Ein massives Polizeiaufgebot sicherte das Gebäude
in Katsina, wo sich Kamerateams aus der ganzen Welt versammelten:
Mit ihrem Baby im Arm ist die zum Tode durch Steinigung verurteilte
Nigerianerin Amina Lawal am Mittwoch (27-08-2003) vor Gericht
erschienen, wo der Berufungsprozess gegen das Urteil fortgesetzt
werden sollte.
DER TRAUM VON MUSLIMISCHEN WERTEN UND WESTLICHER BILDUNG:
Was die Nigerianer von der Scharia erwarten
Im letzten Jahr wurde die 30-jährige, geschiedene
Amina Lawal im Norden Nigerias wegen "Ehebruchs" vor ein islamisches
Gericht gestellt und zum Tode durch Steinigung verurteilt. Ihr
Vergehen: Sie erwartete ein Baby. Nigeria ist ein säkularer Staat,
weshalb die Berufungsverhandlung im August weltweit Aufmerksamkeit
erregen wird, zumal kürzlich die zum Tode verurteilte "Ehebrecherin"
Safiya Hussaini vom Bundesgericht begnadigt wurde.
Das bevölkerungsreichste Land Afrikas ist kulturell weit
vielfältiger, als es der von den Medien beschriebene Gegensatz
zwischen muslimischem Norden und christlichem Süden vermuten lässt.
Von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT
Journalist
SEINE Wiederwahl wird Nigerias Präsident
Olusegun Obasanjo, der am 29. Mai 2003 sein Amt antrat, kaum
wirklich genießen können. Denn das islamische Recht, die Scharia,
dürfte die Zukunft der ohnehin fragilen Demokratie demnächst auf
eine harte Probe stellen. 36 Bundesstaaten besitzt das anglophone
westafrikanische Land, das bevölkerungsreichste Afrikas. Zwölf von
ihnen haben seit 1999, als das Militär die Macht abgab, die Scharia
bereits eingeführt, zwei weitere könnten sich in Kürze anschließen.
Die Spannungen zwischen den verschiedenen Religionsgruppen wachsen.
Seit im Frühjahr 2000 Safiya Hussaini nach islamischem Recht wegen
"Ehebruchs" zum Tode verurteilt worden war, ist die
Weltöffentlichkeit alarmiert.(1)
Doch in den Bundesstaaten, in denen die Scharia bereits herrscht und
wo die Menschen ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt hatten, dass das
islamische Recht in ihrer verheerenden sozialen Lage Abhilfe
schaffen könnte, wartet man bisher vergebens auf greifbare Anzeichen
einer positiven Veränderung. Kano, die drittgrößte Stadt des Landes
und Wirtschaftszentrum des Nordens, liegt in dem gleichnamigen, mit
seinen 8,5 Millionen Einwohnern zweitgrößten Bundesstaat. Die Stadt
Kano, in der 3 Millionen Menschen leben, ist im Begriff, zur
Metropole der Scharia im muslimischen Norden zu werden, zum Symbol
für die unsinnigen Hoffnungen, die das islamische Recht geweckt hat,
für dessen Widersprüche und auch für dessen politische
Instrumentalisierung.
"Dank Gottes Hilfe leben wir in einer Demokratie, und das Volk hat
ein Recht auf Freiheit. Wir alle wollen das islamische Recht. Für
mehr Gerechtigkeit und größeren Wohlstand." So beschrieben uns
Studenten der Bayero University wenige Wochen vor der offiziellen
Einführung der Scharia in Kano die überzogenen Erwartungen, die man
damals mit dieser Maßnahme verband. Seit dem "politischen
Schachzug"(2) Ahmed Sani Yerimas - Gouverneur des Bundesstaates
Zamfara und Gegner des Präsidenten Obasanjo- breitet das islamische
Recht sich im Norden aus. Unter dem Druck der Straße musste Rabiu
Musa Kwankwazo, Gouverneur von Kano und Mitglied der Peoples
Democratic Party (PDP), am 21. Juni 2000 auch für Kano und den
zugehörigen Bundesstaat die Einführung der Scharia verkünden.
