Die Logik der verpassten Chancen
DIE WAHL SCHARONS BEENDET DEN FRIEDENSPROZESS
IM NAHEN OSTEN
Die israelische
Gesellschaft weigert sich, Konzessionen zu machen, die den Frieden mit den
Palästinensern in den Bereich des Möglichen rücken. Der mit großer Mehrheit
zum neuen Ministerpräsidenten gewählte Scharon konnte gleich nach der Wahl
verkünden, dass er sich an die Verhandlungsresultate seiner Vorgänger
nicht gebunden fühle. Dass die Palästinenser nun einem Mann gegenüberstehen,
der für sie seit dem Massaker der Flüchtlingslager in Sabra und Schatila
als "Kriegsverbrecher" gilt, wird die Kluft zwischen beiden Völkern
vertiefen.
Von HENRY SIEGMAN
Henry Siegman arbeitet als "Senior Fellow" beim Council on Foreign Relations,
New York
(eine 1921 gegründete Expertenvereinigung, die u. a. die Zeitschrift
"Foreign Affairs"
herausgibt). Sein Beitrag gibt nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Die Suche
nach dem "richtigen Augenblick" für einen entscheidenden Durchbruch
hat im Verlauf des Friedensprozesses im Nahen Osten immer wieder
eine wichtige Rolle gespielt. Leider scheinen die Momente mit
deprimierender Regelmäßigkeit ungenutzt zu verstreichen.
US-Präsident
Clinton sah das politische Interregnum zwischen den
Präsidentschafts- und Kongresswahlen und der Amtseinführung der
neuen republikanischen Regierung in den USA als eine solche Chance.
Dass er sie ergreifen wollte, zeigt seine Rede, die er am 7. Januar
2001 in New York vor einem jüdischen Publikum hielt, in dem die
Friedensbefürworter dominierten. Seine Ansprache bedeutete
tatsächlich eine Art Durchbruch, was damals fast niemand zur
Kenntnis nahm. Vom Druck befreit, um die Gunst der Wähler buhlen zu
müssen, sprach Clinton eine Reihe einfacher, aber schmerzhafter
Wahrheiten aus, die den Rahmen der bisherigen US-Nahostpolitik
eindeutig sprengten. Kein US-Präsident hatte sich je so klar zu den
Kernpunkten des Konflikts geäußert.
Clinton bekräftigte zunächst den Anspruch der Palästinenser auf einen
"souveränen und lebensfähigen" Staat, und zwar nicht nur, weil dies langfristig
auch im Interesse Israels sei, sondern weil die Palästinenser ein Anrecht auf
einen solchen Staat haben. Israels "Land ist auch ihr Land" sagte Clinton - eine
Formulierung, die neue Horizonte für die US-amerikanische Nahostpolitik
eröffnet.
Bereits 1993, als die Oslo-Verträge geschlossen wurden, hatte sich Israel
implizit verpflichtet, einen Palästinenserstaat anzuerkennen, doch erst im Juli
2000, als der israelische Ministerpräsident Ehud Barak in Camp David seine
Positionen formulierte, wurde diese Bereitschaft öffentlich artikuliert. Ein
"Recht" der Palästinenser auf Souveränität hat Israel allerdings niemals
anerkannt - man wollte sich nicht die Möglichkeit verbauen, diese Souveränität
mit dem Verweis auf Sicherheitsinteressen stark einzuschränken.
Präsident Clinton war sich natürlich im Klaren, was seine Formulierung bedeutet,
und auch die Implikationen hat er deutlich ausgesprochen. Zunächst betonte er
sein Verständnis für die israelischen Sicherheitsbedenken und versicherte, die
USA würden Israels militärische Überlegenheit in der Region auch weiterhin
gewährleisten. Aber dann formulierte er deutlich, die Sicherheit müsse und dürfe
"nicht auf Kosten der palästinensischen Souveränität gehen", noch dürfe sie "die
territoriale Integrität Palästinas einschränken". Diese Formulierung war eine
direkte Konsequenz aus seiner Feststellung, Palästina sei "auch ihr (der
Palästinenser) Land".
In der Summe bedeuten diese beiden Einlassungen eine deutliche Annäherung an
Positionen, wie sie die europäischen Länder schon seit längerem vertreten.
