Michael Lerner:
Ein historischer Fehler
Die amerikanische
Friedensbewegung muss ihr Verhältnis zum Staat Israel klären. Denn:
Solange antisemitische Strömungen Einfluss haben, wird sie
unglaubwürdig bleiben
Von Michael Lerner
Anmerkung d. Redaktion haGalil (in): Michael Lerner ist Rabbiner
und Herausgeber der Zeitschrift Tikkun. Er ist einer der
bekanntesten Vertreter der
Jewish Renewal Bewegung
Letzte Woche haben Zehntausende
amerikanischer Juden an den Demonstrationen gegen den Irakkrieg
teilgenommen. Darunter auch zahlreiche Mitglieder der Tikkun
Community, einer internationalen Organisation, in der Juden wie ich
und auch Nichtjuden organisiert sind.
Viele von uns sind jedoch nur schweren
Herzens mitmarschiert, denn eine der organisierenden Gruppen,
"Answer" (Act now to stop war & end racism) hatte durchgesetzt: Wer
ihre Position zuvor öffentlich kritisiert hatte, durfte bei der Demo
nicht sprechen. So ging es auch mir. Warum wurde ich nun
ausgeschlossen? Da ich beanstandet hatte, dass Answer
Antikriegsveranstaltungen für antiisraelische Propaganda genutzt
hatte, die eindeutig antisemitische Züge trug. Wesentliche Teile der
Gruppe unterstützten bedingungslos die palästinensischen
"Freiheitskämpfer", die Israel am liebsten aus der Welt bomben
wollen.
Es ist empörend und anstößig, wenn
Juden, die gegen einen ungerechten Krieg demonstrieren wollen, mit
Slogans und Reden konfrontiert werden, die nicht nur Israels Politik
ablehnen, sondern sogar den Terror und die Gewalt palästinensischer
Gruppen gutheißen.
Um es klar zu sagen: Jahrelang haben
rechts gerichtete Juden weltweit jegliche differenzierte Betrachtung
des Problems in Bausch und Bogen verdammt. Wer aus der jüdischen
Gemeinschaft nicht auf ihrer Linie lag, wurde zum "sich selbst
hassenden Juden" oder eben gar zum Antisemiten erklärt. Ich habe
dennoch sowohl die Israelpolitik der Vereinigten Staaten als auch
die israelische Politik oft und scharf kritisiert - und mir die
dementsprechenden Beschimpfungen des jüdischen Establishments
angehört. Aufgrund dieser Erfahrung bin ich mit dem Begriff
Antisemitismus sehr vorsichtig.
In der Sache ist und bleibt es für mich
jedoch ebenso verabscheuenswert, wenn Israel die Palästinenser
entwürdigend behandelt, wie wenn Palästinenser Terroranschläge gegen
israelische Zivilisten verüben. Es ist allerdings eines, wenn man
Ariel Scharons repressive Maßnahmen gegenüber dem palästinensischen
Volk verurteilt. Etwas anderes ist es, wenn man dem Staat Israel das
Existenzrecht abspricht. Und genau das machen Teile von Answer, und
mit ihnen Teile der amerikanischen Friedensbewegung.
Kritik am Zionismus kann legitim sein,
und unter bestimmten Umständen ist sie auch nicht antisemitisch.
Wenn man etwa nationale Befreiungskämpfe betrachtet, die letztlich
zur Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes geführt haben, ist
es durchaus möglich, den Zionismus in diesen Kontext zu stellen. In
diesem Sinne könnte man demonstrieren gegen: die skrupellosen
Menschenrechtsverletzungen des irakischen Regimes, den brutalen
Kampf der Russen gegen die Tschetschenen, die brutale Besetzung
Tibets durch die Chinesen, den Völkermord der Spanier an den Indios
bei der Entdeckung Amerikas, den Holocaust und die Verfolgung der
Juden im christlichen Abendland, die Unterdrückung der Menschen in
Ländern wie Syrien, Saudi-Arabien oder Ägypten - und die
Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel. Wenn man jedoch
Israel herausgreift und all die anderen beiseite lässt, erweckt man
den Eindruck, es gehe nur gegen Israels Politik - und das betrachte
ich als antisemitisch.