"Die Leute in Aso Rock, im Präsidentenpalast in Abuja, nennen uns
die Führer von morgen", sagen uns junge Studenten. "Aber was tun
sie, um unsere alltägliche Situation zu verbessern? Sie streben nur
nach der Macht, um den Erdölreichtum des Landes in die Hand zu
bekommen. Die Scharia wird all das ändern." Auch wenn Kano auf den
Nummernschildern der Autos als Center of Commerce bezeichnet wird
und Kumi Market der älteste Markt Westafrikas ist, bleibt Kano
dennoch die am wenigsten entwickelte Metropole des Landes. Zwei
Drittel der Einwohner verdienen weniger als einen Euro pro Tag.
Jenseits des Bankenviertels, dessen erstaunliche Dynamik viele mit
dem schmutzigen Geld erklären, das der verstorbene Diktator Sani
Abacha(3 )- der aus Kano stammte - dort in Umlauf brachte, reiht
sich ein Elendsviertel ans andere; dort gibt es weder Wasser noch
Strom, und die Yandabas (wie Ganoven in der Haussa-Sprache(4)
genannt werden) treiben hier ihre Schutzgelder ein.
Neben den riesigen, taghell erleuchteten Villen der Oligarchie gibt
es die Viertel der einfachen Leute, die durchzogen sind von
zahlreichen toten Flussarmen. Hier nehmen immer wieder Cholera- und
Typhusepidemien ihren Ausgang. Da die Tankstellen seit Ende 1990
kein Benzin mehr haben - eine der erstaunlichsten Paradoxien des
sechstgrößten Erdölproduzenten der Welt -, versorgt man sich in Kano
auf einem Schwarzmarkt. Jeder zweite Einwohner der Stadt hat keine
feste Anstellung, und wer aus dem völlig wehrlosen
Haussa-Lumpenproletariat in einer der (meist von libanesischen
Strohmännern geführten) Nahrungsmittel verarbeitenden oder
chemischen Fabriken der Stadt Arbeit findet, verdient weniger als
350 Naira (ca. 2,30 Euro) am Tag. Ein Student der Federal University
meinte: "Wenn Karl Marx heute leben würde, würde er sein ,Kapital'
auf der Grundlage der Verhältnisse in Nigeria schreiben." Dabei
erhält der Bundesstaat Kano jedes Jahr mehrere dutzend Milliarden
Naira Hilfe aus Bundesmitteln. Und was ist die Folge? "Welcome
Scharia!"
Die Begeisterung für die Scharia hat nicht nur Muslime erfasst,
sondern auch Christen in Sabon Gari, einer Enklave, die traditionell
den Angehörigen von nicht aus Kano stammender Ethnien vorbehalten
ist und deren Nachtleben den entsprechenden Vierteln von Lagos in
nichts nachsteht. In dieser erregten, erwartungsvollen Atmosphäre
ist Yusuf Ozi Usman, ein muslimischer, den Ebri angehörender
Journalist, der seit 20 Jahren in Kano lebt, einer der wenigen, die
sich eher in Moll-Tonlage äußern. "Wenn der Koran überall derselbe
ist", meint er, "dann sind Politik und Scharia hier wie siamesische
Zwillinge." Nach seiner Ansicht "hat Gouverneur Kwankwazo sich weder
aus fundamentalistischer Überzeugung noch aus moralischer Inbrunst,
sondern allein aus wahltaktischen Gründen für die Einführung der
Scharia entschieden. Ich glaube nicht, dass die powerbroker [die
politischen Machthaber] und die moneymaker [die Wirtschaftsbarone]
dieser Stadt sich jemals vor den islamischen Gerichten zu fürchten
haben werden. Die kleinen Leute werden am Ende zahlen, nicht die
Korrupten und auch nicht die, die öffentliche Gelder veruntreuen."
