Strategische Studien:
Ein Ende, das vorauszusehen ist
Was können wir aus einem Buch lernen, das uns zeigt, dass wir aus Erfahrungen nicht lernen?...
Uri Avnery über William Polks „Violent Politics“
EIN WEISER sagte einmal: „Ein dummer
Mensch lernt aus seinen Erfahrungen. Ein intelligenter Mensch lernt aus den
Erfahrungen anderer.“ Dem könnte noch hinzugefügt werden: „Und ein Idiot lernt
nicht mal aus seinen eigenen Erfahrungen.“
Ich möchte heute ein Buch empfehlen, obwohl ich normalerweise keine Bücher empfehle, nicht einmal meine eigenen.
Beim Buch von William Polk „Violent Politics“,
das vor kurzem in den USA erschienen ist, möchte ich eine
Ausnahme machen.
Violent Politics: A History of Insurgency, Terrorism, and Guerrilla War,
from the American Revolution to Iraq, von William R.
Polk Polk war 1946 in Palästina, auf
der Höhe des Kampfes gegen die britische Besatzung, seit damals studiert er die
Geschichte von Befreiungskriegen. In seinem neuesten Buch vergleicht er - auf weniger als 300 Seiten - verschiedene Aufstände: von den amerikanischen Befreiungskriegen bis zu den Kriegen in
Afghanistan. Er hat jahrelang im Planungsstab des amerikanischen
Außenministeriums gearbeitet und hatte auch seine Hand beim
israelisch-palästinensischen Konflikt im Spiel. Seine Schlussfolgerungen sind
höchst aufschlussreich.
ICH HABE ein besonderes Interesse an diesem
Thema, seit mir, als ich mich mit 15 Jahren dem Irgun anschloss, gesagt wurde, ich
solle Bücher über frühere Befreiungskriege, besonders den polnischen und
irischen, lesen. Ich las fleißig jedes Buch, das mir zu diesem Thema in die
Finger kam und habe seitdem die Aufstände und Guerillakriege überall in der Welt
verfolgt, wie die in Malaya (gehört seit 1963 zu Malaysia), Kenia,
Süd-Yemen, Südafrika, Afghanistan, Kurdistan, Vietnam und andere mehr. In einen
von diesen, den algerischen Befreiungskrieg, war ich sogar persönlich etwas
verwickelt.
Als ich dem Irgun angehörte, arbeitete ich im Büro eines
Anwaltes, der in Oxford studiert hatte. Einer seiner Kunden war ein hoher
britischer Beamter der Mandatsregierung. Er war ein intelligenter, freundlicher
und humorvoller Mensch. Ich erinnere mich noch an eine kurze Begegnung. Ein
Gedanke ging mir damals durch den Kopf: Wie kommt es, dass solch intelligente
Leute so eine törichte Politik machen? Je mehr ich mich seitdem mit
anderen Aufständen befasste, umso größer wurde dieses Erstaunen. Ist es möglich,
dass allein die Situation der Besatzung und des Widerstandes den Besatzer zu
einem törichten Verhalten verurteilt und sogar die Intelligentesten zu Idioten
werden lässt?
Vor ein paar Jahren strahlte die BBC eine lange Serie über den
Befreiungsprozess der früheren britischen Kolonien aus, von Indien bis zu den
Karibischen Inseln. Jeder Kolonie war eine Episode der Serie gewidmet. Frühere
Kolonialverwalter, Offiziere der Besatzungsarmeen, Befreiungskämpfer und andere
Augenzeugen wurden ausführlich interviewt. Sehr interessant und sehr
deprimierend. Deprimierend – weil die Kapitel sich fast genau
wiederholten. Die Regierenden jeder Kolonie wiederholten die Fehler, die ihre
Vorgänger in der vorausgegangenen Episode gemacht hatten. Sie hatten dieselben
Illusionen und erlitten dieselben Niederlagen. Keiner lernte eine Lektion von
seinem Vorgänger, selbst dann nicht, wenn er selbst der Vorgänger war – wie der
Fall der britischen Polizeioffiziere, die von Palästina nach Kenia versetzt
worden waren.