Genau das Gleiche passiert in der
Debatte um einen möglichen Irakkrieg. Wer behauptet, dass Amerikas
Politik nur davon bestimmt sei, was Israel wolle, beginnt
antisemitisch zu argumentieren. Vergessen da nicht einige Leute auf
der Linken plötzlich, dass die amerikanische Außenpolitik viel mehr
von der Bedeutung des Öls bestimmt wird? Ignorieren sie nicht, dass
die USA ihr Recht zum internationalen Handeln aus ihrer in langen
Jahren gewachsenen Hegemonie ableiten, die wichtiger ist als die
Interessen aller anderen Länder? Und haben die Israelkritiker
wirklich aus dem Blick verloren, dass die Politik der Bush-Familie
aus einem besonderen Hass auf Saddam Hussein motiviert wird? Wer
trotz dieser Argumente nur Israel für den Krieg verantwortlich
macht, der ist eindeutig antisemitisch.
Es ist doch ganz einfach: Wenn ich mein
eigenes Kind besonders scharf tadele, heißt das nicht, dass ich es
hasse. Denn wir haben ein spezielles Verhältnis zueinander. Ich
fühle mich in außerordentlichem Maße verantwortlich, und deshalb
schütze, lobe und kritisiere ich es. Wenn jemand allerdings das Kind
eines anderen herausgreift und dessen Verhalten immer wieder
missbilligt, und wenn er bei jeder sich bietenden Gelegenheit das
Gespräch auf dieses böse Kind bringt, obwohl es sich nicht anders
verhält als jedes andere Kind in der Nachbarschaft auch - dann
entsteht doch der Eindruck, dass es nicht nur um berechtigte Kritik
geht. Die Äußerungen sind also Ausdruck eines ausgesuchten Hasses,
der zeigt: Man will dieses Kind einfach nicht akzeptieren.
Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die
sagen: Lasst das Thema Antisemitismus aus dem Spiel; es wird der
Friedensbewegung schaden. Aber warum sollten wir das tun? Ist es
dadurch aus der Welt? Nein. Diese Auseinandersetzung muss geführt
werden, damit die Friedensbewegung überhaupt glaubwürdig agieren
kann.
Das ist nicht nur von nationaler
Bedeutung. Wir haben unsere Organisation Tikkun gegründet, um einen
"progressiven mittleren Weg" zu unterstützten - einen Weg, der
proisraelisch und propalästinensisch ist. Wir
fordern daher ein Ende der israelischen Besatzungspolitik, die
Gründung eines palästinensischen Staates sowie
Entschädigungszahlungen an palästinensische Flüchtlinge und an
israelische Flüchtlinge, die arabische Staaten verlassen mussten.
Zudem sollte Israel der Nato beitreten dürfen, damit seine
Sicherheit auf lange Sicht gewährleistet wäre.
Entscheidend für Israelis wie
Palästinenser ist: Das Wohlergehen der einen hängt vom Wohlergehen
der anderen ab. Es wird keinen Frieden geben, der nicht auf dem
Geist der Versöhnung beruht, auf Großzügigkeit und Offenheit. Diese
Werte gelten bisher nichts - und zwar weder beim jüdischen
Establishment noch bei den zentralen Gruppen der Friedensbewegung.
Erst wenn sie den Antisemitismus überwinden, wird die
Friedensbewegung stärker und erfolgreicher werden.
Unglücklicherweise ist es ja oft genug
so gewesen, dass ausgerechnet Linke jüdischer Herkunft
antisemitische Ideale artikuliert haben. Meist kämpften sie
verzweifelt um Anerkennung und wollten so ihre wirklich
"universalistische" Haltung beweisen. Es waren diese antisemitischen
Juden, deretwegen man dem Antisemitismus in der deutschen
Arbeiterbewegung der 20er-Jahre nicht den Kampf angesagt hatte. Und
genau deshalb wandten sich viele nicht rechtzeitig und energisch
genug gegen den antisemitischen Rassismus der Nationalsozialisten.
Es gibt keinen Grund, diesen Fehler zu wiederholen.
Übersetzung: Daniel Haufler
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02-03-2003 |