Im Februar 2003, dem Jahr zwei der Scharia, hat sich in Kano die
Atmosphäre spürbar verändert, die Spannung hat nachgelassen, die
heißen Nächte in Sabon Gari sind nicht mehr dieselben. Als gäbe es
eine Sperrstunde, leeren sich um 22 Uhr die Terrassen und die
Stromgeneratoren werden abgeschaltet. Alkohol kann man trotzdem
bekommen, denn trotz Dunkelheit bleibt Kano seinem Ruf als größter
Bierkonsument des Landes treu. Und obwohl das islamische Recht die
Prostitution verbietet, ist auch sie nicht verschwunden. Sie findet
nun in den Hinterzimmern und Hinterhöfen der Bordelle statt, abseits
der Straße, und das sogar in der Abedi Road, dem Zentrum
muslimischen Bekehrungseifers. Wir sind hier fern von den Klischees,
die in der westlichen Presse über das nigerianische "Talibanland"
verbreitet werden - und ebenso fern von den Versprechungen der
Behörden.
Der Besitzer einer Bar in der Abeokuta Road, ein Igbo, gesteht
immerhin, dass er "Angst vor dem Unbekannten" hat, insbesondere seit
den Demonstrationen vom 13. Oktober 2001. Der Protest gegen die
amerikanischen Bombardements in Afghanistan führte schließlich zu
Ausschreitungen am Rande des Stadtviertels Sabon Gari, denen mehr
als hundert Menschen, in der Mehrzahl Christen, zum Opfer fielen.
Nach Ansicht mancher Journalisten waren diese blutigen
Ausschreitungen die Tat muslimischer Extremisten der
Atadschit-Bruderschaft, einer kleinen fundamentalistischen Sekte,
die den "Dschihad gegen die amerikanischen Interessen" predigt.
Andere geben die Schuld eher politischen Gegnern des Gouverneurs
Kwankwazo, die mit Hilfe der Yandabas seine Amtsführung zu
"beschmutzen" versuchten.
Im Wahlkampf im Frühjahr 2003 war der Islam jedenfalls mehr als je
zuvor ein politisches Argument. In den Städten, wo man 1999 für
Obasanjo gestimmt hatte, wandte man sich diesmal seinem Gegner, dem
General a. D. Muhammadu Buhari, zu, der an der Spitze der All
Nigeria Peoples Party (ANPP) steht. "Weil er ein Muslim ist, weil er
die Ordnung wiederherstellen wird und weil Abuja uns an den Rand
drängt", erklärt uns ein junger Funktionär.
Auf dem Land unterstützt man dagegen weiterhin den zur Wiederwahl
antretenden Präsidenten. "Die Bauern lassen sich nicht vom
politischen Klima der Städte beeinflussen und vergiften", sagt
Aïcha, eine Frankophile, die bei den Landfrauen Wahlwerbung für die
Regierung macht. "Zumal sie schon mit wenig zufrieden zu stellen
sind: mit Elektrizität, mit dem Beginn einiger Projekte zur
Wasserversogung" und, wie die Opposition behauptet, mit ein paar
hunderttausend Naira für die Oberhäupter der Bezirksregierungen. Im
Bundesstaat Kano gibt es vierundvierzig davon. "Alle korrupt",
gesteht das traditionelle Oberhaupt des Dorfes Beibeji. Hier erlebt
der mittelalterliche Islam seine Auferstehung. Hier wurde Safiya
Husseini zum Tode verurteilt - eine Welt der Strohhütten und des
Analphabetentums, in der Frauen mit 12 Jahren verheiratet und
Dorfstreitigkeiten durch eine Schlägerei geklärt werden. Ein anderes
Nigeria, das mit der Anwendung der Scharia nicht auf deren
offizielle Einführung gewartet hat. "Schon immer hat der Islam den
Alltag bestimmt, von der Erbschaft bis zur Scheidung", erläutert
Aïcha.
