MEMRI Special Dispatch – 16.
Juni 2004
Gipfeltreffen der Arabischen
Liga:
Offener Brief von Ali Salem
Im Vorfeld des
Gipfeltreffens der Arabischen Liga in Tunis erschien in der Tageszeitung
Al-Hayat ein offener Brief des bekannten ägyptischen Schriftstellers und
Satirikers Ali Salem an die arabischen Spitzenpolitiker. Darin klagt er
über verpasste Gelegenheiten zu einem Frieden und kritisiert die Führer
der "revolutionären", d.h. sich auf die Tradition der so genannten
palästinensischen Revolution berufenden PLO-Fraktionen.
Schließlich skizziert er selbst
eine Friedensinitiative und schlägt diese dem Gipfel zur Beratung vor.
Wir dokumentieren Auszüge aus seinem Brief an die Teilnehmer des
Arabischen Gipfels aus der Al-Hayat vom 4. Mai:
"In den letzten 30 Jahren
hielt der Friedenszug zweimal in den arabischen Region"
"Ich schreibe Ihnen im Auftrag von zigmillionen erschöpfter Bürger im
arabischen Raum, einfachen Leuten, die in Frieden leben wollen. Ich gebe
zu, dass sie mich aufgrund technischer Probleme nicht zu ihrem Sprecher
machen konnten – also habe ich sie […] erwählt, in ihrem Namen zu
sprechen. Weil ich glaube, dass es diesen Menschen helfen könnte, wenn
ich Ihnen, verehrte Staatsmänner, mitteile, was sie meiner Meinung nach
denken und was ihr Leben erträglicher und wertvoller machen könnte –
etwas also, woran auch Sie meines Erachtens interessiert sind und
worüber sie nachdenken.
In den letzten 30 Jahren machte der Zug der Geschichte zweimal an einer
Friedensstation im arabischen Raum halt. Die erste Station war Camp
David [1979]. Daraus resultierte das israelisch-ägyptische
Friedensabkommen, aufgrund dessen jedoch Sadat und mit ihm ganz Ägypten
für seinen so genannten Separatfrieden streng bestraft wurde. [...] Und
infolge dieser ´umfassenden, vollständigen und gerechten´ Feindseligkeit
gegenüber Ägypten und dem Friedensschluss wurde das
ägyptisch-israelische Abkommen zu einem bloßen Waffenstillstandsabkommen
und das eigentliche Friedensziel, nämlich die Explosivität in der Region
zu beenden, ging verloren. [1]
Ende 1993 hielt der Zug erneut in unserer Region. Diesmal truge die
Station den Namen Osloer-Verträge. Es war das erste Mal, dass sich die
beiden Völker, das israelische und das palästinensische, gegenseitig
anerkannten. Und zum ersten Mal hatten die Palästinenser eine eigene
Regierung. Wie ich dachten viele, dass dieses Abkommen einem politischen
Wunder gleichkam und ein festes Fundament sein könnte, auf dem man
vielleicht aufbauen könnte.
Aber auch dieser Vereinbarung wurde mit einer 'umfassenden, vollständigen
und gerechten' Feindseligkeit begegnet. Denn wie nach jeder Vereinbarung
und jedem Friedensabkommen, das unter der Schirmherrschaft von Europa
oder den USA und in Zusammenarbeit mit arabischen Partnern getroffen
wurde, sorgten Attentate und Bomben dafür, die Chance zum Frieden zu
zerstören. Angst voreinander, noch mehr Tod und Blutvergießen traten an
die Stelle des Friedens. Wir waren so mit der Vergrößerung des Landes,
das wir bekommen würden beschäftigt, dass wir uns die tatsächlichen
Dimensionen des zu verwirklichenden Friedens und seinen Einfluss auf den
Alltag der Menschen gar nicht bewusst machten. […] Dabei ist die
alltägliche Wirklichkeit doch das Wichtigste im Leben der Menschen. […]
[So zum Beispiel das Recht als Palästinenser] überall in Israel und
Palästina zu arbeiten. Wer auf der Welt könnte die Palästinenser daran
hindern, Partner der Israelis in Industrie, Landwirtschaft oder Handel
zu werden?"
