikaner als brutale Materialisten zeichnet: nüchtern und
pragmatisch, technologisch Spitze, aber ohne jede Kultur, rastlos hinter dem
Geld her und hemmungslos dem Konsum verfallen, eine Nation von Philistern,
die nicht zwischen Beethoven und Molière, aber zwischen Gewinn und Verlust
unterscheiden kann.
Die europäischen Intellektuellen begehen den Irrtum, uns als säkulares Volk
darzustellen, das sich dem Diktat von Zahlen und Fakten unterwirft, als
Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die auf die empirische Methode
schwören und an Voltaires "Prinzip der universellen Vernunft" festhalten.
Doch diese Karikatur übersieht die mannigfachen Spielarten religiöser
Erfahrung in den USA; und selbst die Briten sehen darüber hinweg, dass
Jehova nicht nur in Texas oder Tennessee, sondern mitten im Kongress von
Washington munter und lebendig - und häufig ziemlich zornig - ist. Nach
Meinungsumfragen bezeichnen sich 46 Prozent der US-Bürger - wie George W.
Bush - als evangelikale Christen, das heißt als "wiedergeboren" und damit
schon der Erlösung gewiss; 48 Prozent lehnen die Evolutionstheorie als
Ketzerei ab, 68 Prozent glauben, sie seien schon einmal dem Teufel begegnet.
Mehr als 50 Millionen lesen Romane, die dem Leser die Wiederkunft des Herrn
verklickern wollen. Justizminister John Ashcroft verkündete: "Wir haben
keinen König außer Jesus." Und Tom DeLay, der republikanische Fraktionschef
im Repräsentantenhaus glaubt sich von Gott berufen, die "biblische
Weltanschauung" in der amerikanischen Politik zu stärken, wonach nur das
Christentum lehre, wie man "mit den Realitäten dieser Welt zurechtkommen"
könne.
Wenn ich in Paris oder London nach den Zielen der USA im Irak gefragt wurde,
erschien es mir meist unabdingbar, mit der Unterscheidung zwischen säkularer
und religiöser Außenpolitik zu beginnen. Auch die europäische Wählerschaft
weiß zumeist nicht viel über Grenzstreitigkeiten oder Handelsdispute, aber
zumindest ist allen klar, dass Konflikte zwischen Staaten stets mühselig und
historisch vorbelastet sind, dass meist heftig über finanzielle Details
gestritten wird und dass in der Regel Doppelzüngigkeit, Heuchelei und
Gemeinheit im Spiele sind. Wir Amerikaner streben immer nach "moralischer
Klarheit", und wenn die Karten neu gemischt werden, dann bitte auf möglichst
dramatische Art, eben wie im Film: ein Krieg, der das Ende aller Kriege
bedeutet, nach einem Drehbuch mit erbaulichen Parabeln und Dialogen im
Predigerton.
Schon der Krieg gegen die Mexikaner in den 1840er-Jahren wurde unter der Flagge
einer transzendenten Außenpolitik geführt, denn nach der
Prädestinationslehre konnten die Amerikaner gewiss sein, dass Gott selbst
ihre Pferde und Kanonen gesegnet hatte. Horace Greeley modernisierte 1859
diese Lehre, um mit ihr das Niedermetzeln der Prärieindianer begründen zu
können: "Diese Leute müssen aussterben - es kann ihnen niemand helfen. Gott
hat diese Erde denen gegeben, die sie sich untertan machen und sie zu
kultivieren verstehen; es wäre vermessen, sich seinem gerechten Auftrag zu
widersetzen." Präsident Woodrow Wilson führte das Land unter dem Banner
eines Kreuzzugs in den ersten Weltkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts und
präsentierte 1919 seine "Vierzehn Punkte" auf der Pariser Friedenskonferenz
mit der Begründung: "Amerika hat das unendliche Privileg, seine Bestimmung
zu erfüllen und die Welt zu retten." Schon damals hatten die Europäer Mühe,
das besondere amerikanische Verhältnis zur göttlichen Vorsehung zu
begreifen. Nachdem der französische Premierminister Georges Clémenceau den
ersten Entwurf der "Vierzehn Punkte" gelesen hatte, sah er vom Blatt auf und
sagte: "Selbst der Allmächtige hat sich auf zehn beschränkt!"