Anders als in der Stadt braucht man hier keine hisbahs, jene in
grüne Uniformen gekleideten Milizen, die über die Einhaltung des
islamischen Rechts wachen. Man findet sie überall in den
Schilderhäusern, die an den Eingängen zu den ärmeren Vierteln
aufgestellt sind. Es ist schwer zu erkennen, wem sie unterstehen.
Die Soldaten, die im Dienst der Regierung des Bundesstaats Kano
stehen, sind nur schwer von denen zu unterscheiden, die für den Imam
einer Moschee, für ein traditionelles Oberhaupt oder auch für einen
big man (Paten) auf Seiten der Opposition arbeiten. Nach dem Vorbild
der sich im ganzen Land verbreitenden Stammesmilizen(5) hat die
Scharia tatsächlich zu einer Privatisierung der Justiz geführt,
diesmal im Namen Gottes: "Alle wollen heutzutage hisbah werden",
erklärt Dr. Ameen Al Deen Abubakar, Vorsitzender des State Hisbah
Committee, der offiziellen Vereinigung der hisbahs. Und genau darin
liegt das Problem. Ein wenig verlegen räumt er ein, "dass es
gelegentlich Missbräuche gegeben hat", und fügt dann hinzu: "Aber
das hat sich inzwischen gebessert."
Opfer solch eines Missbrauchs ist Sani Dan Indo geworden. Diese
regional sehr bekannte Haussa-Sängerin, die für ihre Kalengu-Musik
bei ihren Vorstellungen auf spektakuläre Weise mit Naira-Scheinen
überschüttet wird, musste vergangenen Sommer zusehen, wie ihre
Instrumente bei einer Vorstellung im Central Hotel von hisbahs
zerstört wurden. Nach Ansicht dieser Wächter des Islam hatte Dan
Indo durch ihre Auftritte gegen die Gebote des Koran verstoßen. "Ich
habe nie einen Anwalt nehmen wollen", erklärt sie, "denn wenn ich
mich beklage, wird man sagen, ich verbände die Musik mit der
Religion und sei eine schlechte Gläubige. Jedenfalls habe ich noch
nicht gehört, dass selbst in arabischen Ländern wie Saudi-Arabien
Musiker so misshandelt werden wie hier. Aber was ist das für eine
Scharia? Ich bin für das islamische Recht. Diese hisbahs wollten
aber nur mein Geld."
Sani Dan Indo lebte in Tamburawa, einem Dorf, das etwa 20 Kilometer
südlich von Kano in Richtung Zaria liegt. Bei Tage gleicht der Ort
den anderen Dörfern an der Straße, die in den Süden Nigeras führt.
Abends dagegen bietet er einen schizophrenen Anblick.
Haussa-Fernfahrer, Städter aus Kano, Gruppen junger Frauen, die
einen Geburtstag feiern, angeheiterte Nachtschwärmer und muslimische
Lebemänner bevölkern die einzige Straße des Dorfes und flanieren
zwischen den vier Bordellen, Clubs und Schankwirtschaften, die sie
säumen. Haussa-Rap, begleitet von amerikanischen HipHop- und
jamaikanischen Reggae-Instrumenten, Bier, Gras, Soldatenliebchen,
unverheiratete Paare - die Jugend von Tambura trotzt der Scharia.
Die hisbahs haben keinen Zugang. "Wenigstens hier lässt man uns in
Ruhe", erklärt Sani Dan Indo mit Blick auf Musiker, die ihr zu Ehren
aus Katsina gekommen sind. "Und schließlich tun diese jungen Leute
nichts Unrechtes. Warum sollte man sie verdammen? Haben sie etwa
kein Recht, sich zu amüsieren? Wir leben doch in einer Demokratie,
oder? Nur Gott kann darüber urteilen. Nicht diese hisbahs, die nicht
einmal den Koran kennen."