Dieser Wandel in Clintons Auffassungen dürfte gewiss auch die Überlegungen der
Nahostberater von Präsident Bush ein Stück weit beeinflussen. Die Regierung Bush
wird es mit Initiativen im festgefahrenen Nahost-Friedensprozess nicht eilig
haben und die Sache möglichst auf die lange Bank schieben. Nach den Wahlen in
Israel könnte sich allerdings der Konflikt wieder deutlich verschärfen. Dann
wäre die US-Regierung, die ihre langfristigen politischen Ziele kaum vor Ende
2001 formuliert haben dürfte, zumindest wieder als Krisenmanager gefordert.
Unter dem neuen israelischen Regierungschef Ariel Scharon ist eine Zuspitzung
der Auseinandersetzungen garantiert, selbst wenn es zu einer "Regierung der
nationalen Einheit" unter Beteiligung der Arbeitspartei kommen sollte. Es ist
auch nicht auszuschließen, dass Aktivitäten der libanesischen Hisbollah an der
israelischen Nordgrenze einen neuen Krieg auslösen werden. Einer solchen
Eskalation muss nicht unbedingt eine provokatorische Aktion von Scharon
vorausgehen. Vermutlich wird der Likud-Führer versuchen, sein Image als
gereifter, gemäßigter Politiker zu kultivieren, das er im Wahlkampf so
nachdrücklich gepflegt hat. Nicht was Scharon tut, sondern was er verkörpert -
jedenfalls in der Sicht der arabischen Welt -, droht den Hoffnungen auf Frieden
einen schweren Rückschlag zu versetzen.
Für die Araber ist Scharon die Inkarnation des Bösen, ihm werden die finstersten
Ziele zugeschrieben, die Israel "in Wahrheit" verfolge. Bei dem Namen denken sie
sofort an den Krieg im Libanon, den Scharon angestiftet hat, um dort eine
christliche Vasallenherrschaft zu etablieren, an die Massaker in Sabra und
Schatila, an seinen provokativen Besuch auf dem Tempelberg, und an die
verächtlichen Äußerungen über die Araber, die er seit Jahren wiederholt. All
dies bestätigt eine dämonische Wahrnehmung, die der israelischen Politik
unterstellt, die Vorherrschaft Israels über die gesamte Region sichern zu
wollen, sowie die al-Aksa-Moschee und den Felsendom auf dem Haram asch-Scharif
zu zerstören, um dort den jüdischen Tempel neu zu errichten.
Kontaktsperre für die Reizfigur Scharon
Für die arabische Politik wird eine
Regierung Scharon zur entscheidenden Belastungsprobe. Selbst für arabische
Führer, die diese paranoiden Vorstellungen nicht teilen, würde die
Kontaktaufnahme mit Scharon eine Gefährdung der eigenen Machtbasis bedeuten.
Dass unter solchen Umständen der Friedensprozess wieder in Gang kommt, scheint
ausgeschlossen. Man kann eigentlich nur hoffen, dass Scharon nicht lange im Amt
bleibt - was angesichts der unveränderten Mehrheitsverhältnisse im israelischen
Parlament nicht unwahrscheinlich ist.
Scharons Reaktion auf die Fortsetzung der Gewalt von palästinensischer Seite
lässt sich voraussehen, schließlich hat es ihm Ehud Barak vorgemacht. Dessen
Politik der massiven Vergeltung hat über dreihundert Tote unter den
Palästinensern gefordert (und man kann sich ausmalen, wie empört die israelische
Linke reagiert hätte, wäre dies unter einer Likud-Regierung geschehen).
Zweifellos wird sich eine neue Likud-Regierung auch darauf berufen, dass Barak
den Ausbau der Siedlungen und des Netzes von Umgehungsstraßen im gesamten
Westjordanland abgesegnet hat, desgleichen den Bau von Wohnungen für Juden in
Ostjerusalem. Und dies in einem Ausmaß, das die Siedlungspolitik seines
Vorgängers Netanjahu zum Teil sogar noch übertrifft. Eine Likud-geführte
Regierung wird kaum hinter dem zurückbleiben, was die Labour-Regierung vorgelegt
hat.
Aber selbst wenn Barak die Wahlen gewonnen und sich anschließend erneut um ein
formelles Friedensabkommen mit den Palästinensern bemüht hätte, wären die
Verhandlungen zweifellos ebenso ergebnislos verlaufen wie schon vor der Wahl.
Denn die Gründe für das Nichtzustandekommen eines Abkommens gelten nach wie vor:
Keiner will dem anderen die Souveränität über das Felsplateau zurückgeben, das
für die Juden ihr Tempelberg und für die Araber ihr Haram asch-Scharif ist. Und
auch in der Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge sind die
Positionen unvereinbar.