So gesehen war es ein kleines Wunder, dass Präsident Bush am Abend des 6. März
nicht in Zungen redete, als er im Weißen Haus die bevorstehende Strafaktion
gegen den Irak ankündigte. Sein Thema war geopolitischer Natur, aber die
Botschaft war religiös, die starre Leere in seinem Gesicht ähnelte auf
beunruhigende Weise dem entrückten Blick eines Gläubigen, der in den Spiegel
der Ewigkeit schaut. Zuerst las er aus einem alttestamentarischen Text, und
dann, als er die Fragen der Schriftgelehrten und Pharisäer beantwortete,
legte er Zeugnis ab von einer auf vier Säulen des heiligen Zorns fußenden
Offenbarung: 1. Die Vereinigten Staaten stehen mit Christus im Bunde und
ziehen in den Krieg, um die Welt vom Bösen zu befreien. 2. Der Irak ist
Sodom und womöglich auch Gomorrha. 3. Saddam ist ein Lakai des Teufels. 4.
Jedes Land, dass sich weigert, der "Koalition der Willigen" beizutreten,
verdient, in der Wüste des Unglaubens zu verschmachten.
Auch die Biografen des Präsidenten geben Sätze von sich, die sich anhören, als
entströmten sie dem Brunnen Salomons. Da ist von "stählerne Gelassenheit im
Zentrum des Sturms" die Rede, von "seiner Mission, die der großen Vision der
göttlichen Vorsehung folgt", vom "demütigen Führer eines großen Landes", vom
"Bruder in Christus". Seiner eigenen oder der Eingebung seiner
Redenschreiber folgend, lässt der Präsident, wenn immer er vor ein Mikrofon
tritt, keine Gelegenheit aus, die frohe Botschaft in biblischer Sprache zu
verkünden: "Die Freiheit, die wir meinen, ist nicht Amerikas Geschenk an die
Welt, sie ist Gottes Geschenk an die Menschheit." Oder: "Wir kennen nicht
alle Wege der Vorsehung, aber wir dürfen uns ihnen anheimgeben und vertrauen
auf den liebenden Gott, der hinter allem Leben und hinter aller Geschichte
steht." Oder auch: "Die Besatzung der Raumfähre Columbia ist nicht
wohlbehalten zur Erde zurückgekehrt. Aber wir können dafür beten, dass sie
alle heimgekehrt sind." Oder die apokalyptische Drohung: "Zur Verteidigung
unserer großen Nation werden wir Tod und Gewalt in alle vier
Himmelsrichtungen tragen."
Ich bezweifle nicht, dass der Präsident irgendwo auf einer Landstraße in Texas
oder an einem Teich in Maine das große Licht gesehen hat, aber ich kann dem,
was er sagt, nicht mehr Sinn entnehmen als dem Rauschen des Regens oder dem
Rascheln der Blätter. Ich führe mein Versagen auf meine frühe - nach Geist
und Inhalt völlig säkulare - Erziehung zurück. Meine erste Sonntagspredigt
hörte ich im Alter von 13 Jahren in der weißgoldenen Kapelle einer
Internatsschule in Neuengland, und am Ende applaudierte ich kräftig, wie ich
es von Abschlussfeiern und politischen Versammlungen her gewohnt war. Ich
wuchs in der Überzeugung auf, die Gründerväter der amerikanischen Republik
verdienten unsere Hochachtung vor allem für ihren enormen Intellekt und die
Kühnheit ihrer Experimente. Deshalb habe ich stets gedacht, die Verbeugungen
der Politiker vor Altar und Kreuz sei nur eine höfliche Geste, die der
Verstand dem Aberglauben zollt. Der Kandidat ist auf Stimmenfang und will
das lokale Kunsthandwerk nicht heruntermachen oder falsch herum um den
Totempfahl laufen.