'Der hebräische wird immer Nachbar des palästinensischen Staates sein'
"Ob wir es wollen oder nicht – die Nachbarschaft [zwischen Israel und den
Palästinensern] ist ewig. Nachdem wir so viele von ihnen getötet haben
und töten werden, und sie so viele von uns getötet haben und töten
werden, bleibt es eine unumgängliche Tatsache, die weder bestritten noch
ignoriert werden kann: Der hebräische Staat wird für immer der Nachbar
des palästinensischen Staates sein.
Sogar wenn wir davon ausgehen, dass wir sie hassen und sie uns [...],
müssen wir fragen, ob es nicht einen zivilisierteren Rahmen geben kann,
in dem sich beiden Seiten gegenseitig weiterhassen könnten – einen
Rahmen, in dem wir leben können, der den Schrecken der Zerstörung
fernhalten und das stückweise Versinken der Region in einem Sumpf aus
Terror, Armut, Ignoranz, Extremismus und Verderben stoppen könnte.
Sicher werden Sie jetzt sagen 'Er setzt Israelis mit Palästinensern
gleich, den Henker mit dem Opfer. Er ist von den anerkannten Gebräuchen
in der arabischen Welt abgewichen und schimpft nicht über Sharon und
Bush'. Ja, ich gebe zu, dass ich genau das getan habe. Ich bin nämlich
der Meinung, dass uns die Unmengen von Verdammungen der USA und Israels,
mit denen wir unsere Zeit verschwendet haben, dem Frieden nicht ein
winziges Stück näher gebracht haben.
Weder Sie noch ich sollten voller Verzweiflung, Ärger oder Bitterkeit
glauben, dass es unmöglich wäre, dieses Verderben aufzuhalten, weiteres
Blutvergießen zu verhindern und die Zerstörung von Menschenleben,
Häusern und Existenzgrundlagen abzuwehren. [...] Es gibt immer etwas,
was man tun kann, wenn man nur das Problem verstanden hat."
'Die palästinensische
Bevölkerung braucht politische Führer, die das Leben wollen'
"Keiner der derzeit herrschenden palästinensischen Führungen agiert in
politischer Weise. Die Revolutionsführer haben es nicht geschafft, zu
Staatsmännern zu werden. Andere idealistische Führer erschienen auf der
Bildfläche und verwandelten das politische Problem in einen religiösen
Krieg. [...] Das palästinensische Volk braucht jetzt politische Führer –
normale Männer und Frauen, die sich mehr nach dem Leben sehnen als nach
dem Tod. Führer sind gefragt, die ein Kind nicht damit beauftragen, sich
im Namen Allahs in die Luft zu jagen, sondern die dieses Kind im Namen
des Lebens - das Leben ihres Volkes – in die Schule schicken, in der
Hoffnung, dass es nach ein paar Jahren ein Mensch wird, der wertvoll für
seine Familie und seine Gesellschaft ist. Es ist die Zeit gekommen, um
zu leben und nicht weiterhin zu sterben für Land und Leute.
Sehen sie sich unser heutiges Image an - nicht das schöne Bild, das wir
von uns selbst gezeichnet haben, sondern das Bild, das die Leute draußen
von uns haben. Der palästinensische Widerstand wird als Teil des
Weltterrorismus gesehen. Ob das nun wahr oder falsch, gerecht oder
ungerecht ist, spielt gar keine Rolle. Wichtig ist, dass wir in den
Augen der Welt so dastehen. Das macht es notwendig, sich jener Erfindung
zuzuwenden, bei der die Menschheit nach einer 1000jährigen Reise
angekommen ist: der Politik - mit all ihren Elementen wie einer
Verfassung, Gesetzen sowie staatlichen und zivilgesellschaftlichen
Institutionen, die die Palästinenser jetzt brauchen […].