In seinem kompakten Buch beschreibt Polk die Aufstände der
letzten 200 Jahre, vergleicht sie mit einander und zieht eindeutige
Schlussfolgerungen.
JEDER AUFSTAND ist natürlich einzigartig und
anders als die anderen, weil die Hintergründe andere sind, wie auch die Kulturen
der besetzten Völker und der Besatzer. Briten verhalten sich anders als Niederländer
und beide unterscheiden sich von Franzosen. George Washington war anders als
Tito und Ho Chi Minh anders als Yasser Arafat. Doch trotz dieser Verschiedenheit
gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen allen Befreiungskämpfen.
Die
Hauptlektion für mich war folgende: in dem Augenblick, in dem Rebellen von der
Bevölkerung angenommen wurden, war der Sieg der Rebellen sicher.
Es ist
eine eiserne Regel: ein Aufstand, der von der Bevölkerung unterstützt wird, wird
siegen, egal welche Taktiken das Besatzungsregime anwendet. Dabei kann der Besatzer willkürlich töten oder humanere Methoden anwenden, den gefangen genommenen
Freiheitskämpfer zu Tode foltern oder ihn wie einen Kriegsgefangenen behandeln –
das macht auf Dauer gesehen keinen Unterschied. Der letzte der Besatzer kann mit
einer feierlichen Zeremonie an Bord eines Schiffes gehen wie der britische
Hochkommissar in Haifa oder um einen Platz im letzten Helikopter kämpfen wie die
letzten amerikanischen Soldaten vom Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon
– seine Niederlage war ihm ab einem bestimmten Moment des Aufstandes
sicher.
Der wirkliche Krieg gegen die Besatzung findet in den Köpfen der
besetzten Bevölkerung statt. Deshalb ist es die Hauptaufgabe für die
Freiheitskämpfer, nicht gegen die Besatzer zu kämpfen – wie man meinen könnte –
sondern die Herzen des (eigenen) Volkes zu gewinnen. Und andrerseits ist die Hauptaufgabe
des Besatzers nicht, die Freiheitskämpfer zu töten, sondern zu verhindern, dass
die Bevölkerung sich ihrer annimmt. In diesem Kampf geht es um die Köpfe und
Herzen, um die Gedanken und die Gesinnung der Bevölkerung.
Das ist einer
der Gründe, warum Generäle fast immer im Kampf gegen Freiheitskämpfer
unterliegen. Ein Militäroffizier ist die am wenigsten geeignete Person für diese
Aufgabe. Seine ganze Erziehung, seine Art zu denken, alles, was er gelernt hat,
ist dieser zentralen Aufgabe genau entgegengesetzt. Napoleon, das Militärgenie,
versagte bei seinen Bemühungen, die Freiheitskämpfer in Spanien zu besiegen
(übrigens entstand hier das Wort Guerilla = kleiner Krieg), und genau so verhielt es sich auch mit dem dümmsten US-General in Vietnam.
Ein Armeeoffizier ist ein
Techniker, der dafür trainiert ist, eine spezielle Arbeit zu tun. Dieser Job ist
irrelevant in einem Kampf gegen eine Befreiungsbewegung, trotz einer
oberflächlichen Ähnlichkeit. Die Tatsache, dass ein Anstreicher sich mit Farben
beschäftigt, macht aus ihm noch keinen Portraitmaler. Ein ausgezeichneter
Hydraulikingenieur wird nicht zu einem fachmännischen Klempner. Ein General
versteht das Wesen eines Nationalaufstandes nicht und deshalb auch nicht dessen Regeln.