Selbst wenn eine der beiden Verhandlungsparteien durch Druck von außen zu einem
Kompromiss gezwungen worden wäre, ist davon auszugehen, dass ein daraus
entspringender Friedensvertrag nicht eingehalten worden wäre.
Doch es gibt noch wesentlich tiefer sitzende Gründe für die mangelnden
Fortschritte im Friedensprozess. Beide Seiten sind nicht in der Lage, zwei klar
unterschiedene Dinge auseinander zu halten: einerseits die Unfähigkeit der
Unterhändler, die Probleme eines endgültigen Status zu lösen, und andererseits
die gewaltsame Auflehnung gegen die israelische Besatzung in Gasa und dem
Westjordanland. Dass beides zusammengehört, scheint allen selbstverständlich:
Die neue Intifada gilt als die Folge der - in den Augen der Palästinenser -
unbefriedigenden Verhandlungsangebote Baraks beim letzten Camp-David-Treffen. In
dieser Sicht ist die Intifada, ob spontan entstanden oder von Arafat gelenkt,
ein Ausdruck des palästinensischen Volkszorns angesichts der Tatsache, dass
Israel ablehnt, was den Palästinensern als gerade noch vertretbare
Minimalposition erscheint. Entsprechend glaubt man, die Gewalt werde ein Ende
finden, sobald Israel sich auf akzeptable Bedingungen einlässt.
Doch das ist eine schwer wiegende Fehleinschätzung. Arafat mag versucht haben,
die Intifada für seine Zwecke zu nutzen, aber die jüngsten Gewaltausbrüche im
Westjordanland und im Gasa-Streifen hatten nicht das Ziel, Arafats
Verhandlungsposition zu stärken. Selbst wenn die israelische Behauptung, Arafat
habe die neue Intifada angeheizt, richtig wäre, so ist sie doch nur möglich
geworden, weil die Verzweiflung der Palästinenser so groß ist, dass sie sich von
den Friedensverhandlungen nicht mehr eine Verbesserung ihrer unerträglichen
Situation oder ein Ende der verhassten israelischen Besatzung versprechen. Die
Wut der Palästinenser ist keine Antwort auf die fehlenden Fortschritte in den
Verhandlungen zwischen Barak und Arafat, sondern auf die tagtägliche Erfahrung
der Schikanen und Erniedrigungen unter dem Besatzungsregime und auf die
ständigen Eingriffe Israels in ihr Territorium und ihre Lebensweise. Die meisten
Palästinenser wissen kaum, wie genau die Vorschläge beider Seiten bei den
Verhandlungen aussehen. Und es interessiert sie auch nicht, weil sie längst
nicht mehr glauben, dass Abkommen zwischen ihrer Führung und der israelischen
Regierung ihre Lebensverhältnisse verbessern werden.
Weil die Palästinenser im Westjordanland und im Gasa-Streifen den
Verlautbarungen ihrer Führung und der israelischen Regierung nicht mehr trauen,
werden auch neue Abkommen oder die Ankündigung von Truppenrückzügen die
palästinensischen Straßenkämpfer kaum beeindrucken. Die sieben Jahre lang
gemachten Versprechungen im Rahmen des Oslo-Prozesses haben zu noch mehr Armut
geführt, zu noch weniger palästinensischem Land und zu einer schärferen
israelischen Kontrolle über die Bewegung von Menschen und Gütern. Die
Enttäuschung und das Misstrauen der Palästinenser dürften durch neue
Zusicherungen kaum zu beseitigen sein. Erst wenn Israel sein Besatzungsregime
tatsächlich aufgibt und die Blockade der palästinensischen Gebiete aufhebt, kann
die Gewalt ein Ende finden.
Im Kern bedeutet das: Israel muss einen einseitigen Truppenrückzug auf die
Linien vollziehen, die Barak beim Camp-David-Gipfel im Juli vorgeschlagen hat,
damit die Palästinenser in dem von Israel geräumten Gebiet im Westjordanland und
im Gasa-Streifen einseitig ihren Staat ausrufen können. Diese Schritte erfordern
keinen formellen Friedensvertrag, der alle noch ungeklärten Fragen regelt. Es
würde vielmehr ausreichen, informelle, aber exakte Übereinkünfte zu treffen -
mit Hilfe eines Vermittlers (zum Beispiel der USA) und in Abstimmung mit den
Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
Diese Vereinbarungen müssten unter anderem die Zusicherung beider Parteien
enthalten, dass sie keine weiteren einseitigen Schritte mehr vollziehen werden.