Ussama Africa gleicht seinem saudischen Vorbild und Namensvetter wie
ein Ei dem anderen. Nur dass er natürlich schwärzer ist. Ussama ist
ein hisbah. Wenn man ihn fragt, was er an Ussama Bin Laden schätzt,
sagt er in seinem gebrochenen Englisch: "Ich liebe ihn, weil Amerika
ihn töten will und weil er Muslim ist." Zusammen mit seinen Freunden
in der Miliz würde Ussama Africa "gerne am Dschihad teilnehmen. Aber
dann müsste er uns ein Flugzeug schicken. Wir können gar nichts tun.
Wir haben kein Geld. Aber ich glaube auch, dass Ussama nichts für
uns tun kann." Dennoch gab ihnen ihr Held am 11. Februar vergangenen
Jahres ein großes Zeichen. In einer von al-Dschasira am Tag des
Opferfests Aid al-Kebir ausgestrahlten Tonbandbotschaft nannte der
Führer der al-Qaida Nigeria erstmals als eines der Länder mit der
größten Bereitschaft, "den Befreiungskrieg zu führen". "Eine
Fälschung der CIA", meinten westliche Diplomaten in Abuja. Ein
Täuschungsmanöver, das jedenfalls gerade zur rechten Zeit kam, um
die Regierung Obasanjo, die im Lager der gegen eine
amerikanisch-britische Intervention im Irak eingestellten
afrikanischen Staaten stand, an die Bush-Administration anzunähern.
Zumal es im Schatten des Kriegs gegen den weltweiten Terrorismus
auch andere, weniger leicht einzugestehende Erklärungen gibt, zum
Beispiel die einträglichen Ölvorkommen im Golf von Guinea.(6)
Sollte die "fundamentalistische" Gefahr nichts als ein Druckmittel
sein? Nach einem offiziellen US-amerikanischen Bericht sind Nigeria
und der Sudan die zwei afrikanischen Staaten, die "hinsichtlich der
Religionsfreiheit größten Anlass zur Sorge geben". Und nach
demselben Bericht stellt die Scharia "eine Herausforderung für die
verfassungsmäßigen Rechte und die Religionsfreiheit" dar. Jedenfalls
haben die Vereinigten Staaten ihre Haltung nicht weiter präzisiert,
seit Präsident Obasanjo - ein "wiedergeborener" Christ - das
"verfassungsmäßige Recht der Bundesstaaten auf Einführung des
islamischen Rechts" anerkannt hat.(7) Und sie haben auch nichts über
den beunruhigenden christlichen Fundamentalismus gesagt, den die im
Süden des Landes stark expandierenden evangelikalen Bewegungen und
Pfingstkirchen verbreiten. Unerwähnt bleiben auch die Kirchen, die
nach der Einführung der Scharia in Sabon Gari zu dutzenden
entstanden und zum Teil einen "christlichen Dschihad" predigen. Noch
beunruhigender ist schließlich die Tatsache, dass die Vereinigten
Staaten, die so rasch bei der Hand sind, wenn es um den Schutz der
nigerianischen Christen geht, sich nicht sonderlich um das Schicksal
der Angehörigen anderer Glaubensrichtungen kümmern. Die Muslime im
Norden sind Opfer einer "Scharia der zwei Geschwindigkeiten". "Einer
der jungen Leute, die ich in den Glauben eingeführt habe, ist
gestern von hisbahs misshandelt worden. Der Koran spricht von
Frieden und Toleranz, nicht von Gewalt" sagt Omar, ein "guter
Muslim" und Verwandter des Emirs von Kano; er gehört zu den
traditionellen Oberhäuptern und spirituellen Führern der Stadt und
vollzieht das Bori, eine Zeremonie der vorislamischen Haussa.