Zum Beispiel misst ein General seinen Erfolg an der Anzahl der
getöteten Feinde. Aber die kämpfende Untergrundorganisation wird stärker, je
mehr tote Kämpfer sie dem Volk präsentieren kann, das sich selbst mit den
Märtyrern identifiziert. Ein General lernt, wie man eine Schlacht vorbereitet,
und wie man sie gewinnt. Aber seine Gegner, die Guerillakämpfer, vermeiden
überhaupt jede Schlacht.
CHE GUEVARA, schon fast eine Ikone,
definierte die verschiedenen Stadien, die ein klassischer Befreiungskrieg
durchmacht: „Zunächst gibt es eine nur teilweise bewaffnete Bande, die an einem
entlegenen, schwer erreichbaren Ort Zuflucht sucht (oder mitten in einer
Stadtbevölkerung, möchte ich hinzufügen). Sie führt einen gelungenen Schlag
gegen die Behörden durch. Ihr schließen sich ein paar weitere unzufriedene
Bauern, junge Idealisten, an etc… Sie nimmt Verbindung zu den Bewohnern auf und
führt leichte Blitzangriffe durch…. Da sich den Reihen neue Rekruten
anschließen, nimmt sie sich eine feindliche Kolonne vor und zerstört ihre
führenden Elemente … als nächstes baut sich die Truppe ein provisorisches Lager
auf … und nimmt die Eigenschaften einer Regierung en miniature an“ und so
weiter.
Um auf der ganzen Linie Erfolg zu haben, müssen die
Aufständischen eine Idee haben, die die Begeisterung der Bevölkerung weckt. Das
Volk vereinigt sich um sie und leistet Hilfe, beherbergt sie und liefert
Nachrichten. Von diesem Stadium an hilft den Aufständischen alles, was die
Besatzungsbehörden tun. Wenn die Freiheitskämpfer getötet werden, kommen viele
andere nach und ordnen sich in die Reihen ein (so wie ich es in meiner Jugend
tat). Wenn die Besatzer Kollektivstrafen über die Bevölkerung verhängen,
verstärken diese nur den Hass auf die Besatzer und stärken ihre gegenseitige
Hilfe. Wenn es den Besatzern gelingt, die Führer des Befreiungskampfes zu töten
oder gefangen zu nehmen, nehmen andere Führer ihren Platz ein – wie die Hydra
der griechischen Sage, der neue Köpfe nachwachsen, sobald Herkules einen Kopf
abgeschlagen hatte.
Häufig gelingt es den Besatzungsbehörden, die
Freiheitskämpfer zu spalten, und sie sehen das als großen Sieg an. Aber alle
Fraktionen machen in ihrem Kampf gegen den Besatzer umso entschlossener weiter, da sie nun versuchen, einander zu übertreffen, so wie es die Fatah und die Hamas jetzt tun.
ES IST schade, dass Polk dem israelisch-palästinensischen Konflikt
kein besonderes Kapitel gewidmet hat, aber es ist nicht wirklich nötig. Wir
können es selbst nach unserm Verständnis schreiben.
Während der 40 Jahre
Besatzung haben unsere politischen und militärischen Führer im Kampf gegen den
palästinensischen Guerillakrieg versagt. Sie waren weder dümmer noch grausamer
als ihre Vorgänger – die Holländer in Indonesien, die Briten in Palästina, die
Franzosen in Algerien, die Amerikaner in Vietnam, die Sowjets in Afghanistan.
Unsere Generäle mögen sie alle nur mit ihrer Arroganz übertreffen – ihrer
Überzeugung, sie seien die Supergescheiten und dass gerade sie ganz neue
Patente erfinden werden, an die vorher niemand je gedacht hat.