Alle noch offenen Fragen wären dann Gegenstand von Vertragsverhandlungen, nun
allerdings nicht mehr zwischen einer Besatzungsmacht und der ihr unterworfenen
Bevölkerung, sondern zwischen zwei souveränen Staaten. Zu den Verhandlungsthemen
würden etwa der endgültige Grenzverlauf und Sicherheitsfragen (wie die
Entmilitarisierung Palästinas und die Kontrolle Israels über den
palästinensischen Luftraum) gehören, aber auch die Aufteilung der
Wasserressourcen und der gemeinsamen Infrastruktur, die Regelung der
Hoheitsrechte in Jerusalem und das Flüchtlingsproblem.
Entscheidend wäre dabei die Verpflichtung beider Seiten, nichts zu unternehmen,
was die Verhandlungen über die offenen Fragen präjudizieren würde. Für die
israelische Seite heißt das: Keine weiteren Enteignungen palästinensischen
Bodens für die Erweiterung der Siedlungen, kein Wohnungsbau in den
palästinensischen Vierteln Ostjerusalems. Für beide Seiten müsste gelten, dass
jeder Versuch unterbleibt, den demografischen Status quo in Ostjerusalem zu
verändern oder ihre Souveränität über irgendeinen Teil Jerusalems ohne
Zustimmung der anderen Seite zu stärken. Israel müsste bereit sein, den
Palästinensern die Verwaltungsautonomie in ihren Vierteln von Ostjerusalem zu
konzedieren, und die Palästinenser müßten die Sicherheitszusammenarbeit mit
Israel in vollem Umfang wieder aufnehmen.
Nun könnte man einwenden, dass die gegnerischen Parteien, wenn man ihnen denn so
weit reichende Übereinkünfte zutraut, die Chance dazu eigentlich schon in Camp
David hatten. Auf diesen Einwand gibt es eine schlichte Antwort: Solange Israel
in Palästina bleibt - im physischen wie im psychischen Sinn -, solange es nicht
aus dem Leben und der Gefühlswelt der Palästinenser verschwindet, solange wird
sich gar nichts tun. Umgekehrt gilt: Ist Israel erst einmal aus den besetzten
Gebieten abgezogen, wird vieles möglich sein.
Rückzug Israels auch ohne Lösung?
Um diese These zu präzisieren, muss man
erklären, warum Arafat in Camp David die Vorschläge Baraks abgelehnt hat. Die
israelischen Angebote waren damals tatsächlich sehr weit gehend und hätten
vermutlich als solide Basis eines Abkommens mit Arafat getaugt, wenn Barak nicht
vor dem Gipfel eine Reihe grober Fehler unterlaufen wären.
Als Barak sein Amt antrat, bestand eine seiner ersten Entscheidungen darin, den
Oslo-Prozess als zweitrangig zu behandeln und sich auf Verhandlungen mit Syrien
zu konzentrieren. Das war sein erster schwerer Fehler. Überdies ließ er Arafat
wissen, dass er nicht einmal bereit war, den Truppenabzug aus dem Westjordanland
zu vollziehen, zu dem sich Israel unter seinem Vorgänger Netanjahu im
Wye-Abkommen verpflichtet hatte. Zweimal versicherte er öffentlich, er werde
drei an Jerusalem grenzende palästinensische Dörfer der vollständigen Kontrolle
durch die palästinensische Autonomiebehörde unterstellen - beide Male zog er
sein Versprechen zurück. Im Widerspruch zu seinen erklärten Zielen, war er
außerdem äußerst nachgiebig gegenüber den Siedlervereinigungen und ihren
ideologischen Führern.
Barak sorgte dafür, dass die Erweiterung der jüdischen Siedlungen im
Westjordanland und der Bau jüdischer Wohnungen in Jerusalem in einem Tempo
fortgeführt wurden, wie es Netanjahu nie vorgelegt hatte. Barak trieb auch den
Ausbau von Schnellstraßen im Westjordanland voran, die offenkundig nur dazu
dienen, den Siedlern die "Umgehung" der palästinensischen Städte und Dörfer zu
ermöglichen. Dieses Straßennetz hatte bereits Ariel Scharon in den
Siebzigerjahren geplant; es hatte unter anderem die Funktion, einen künftigen
Palästinenserstaat so zu durchschneiden, dass voneinander getrennte und damit
von Israel besser zu kontrollierende Gebietseinheiten entstanden.
Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese Maßnahmen
das Misstrauen der Palästinenser verstärkten. Vom israelischen Geheimdienst
kamen damals übrigens ständige Warnungen, dass man kurz vor dem Ausbruch
palästinensischer Unruhen stehe. Als Barak dann in Camp David seine überraschend
weit gehenden Vorschläge vorlegte, hatte er sich zuvor mit Arafat nicht
abgestimmt. Er präsentierte dem Palästinenserführer das gesamte Paket nach dem
Prinzip "Alles oder nichts". Und dann setzte er auf die Provokation noch eine
Beleidigung drauf, indem er in seinen Katalog auch die Forderung hineinschrieb,
neben dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee im Haram asch-Scharif-Bezirk auf dem
Tempelberg eine Synagoge zu errichten. An diesem Punkt der Verhandlungen hat
Arafat wahrscheinlich nur noch überlegt, wie er möglichst schnell aus Camp David
abreisen kann.
Hätten die Israelis sich erst einmal aus den besetzten Gebieten zurückgezogen
und hätten die Palästinenser einen eigenen Staat, könnte sich die Regelung der
verbleibenden Probleme wesentlich einfacher darstellen. Und wenn es bei diesen
jetzt unlösbar scheinenden Fragen zu weiteren Verzögerungen käme, könnten
Israelis wie Palästinenser damit leben, insofern der Abzug der israelischen
Soldaten durch palästinensische Sicherheitsgarantieren kompensiert werden
könnte. Was beide Seiten dagegen nicht mehr ertragen können, ist die Fortdauer
der israelischen Besatzung und die Fortsetzung der palästinensischen Gewalt
gegen Israel - was beides unauflöslich zusammengehört.
Bei jeder Art von Verhandlung wären die schwierigsten Fragen der Status von
Jerusalem und das Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Natürlich kann keine der beiden
Konfliktparteien der anderen die endgültige Souveränität über den
Tempelberg/Haram asch-Scharif zugestehen, doch unter bestimmten Bedingungen
könnten beide die Fortsetzung der bisherigen Situation dulden, in der die
Palästinenser die Kontrolle über den muslimischen Heiligen Bezirk auf dem
Tempelberg ausüben. In diesem Sinne könnte sich Israel verpflichten, keine
Maßnahmen zur Erlangung der Souveränität über den gesamten Tempelberg zu
ergreifen, während die Palästinenser zusichern könnten, keine Grabungen
unterhalb des Haram asch-Scharif vorzunehmen, die womöglich auf Überreste des
jüdischen Tempels stoßen würden.
Damit wäre der Weg offen für eine denkbare künftige Vereinbarung: Die
Palästinenser bestehen nicht länger auf dem Rückkehrrecht und erhalten dafür
offiziell die Souveränität über den Heiligen Bezirk. Unterdessen könnte man
versuchen, das Flüchtlingsproblem zu entschärfen, etwa durch rasche Gründung
eines internationalen Hilfsfonds, der palästinensischen Flüchtlingen
Entschädigungen und Hilfen bei einer Umsiedlung anbietet.
Das populärste Argument gegen einen einseitigen israelischen Rückzug lautet,
ohne Friedensvertrag seien die Sicherheitsrisiken für Israel unannehmbar hoch.
Das ist ein seltsames Argument, denn damit wird ja unterstellt, Israels
Sicherheit hänge von den Verpflichtungen ab, die Arafat mit der Unterzeichnung
eines Vertragsdokuments eingeht.
Ob mit oder ohne Friedensvertrag - Israel kann es sich angesichts seiner
gewaltigen militärischen Überlegenheit erlauben, aus den besetzten Gebieten
abzuziehen. Die jüngste Entwicklung hat deutlich gezeigt, dass die israelischen
Streitkräfte ihre Stärke wesentlich besser nutzen, wenn sie durch einen
Nachbarstaat bedroht sind, als wenn sie innere Unruhen bekämpfen müssen. Eine
Fortdauer der gegenwärtigen Situation bedeutet daher größere Sicherheitsrisiken
als ein informell vereinbarter Rückzug.
Um Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zu erreichen, muss eine
Grundannahme des bisherigen Friedensprozesses vom Kopf auf die Füße gestellt
werden. Israel wie die Vereinigten Staaten sind stets davon ausgegangen, ohne
formelles Friedensabkommen sei ein israelischer Rückzug aus den besetzten
Gebieten nicht möglich. Aus den jüngsten Ereignissen kann man hingegen eines
lernen: Der Rückzug ist die entscheidende Vorbedingung für einen
Friedensschluss.
dt. Edgar Peinelt
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
haGalil onLine
16-02-2001
|