Während das Juju (das südnigerianische Voodoo) von manchen
Evangelikalen verfolgt wird, hat das Bori unter Dawa-Predigern zu
leiden, die den Ulemas eine Zerrüttung der Moral vorwerfen und in
den Armenvierteln die Spannungen unter den Muslimen schüren.(8)
Doch die internationale Einmischung - nicht allein die von Seiten
der USA - stört den sanftmütigen Gouverneur Rabiu Musa Kwankwazo:
"Kürzlich erhielt ich wieder einmal einen Brief von einer deutschen
Vereinigung, in dem man mich aufforderte, den Amputationen in meinem
Staat ein Ende zu setzen. Aber wir haben hier noch nie jemanden
amputiert. Und auf jeden Fall ist das nicht das Problem, das wir in
Kano haben. Der strafrechtliche Aspekt macht allenfalls 5 Prozent
der Scharia aus. Ihr im Westen konzentriert euch auf diese Frage und
vergesst dabei, dass unser eigentliches Problem die Unterentwicklung
ist. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, in welchem Zustand wir
Kano vorgefunden haben, als wir 1999 hierher kamen."
Dennoch scheint das Elend in Kano seit unserem letzten Aufenthalt
(bei der Einführung der Scharia) nur noch größer geworden zu sein.
Wegen - oder trotz - des islamischen Rechts soll das Geld aus dem
Bankensektor der Stadt abgezogen worden sein, und es heißt, selbst
die großen Haussa-Vermögen seien in die Bundeshauptstadt Abuja
transferiert worden. Von der nigerianischen Presse geächtet, von
westlichen Unternehmen verteufelt und von den internationalen
Entwicklungsorganisationen aufgegeben, steckt die Welt der Haussa in
der Falle ihrer Scharia.
"Die Zustände im Bildungs- und Gesundheitswesen sind dramatisch",
erklärt uns einer der letzten Europäer der Stadt. "Die christlichen
Ärzte haben die Region verlassen und ihre Privatkliniken
geschlossen. Das Ende der gemischten Schulen und der Versuch, die
Lehrerstellen allein mit einheimischen Kräften zu besetzen, haben
die Probleme nur verdoppelt."
Auch die Diagnose des Scheichs Jaffar Usman lässt keinen Widerspruch
zu: "Ich dachte, die Scharia würde streng nach den Grundsätzen des
Koran angewendet und alle in Kano, Muslime wie Christen, zögen am
Ende Vorteile aus einer gerechten Justiz. Doch kaum 5 Prozent der
Reichen in Kano tragen zum Zakat [den Almosen] bei. Und das Volk ist
ärmer als jemals zuvor. Das einzige Geld, das hier verteilt wird,
dient dem Stimmenkauf." Scheich Jaffar Usman ist Gründer des Bin
Affan Islamic Trust, einer der angesehensten islamischen Schulen in
Kano. Jeden Tag kommen 600 Schüler - Jungen und Mädchen - in der von
einem Minarett überragten Grund- und Hauptschule zusammen. Fern von
den archaischen Madrassas der Altstadt, die ihre Schüler, die
Almadschirai, zum Betteln an die Straßenkreuzungen schicken,
vermitteln die Lehrer des Bin Affan Islamic Trust gleichermaßen
"muslimische Werte und westliche Bildung".
Scheich Jaffar Usman hat an der Islamischen Universität in Medina
und an der Afrikanischen Universität in Khartoum studiert. Menschen,
die ihm nahe stehen, beschreiben ihn als "Republikaner". Mit
kritischem Blick auf die "arabischen Diktaturen" meint der Scheich
(ein Mittvierziger), ein Muslim solle "Zeit seines Lebens sein
Wissen mehren". In seinen Augen gehen die Todesurteile gegen Safiya
Husseini und Amina Lawal "zweifellos auf bedauerliche Fehlurteile
zurück. Die Alkalis können sich durchaus irren", fügt er hinzu.