Präsident Ronald Reagans plakative Religiosität konnte man noch als
Zugeständnis an die Christenscharen verstehen, aber wie sollte ich einem
europäischen Publikum erklären, warum die USA sich anschickten, im Irak die
Schlacht von Armageddon zu schlagen? Mir blieb nichts anderes übrig, als
Bushs messianische Erklärungen wörtlich zu nehmen. Meine Gesprächspartner
glaubten ausnahmslos, ich mache Witze, und ich hatte größte Mühe, ihnen den
Zusammenhang zwischen dem Traum des Evangelisten vom Paradies und der Vision
des Politikers vom neuen Utopia zu verdeutlichen. Beide Prophezeiungen
wollen uns nach Immobilienspekulantenart einreden, was wir glauben wollen
und was einfach nicht da ist: Saddam Husseins Arsenal von Atomwaffen, die
Invasion der vietnamesischen Armee am Strand von Waikiki oder der perfekte
Orgasmus auf Bestellung dank Christina Aguilera. Die ausländischen
Beobachter, die unsere unstillbare Gier nach Waren und Dienstleistungen
bemängeln, haben nichts verstanden. Die materiellen Gegenstände sollen nur
unsere ersehnten immateriellen Erfolge bezeugen.
Bei Gott, was ich verspreche, das halte ich
ES geht nicht darum, was man mit Geld alles kaufen kann, sondern darum, was das
Geld über unseren Rang und unsere Stellung in der Gemeinschaft der Erlösten
aussagt. Voller Sehnsucht nach Visionen selbst noch im Dschungel des
Konsums, fallen wir auf jede Werbung herein, die uns aus dem Schiffbruch des
Lebens zu retten verspricht. Weil wir das Immaterielle und Unsichtbare
lieben, die Namen der Dinge wichtiger als die Dinge finden, kann man uns
Geländewagen und Seife verkaufen; eine ganze Litanei bedeutungsloser
Modewörter - weltlicher wie geistlicher, literarischer wie
wissenschaftlicher, politischer wie ökonomischer - dient der Beschreibung
von geistigen Reichen, die gar nicht existent sind. Die erfolgreichsten
Propheten des sexuellen Glücks und des sozialen Wandels wissen heute, dass
sie unangenehme Fakten umso weniger beachten müssen und umso müheloser in
die Sphären strahlender Abstraktion entschweben können, je weniger sie über
das betreffende Thema wissen.
Diese meine revisionistische Darstellung des wahren Amerikaners als geborenen
Dichters und natürlichen Metaphysikers stieß in Italien, Frankreich, England
und der Schweiz auf Ungläubigkeit,weil niemand wahrhaben wollte, wie
gefährlich weit sich Amerika bereits von seinem Ankergrund in der Aufklärung
des achtzehnten Jahrhunderts gelöst hat. Die wütende Kritik an unserem
Präventivschlag gegen den Irak entsprang einem Gefühl der Enttäuschung und
Desillusionierung. Was war aus den Ideen Thomas Paines geworden? Was aus der
Hoffnung auf eine demokratische Republik, gegründet auf die Naturgesetze und
die Herrschaft der Vernunft? Wo war die Weitsicht eines Abraham Lincoln, der
humanitäre Idealismus eines Franklin D. Roosevelt geblieben?
Die Antworten auf diese Fragen sind wenig beruhigend. Der Anblick von Präsident
George Bush, der den Vier Reitern der Apokalypse die Faust des Gerechten
entgegenstreckt, bringt mich nicht auf die politische Theorie eines James
Madison. Mir drängt sich stattdessen das Bild von Jonathan Edwards auf, wie
er im kolonialen Massachusetts vor einer Versammlung von Sündern wettert:
"Der Bogen von Gottes Zorn ist gespannt, und der Pfeil liegt auf der Sehne,
und seine Gerechtigkeit lenkt den Pfeil auf eure Herzen." Oder das Bild von
al-Hajjaj, der im Jahre 694 die Regierung Bagdads übernahm und dessen
Botschaft shock and awe verbreiten sollte: "O Menschen des Irak bei Gott,
ich werde euch entkleiden wie den Baum seiner Rinde, ich werde euch schnüren
wie ein Reisigbündel, ich werde euch schlagen wie ein flüchtiges Kamel Und
bei Gott, was ich verspreche, das halte ich; was ich beschließe, das
erreiche ich; was ich messe, das schneide ich ab."