Von dem Zeitpunkt an, an dem es Yasser Arafat gelang, die Herzen des
palästinensischen Volkes zu gewinnen und sie um den brennenden Wunsch zu
vereinen, die Besatzung los zu werden, war der Kampf schon entschieden. Wenn wir
klug gewesen wären, hätten wir damals schon mit ihm ein politisches Abkommen
geschlossen. Aber unsere Politiker und Generäle waren nicht klüger als alle
anderen. Und so werden wir mit dem Töten, Bombardieren, Zerstören und dem
Vertreiben fortfahren – in der törichten Überzeugung, dass, wenn wir nur noch
mal zuschlagen, der lang ersehnte Sieg am Ende des Tunnels erscheinen werde – um
dann nur zu entdecken, dass der dunkle Tunnel uns in einen noch dunkleren Tunnel
führt.
Wie immer, wenn eine Befreiungsorganisation nicht ihre Ziele
erreicht, taucht neben ihr oder anstelle von ihr eine extremere auf und gewinnt
die Herzen des Volkes. Hamas-ähnliche Organisationen übernehmen Fatah-ähnliche.
Das Kolonialregime, das nicht rechtzeitig ein Abkommen mit der moderateren
Organisation erreicht hat, wird am Ende gezwungen, mit der extremeren zurecht zu
kommen.
General Charles de Gaulle gelang es, mit den algerischen Rebellen
Frieden zu machen, bevor sie dieses Stadium erreicht hatten. 1.25 Millionen
Siedler hörten eines Morgens, dass die französische Armee dabei sei, zusammen zu
packen, zu einem bestimmten Termin das Land zu verlassen und nach Hause zu
gehen. Die Siedler – viele von ihnen in der vierten Generation - rannten um ihr
Leben, ohne Entschädigungen zu bekommen (wie die israelischen Siedler, als sie
den Gazastreifen 2005 verließen). Aber wir haben keinen de Gaulle. Wir sind dazu
verurteilt, den Weg unendlich weiter zu gehen.
Wenn wir nicht täglich
Zeugen der schrecklichen Tragödie wären, könnten wir angesichts der
mitleiderregenden Hilflosigkeit unserer Politiker und Generäle lachen, die
herumlaufen, ohne zu wissen, woher ihnen Rettung kommen könnte. Was tun? Alle
aushungern? Das hat zum Mauerfall an der Gaza/Ägypten-Grenze geführt. Alle
ihre Führer töten? Wir haben schon Scheich Ahmed Yassin und zahllose andere
getötet. Die „große Operation“ durchführen und den ganzen Gazastreifen noch
einmal besetzen? Wir hatten den Streifen schon zweimal erobert. Dieses Mal
werden wir es mit geübteren Guerillakämpfern zu tun haben, die noch viel mehr in
der Bevölkerung verwurzelt sind. Jeder Panzer, jeder Soldat wird ein Ziel
werden. Der Jäger kann sehr wohl zum Gejagten werden.
WAS ALSO
könnten wir noch tun, was wir nicht schon getan haben?
Zunächst mal jeden
Soldaten und Politiker dahin bringen, William Polks Buch zusammen mit einem der
guten Bücher über den algerischen Kampf zu lesen.
Zweitens das zu tun,
was alle Besatzungsregime am Ende in allen Ländern getan haben, in denen sich
die Bevölkerung erhoben hatte: ein politisches Abkommen erreichen, mit dem beide
Seiten leben und von dem sie profitieren können. Und rausgehen.
Schließlich: das Ende ist klar. Die einzige Frage ist: wie viele Tote,
wie viele Zerstörungen, und wie viel mehr Leiden muss noch folgen, bis die
Besatzer an den Punkt kommen, an dem sie die unausweichliche Schlussfolgerung
ziehen und Schluss machen?
Jeder vergossene Tropfen Blut ist ein Tropfen
Blut zu viel.
William Polks Buch bestellen?
Gush Shalom –Inserat am 8. Februar in
Haaretz
Stoppt den Wahnsinn!
Macht endlich Dem unerträglichen
Leben In Gaza und Sderot Ein Ende !
Redet mit der Hamas! Macht
einen Waffenstillstand !!!
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
DG/
hagalil.com /
20080208 |