"Aber das darf man nicht dem islamischen Recht anlasten." Fast drei
Jahre nachdem er "mit Freude" die Einführung der Scharia in Kano
begrüßt hat, ist der Scheich heute verbittert. "Man hat uns
getäuscht. Aber das wird keinen Bestand haben. Eines Tages wird sich
die Scharia gegen jene wenden, die sie eingeführt haben. Der Zorn
Gottes wird schrecklich sein. Und das Volk wird Rechenschaft von
denen verlangen, die es verraten haben."
Zur allgemeinen Überraschung und trotz der gekauften Stimmen
unterlag Gouverneur Kwankwazo im Mai 2003 seinem Rivalen von der
ANPP, Ibrahim Shekarau. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, Kano
werde nun "die wahre Scharia" kennen lernen. Nach vier Jahren
Demokratie -oder vielmehr "Demokrazie", wie man das politische
System mit einer Mischung aus Ironie und Fatalismus gerne nennt
-fühlt das Volk der Haussa sich getäuscht und ausgeraubt. Angesichts
der Wahlfälschungen verstärkt die Niederlage des
Oppositionskandidaten Muhammudu Buhari bei der Präsidentenwahl nur
die Frustration durch ein islamisches Recht, "das die Armen
unterdrückt und die Reichen bevorzugt". Doch das ist letztlich nur
eines der Alarmzeichen für den schleichenden Zorn, der das ganze
Land und alle Religionen befallen hat. Aus dieser Unruhe könnte
wirklicher - muslimischer oder christlicher - Fundamentalismus
hervorgehen. Für die Bevölkerung, die immer tiefer in Armut
versinkt, ist die Religion der letzte Halm, an den sie sich
klammert. Da kommt es nicht darauf an, wer einem den Halm
hinstreckt. Verzweiflung macht blind.
deutsch von Michael Bischoff
Fußnoten:
(1) Präsident Olusegun Obasanjo hat versprochen, dass solche Strafen
in Nigeria niemals vollstreckt würden.
(2) Siehe Murray Last, "Le Charia dans le Nord-Nigéria", Politique
africaine, 2000, S. 141-152.
(3) Letzter Diktator Nigerias, dessen brutales Ende im Jahr 1997 den
Weg für die Präsidentenwahl 1999 öffnete, aus der die zivile
Regierung des Präsidenten Olusegun Obasanjo hervorging.
(4) Die Haussa, eine der drei größten Ethnien des mehr als 250
Ethnien zählenden Landes, leben vor allem im Norden. Ihre Sprache
wird von mehr als 50 Millionen Menschen in der Sahelzone gesprochen.
Die beiden anderen Hauptethnien sind die (teils christlichen, teils
muslimischen) Yoruba im Südwesten und die (christlichen) Igbo im
Südosten des Landes.
(5) Zu nennen wäre hier die Yoruba-Miliz des Oodua Peoples Congress
(OPC), die als ständiger Ersatz für die Polizei in den Straßen von
Lagos patrouilliert, oder die Igbo-Miliz der Bakassi Boys, deren
außergesetzliche Hinrichtungen von Menschenrechtsorganisationen
angeprangert werden.
(6) Siehe Jean-Christophe Servant: "Stille Offensive, das Interesse
der USA an den Erdölvorkommen Afrikas", Le Monde diplomatique,
Januar 2003.
(7) BBC London, 18. Februar 2003.
(8) Wie im Dezember 1980 bei der blutigen Unterdrückung der Anhänger
des Propheten Maitatsine, der tausende von Menschen zum Opfer
fielen. Kano erlebt heute ein Wiederaufleben dieser Art muslimischer
Erweckungsbewegung.
Le Monde diplomatique Nr. 7077 vom 13.6.2003, 525
Zeilen, JEAN-CHRISTOPHE SERVANT
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
hagalil.com
27-08-2003 |