Die Begründer der Freiheit Amerikas waren Entdecker neuer Pflanzen und Sterne,
sie erfreuten sich an dem, was Thomas Jefferson "die unnachahmliche Freiheit
des menschlichen Geistes" nannte, sie machten ihre wissenschaftlichen und
philosophischen Entdeckungen, indem sie die Quellwasser des Missouri
kartografierten oder den Durchgang der Venus vor der Sonne studierten:
Benjamin Franklin (Autor, Drucker, Erfinder, Staatsmann), William Bartram
(Botaniker), Thomas Paine (Essayist, Ingenieur), Benjamin Rush (Arzt,
Apotheker), Thomas Jefferson (Autor, Architekt, Diplomat, Agronom). Für
Priester hatten sie keine Verwendung. Und auf der Trennung von Kirche und
Staat bestanden sie nicht etwa deshalb, weil sie einen nachteiligen Einfluss
der Staatsmacht auf die Religion befürchteten, sondern weil sie
sensiblerweise von einem schädlichen Einfluss der Religion auf das
Staatswesen ausgingen. Eingedenk der europäischen Religionskriege, des
Massakers der Bartholomäusnacht, der Scheiterhaufen der römisch-katholischen
Inquisition und der bluttriefenden Insignien der mittelalterlichen Kreuzzüge
verglich Jefferson die Religion mit einer Tyrannei "die der Menschheit
schweres Leid zugefügt und die der Geschichte über zehn bis zwölf
Jahrhunderte so viele Grausamkeiten beschert hat, dass sich eine Beteiligung
an der Regierung von selbst verbietet".
Die Erfinder der amerikanischen Idee waren von einer grenzenlosen Neugierde auf
alle großen und kleinen Dinge beseelt. Es ging ihnen um die Erkenntnis der
Menschheit auf so vielen Gebieten, wie sie in der Philadelphia Library
Company oder der Bostoner philosophischen Gesellschaft unterbringen konnten.
Wobei sie stets hofften, eine Regierung auf die Prinzipien der universellen
Vernunft zu gründen, und zwar (um noch einmal Voltaire zu zitieren) "trotz
all der Leidenschaften, die dagegen ankämpfen; der Tyrannen, die sie in Blut
zu ersäufen trachten; der Betrüger, die sie durch Einsatz des Aberglaubens
zu Fall bringen wollen".
Präsident Bush gehört zu einer früheren Epoche der amerikanischen Geschichte,
er spricht wie von einer Kanzel im puritanischen Wald, lange bevor die
ersten Bücher in der neuen Welt eintrafen. Wenn wir seinen Biografen glauben
dürfen, sitzt jetzt im Weißen Haus ein Präsident, der so felsenfest davon
überzeugt ist, dass die menschlichen Geschicke "in den Händen eines
gerechten und getreuen Gottes" liegen, dass er seine Unwissenheit für eine
Tugend hält und seinen Mangel an Neugierde für ein Zeichen moralischer
Stärke.
Ein ähnlich primitives Denken - furchterfüllt, intolerant, magisch - verdunkelt
das Gehirn der Schamanen, die im Pentagon ihre Pläne zur Beseitigung des
Bösen ausbrüten, oder im Justizministerium, im Kongress und im Obersten
Gericht die Herrschaft der Tugend über das US-Gemeinwesen zu errichten
suchen. Der kollektive Rückzug in die Nebel einer vereinfachten
Vergangenheit verweist auf die zunehmende Erschöpfung jener aufgeklärten
Mentalität, der wir die Verfassung verdanken und die 200 Jahre lang das
amerikanische Experiment der Freiheit befördert hat. Unsere Geopolitiker in
Washington stellen sich den Krieg gegen den Terrorismus bevorzugt als clash
of civilizations vor. In Wirklichkeit steuern sie uns auf einen Zusammenstoß
des Aberglaubens zu. Und wenn ich sie höre, habe ich das Rasseln gefiederter
Trommeln im Ohr und das Tröten urzeitlicher Bronzehörner.
deutsch von Robin Cackett
Le Monde diplomatique, 11.7.2003, LEWIS H. LAPHAM
hagalil.com
19-08-2003 |