Ich bitte Sie, die revolutionären Organisationen in Palästina zu
überreden, aus einer legitimen revolutionären Phase, die in der Welt
keinerlei Beachtung mehr findet, in eine legitime konstitutionelle Phase
umzuschwenken. Wenn auch im Alleingang hat Ägypten dies bereits
versucht, indem es eine Reihe von Treffen aller Beteiligten in Kairo
organisierte. Aber offensichtlich sind die mehr an ihrem Revoluzzertum
als an der palästinensischen Bevölkerung interessiert. [...]"
'Die Irregeleiteten denken,
sie hätten im Namen Allahs getötet'
"Ich könnte mir vorstellen, dass die Arabische Liga eine Delegation
zusammenstellt, um öffentlich Verhandlungen zwischen Israel und den
palästinensischen Führern mit dem Ziel einer sechsmonatigen Waffenruhe
zu führen. Diese Delegation würde nach Israel und Palästina gehen und
vor der ganzen Welt deutlich macht, dass es uns ernst ist mit dem
Frieden und der Anerkennung der Existenz Israels in der Region.
Israel wäre während dieser Zeit verpflichtet, seine Ermordungen zu
unterlassen, wenn die revolutionäre palästinensische Führungsriege
zusagt, nur auf der politischen Ebene zu agieren, um Wahlen
vorzubereiten, die dazu dienen sollten, das Leben der Palästinenser zu
verteidigen und nicht ihren Tod. Aus ihnen muss eine palästinensische
Regierung hervorgehen, die um eine Friedenslösung zwischen beiden
Völkern verhandelt und darauf achtet, dass sich die palästinensischen
Verhandlungsführer nicht mit dem Wort 'endgültig' in Verlegenheit
bringen – denn in einem Konflikt wie diesem ist nichts endgültig.
Die gegenwärtige Situation gibt durchaus Anlass zur Hoffnung auf eine
erfolgreiche Umsetzung dieser Idee. Schließlich ist allseits bekannt,
dass ein revolutionärer Idealist anfängt, vernünftig zu denken, wenn er
erkennt, dass seine Taten ihm und seiner Familie nur Verlust und
Zerstörung, seinen Feinden hingegen nur Vorteile gebracht haben. [...]
Die Irregeleiteten, Mörder wie Ermordete, denken, dass sie im Namen Allahs
töten und getötet werden. Zu unser aller und Ihrer eigenen Verteidigung
können und müssen Sie [werte Teilnehmer des Gipfels] dagegen eine andere
[Denk]Kultur verbreiten – eine Kultur, die den Menschen vermittelt, dass
der Respekt des Lebens und sein Schutz vor allem Bösen der einzige Weg
ins Paradies ist. Nichts auf der Welt rechtfertigt es, [anderen]
Menschen das Leben zur Hölle zu machen. [...]"
"Ich sehe also Licht am Ende des Tunnels. Der Zug der Geschichte könnte
heute erneut in unserer Region an einer Station des Friedens halten, und
darauf warten, dass wir einsteigen. Wenn nicht jeder diese Möglichkeit
zu sehen vermag, dann weil ihm der Rauch von Schießpulver und Bomben die
Sicht vernebelt. Auch können wir vor lauter Lärm der herumfliegenden
Kugeln und dem Jammern der Getöteten und Hinterbliebenen im Irak, in
Palästina und manchen arabischen Hauptsstädten das Signal des Zuges
nicht hören.
Bis zum Gipfel in Tunis ist noch viel Zeit. Ich hoffe sehr, dass meine
Vorschläge bei Ihnen Anklang finden. [...]"
Anmerkung:
[1] Mit der "umfassenden, vollständigen und gerechten Feinseligkeit"
spielt der Autor auf die Formel vom "umfassenden, gerechten und
realisierbaren Frieden" an.
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